Demokratie nach der Wahl (I)
von Thomas Hecken
23.11.2020

Urteile zur Präsidentenwahl in den USA

In den USA zeigt sich aktuell ein gefährliches Moment demokratischer Wahlen in aller Deutlichkeit. Wahlen ermöglichen einer siegreichen Person oder einer Partei (oder einer Koalition) direkt oder indirekt die Ausübung von Herrschaft. Dies gilt auch, wenn das Wahlergebnis denkbar knapp ausfällt. Alles kommt also darauf an, dass diejenigen, die weniger Stimmen bekommen haben (oder nicht genug Stimmen bekommen haben, um allein die Herrschaft auszuüben), das Ergebnis anerkennen. Ist das nicht der Fall, sind demokratische Wahlen nur ein wichtiges Durchgangsstadium auf dem Weg zum Putschversuch, zur Revolution und/oder zum Bürgerkrieg.

Das Problem demokratischer Wahlen, Anerkennung zu erfahren, zeigt sich in geringerem Maß bereits daran, dass in vielen Ländern nicht bloß die Voten aller Staatsbürger einzeln gezählt und dann zum Endergebnis summiert werden, sondern für die Ermittlung von Siegern der Präsidenten- oder Parlamentswahlen andere, mitunter zahlreiche Wahlbestimmungen und Auszählungsanordnungen gelten. Bis heute wird häufig der Zuschnitt von Stimmbezirken, Überhangmandaten, Wahlmodi, Sperrklauseln, Wahlberechtigungen verändert, oder die Anzahl solcher Regelungen fällt traditionell groß und exklusiv aus – zumeist mit der wohlklingenden Begründung, die Sicherheit oder Repräsentativität der Wahl steigern zu wollen, oft im Versuch, der eigenen Partei dadurch auf kurze oder mittlere Sicht Vorteile zu verschaffen. Einfach zu überprüfende und vor allem im Ergebnis sehr leicht nachzuvollziehende Wahlen besitzen deshalb Seltenheitswert.

In den USA z.B. kommt der „popular vote“ ausdrücklich keine legale Bedeutung zu. Bei der letzten Wahl erhielt Donald Trump 62,984,828 Stimmen, Hillary Clinton 65,853,514; gewählter Präsident: Trump. Wegen solcher Ergebnisse und Konsequenzen der Wahl ist der Vorwurf mangelnder Legitimität einfach vorzubringen.

Auf dem Weg zur Wahlrechtsänderung oder zum versuchten Putsch etc. gibt es vor und nach der Wahl aber natürlich viele weitere mögliche Zwischenstationen bzw. Eskalationsstufen. Bereits vor der Wahl kann deren Legitimität oder Legalität in Zweifel gezogen werden, nach der Wahl können die Vorwürfe wiederholt oder mit neuen Punkten begründet werden. Diese Kritik kann am Ende nur zur Anerkennung des Wahlergebnisses führen, wenn exekutive Akte und jene Gerichtsurteile, die Verfahren beschließen, in denen Anzeigen zu Verstößen gegen das Wahlrecht überprüft wurden, anerkannt werden.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Verfahrensbeteiligten der Überzeugung sind, die Staatsangestellten und Richter handelten und urteilten unparteiisch, seien also nicht selbst Teil der politischen Auseinandersetzung. Ist das nicht der Fall, sind die angestrengten Prozesse auch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Putsch etc., ein Schritt, der lediglich durchgeführt wird, um Zeit zu gewinnen und/oder sich mehr Legitimität und Unterstützung zu sichern.

Im Fall der US-amerikanischen Wahl 2020 gab es deutliche Anzeichen, dass die Wahl von wichtigen Teilen der Gesellschaft nicht anerkannt wird, bereits im Vorfeld. Ein Präsidentschaftskandidat für die vier Jahre ab Anfang Januar 2021 (der bisherige Amtsinhaber Trump) sah besonders mit der Möglichkeit, Stimmen brieflich abzugeben, die Möglichkeit zum Wahlbetrug gegeben. Als er nach vorläufiger Auszählung der Stimmen hinten lag, sah er diesen Wahlbetrug (teilweise noch aus anderen Gründen) tatsächlich vollzogen und erklärte sich selbst zum Sieger.

Diese ‚Selbstinthronisierung‘ besitzt allerdings keine rechtliche Wirkung, dem performativen Twitter-Akt Trumps mangelt es an institutioneller Macht (dies gilt freilich auch für die Erklärung eines Wahlsiegers durch Fernsehstationen und Presseagenturen). Deshalb dringen er und seine Parteigänger neben vielen anderen Aktivitäten zur Herrschaftssicherung auf juristische Auseinandersetzungen. Sie sind bis dato größtenteils negativ für Trump ausgefallen, das besagt aber natürlich noch nichts über den Ausgang weiterer Verfahren.

Die bisher verkündeten Urteile (man kann sie alle hier studieren) sind zum Teil interessant zu lesen, wie überhaupt das US-amerikanische Wahlrecht bemerkenswert ist. Z.B. ist es offenbar möglich, dass nicht nur die Bundesstaaten über ein voneinander abweichendes Wahlrecht verfügen, sondern in den „counties“ dieser jeweiligen Bundesstaaten das Wahlrecht zum Teil unterschiedlich angewandt wird. In vielen „counties“ des Bundesstaats Pennsylvania wurde etwa Wählern die Möglichkeit gegeben, nach einem Hinweis durch zuständige Personen Fehler bei der Briefwahl, die zur Ungültigkeit der Stimme geführt hätten (etwa Fehler bei der Beschriftung der Umschläge), zu korrigieren, in anderen jedoch nicht; in letzteren „counties“ wurde dadurch die Stimme derjenigen, die denselben Fehler gemacht hatten, aber nicht darauf hingewiesen wurden und ihn also auch nicht korrigieren konnten, ungültig.

In einer Klage, die von Trump bzw. der „Trump Campaign“ und von zwei von dieser Prozedur negativ betroffenen Wählern angestrengt worden war und sich gegen eine entsprechende Ungleichbehandlung richtete, wurde nun verlangt, deshalb mindestens alle korrigierten Briefwahlstimmen zu annullieren oder sogar den beklagten Personen und Behörden des Bundestaates das Recht zu entziehen, die Zertifizierung des kompletten Wahlergebnisses vorzunehmen (hier auf S. 84).

Das Gericht sieht in seinem Urteil v. 21.11.2020 ein Klagerecht der „Trump Campaign“ bei diesem Punkt aber gar nicht gegeben (hier S. 18-23). Das Gericht hält die Klage darüber hinaus für unberechtigt, weil die beiden klagenden Wähler nicht gegen ihre eigenen „counties“ geklagt hatten, in denen ihre Stimmen für ungültig erklärt worden waren, sondern gegen alle anderen „counties“ in ihrem Bundesstaat, in denen es möglich war, Fehler bei der Briefwahl zu „heilen“ (S. 12-18).

Grundsätzlich bezweifelt das Gericht auch nicht, dass die uneinheitliche Vorgehensweise der „counties“ rechtlich angemessen sei: „Individual Plaintiffs’ claims fail because it is perfectly rational for a state to provide counties discretion to notify voters that they may cure procedurally defective mail-in ballots. Though states may not discriminatorily sanction procedures that are likely to burden some persons’ right to vote more than others, they need not expand the right to vote in perfect uniformity.“ (S. 30)

Grundsätzlich sei ohnehin ausgeschlossen, dass eine Wahlrechtsverletzung obigen Ausmaßes – wenn sie denn vorläge – dazu führe, dass ein Gericht Millionen anderer abgegebener Stimmen für ungültig erklären könne: „Here, leveling up to address the alleged cancellation of Plaintiffs’ votes would be easy; the simple answer is that their votes would be counted. But Plaintiffs do not ask to level up. Rather, they seek to level down, and in doing so, they ask the Court to violate the rights of over 6.8 million Americans. It is not in the power of this Court to violate the Constitution.“ (S. 32)

Äußerst verwundert zeigt sich das Gericht darüber, dass die Klagepartei angesichts ihrer sehr weitreichenden juristischen Einlassungen – in der Klageschrift ist von eklatanten und bewussten Verletzungen des „Election Code“ (hier S. 3),  von „misconduct“ (S. 4) , mangelnder Verhinderung von „illegal or fraudulent vote“ (S. 6) sowie willentlicher Streichung von „nearly every element of transparency and verifiability“ (S. 7) die Rede – keinerlei Beweise für ihre „Korrumpierungs“-Vorwürfe vorgelegt habe:

„This Court has been unable to find any case in which a plaintiff has sought such a drastic remedy in the contest of an election, in terms of the sheer volume of votes asked to be invalidated. One might expect that when seeking such a startling outcome, a plaintiff would come formidably armed with compelling legal arguments and factual proof of rampant corruption, such that this Court would have no option but to regrettably grant the proposed injunctive relief despite the impact it would have on such a large group of citizens. That has not happened. Instead, this Court has been presented with strained legal arguments without merit and speculative accusations, unpled in the operative complaint and unsupported by evidence. In the United States of America, this cannot justify the disenfranchisement of a single voter, let alone all the voters of its sixth most populated state. Our people, laws, and institutions demand more.“ (hier S. 2)

Trumps Anwälte reagierten auf den für sie in jeder Hinsicht negativen Bescheid mit folgender Stellungnahme: „Today’s decision turns out to help us in our strategy to get expeditiously to the U.S. Supreme Court. Although we fully disagree with this opinion, we’re thankful to the Obama-appointed judge for making this anticipated decision quickly, rather than simply trying to run out the clock.“ (das ganze „statement“ hier)

Natürlich ist das eine beschönigende Sichtweise, aber dennoch mehr als reines Wunschdenken. Denn die Republikaner haben bekanntermaßen in jüngerer Zeit sehr gute Erfahrungen mit dem Supreme Court in Sachen Präsidentschaftswahl gemacht. Im Jahr 2000 untersagte der Supreme Court eine nochmalige Auszählung der Stimmen in Florida, obwohl es wegen der äußersten Knappheit der Ergebnisse in diesem Bundesstaat und der bereits ausgezählten Ergebnisse in den anderen Bundesstaaten keineswegs ausgeschlossen war, dass solche eine Auszählung Al Gore zum Präsidenten gemacht hätte (stattdessen wurde es George W. Bush).

Die damalige Begründung des Supreme Court (in einem auch innerhalb des Supreme Courts umstrittenen Urteil [die abweichenden Stellungnahmen kann man hier aufrufen]) lautete so: „[W]e are presented with a situation where a state court [der Florida Supreme Court] with the power to assure uniformity has ordered a statewide recount with minimal procedural safeguards. When a court orders a statewide remedy, there must be at least some assurance that the rudimentary requirements of equal treatment and fundamental fairness are satisfied.“ Diese Sicherheit könne aber bis zum 12. Dezember 2000 – dem Tag, an dem das „electoral college“ aufgerufen war, seine Stimmen für die Präsidentschaftswahl abzugeben – nicht erzielt werden, darum müsse auf die erneute Auszählung verzichtet werden (S. 11; das komplette Urteil steht hier).

Welche Richtung könnten die Republikaner und besonders Trump aber diesmal bei einer Klage vor dem Supreme Court einschlagen, falls sie es schaffen, dort hinzugelangen? Erste Hinweise darauf gibt es schon. Ein aus Sicht der Republikaner erfolgversprechender Klagegrund ist offenbar ein Beschluss des Pennsylvania Supreme Court zur Briefwahl, der es erlaubt, auch nach dem Wahltag eingegangene Wahlstimmenbriefe bis zu einem gewissen Zeitpunkt bei der Auszählung zu berücksichtigen. Neben der bekannten Spekulation, dies öffne dem Betrug Tür und Tor, ist der rechtliche Angriffspunkt der Republikaner, dass solch eine Entscheidung nicht einem Gericht, sondern nur „state legislatures“ zustehe (die vollständigen Ausführungen hier).

Diese Argumentation erscheint nicht von vornherein aussichtslos zu sein. Immerhin hatten vier Mitglieder des Supreme Court am 19.10.2020 einem Antrag zugestimmt, den Beschluss des Pennsylvania Supreme Court auszusetzen (ausführlich dazu hier scotusblog.com). Da die vier anderen Mitglieder des Supreme Court anderer Auffassung waren, blieb der Beschluss aus Pennsylvania in Kraft. Bekanntermaßen hat der Supreme Court aber mit dem Zugang von Amy Coney Barrett mittlerweile ein neues, neuntes Gesicht bekommen.

Wie auch immer die rechtlichen Chancen Trumps aussehen mögen, zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich immerhin festhalten: Der Ausgang vor dem Supreme Court hängt nun evtl. an einer Person, deren Ernennung kurz vor der Wahl im Senat ausschließlich von Republikanern zugestimmt wurde. Da solche Ernennungen in den USA (im Gegensatz zum Beispiel zu Deutschland) stark in der Öffentlichkeit diskutiert werden und die politische Zuordnung eines Richters im Zuge dessen gerne vorgenommen wird, tragen Gerichtsentscheidungen nicht unbedingt zur Beruhigung einer politisch umstrittenen Lage bei. Viel hängt daran, dass die unterlegene Partei – wie 2000 Al Gore – ein Urteil ohne (öffentlich geäußerte) Bedenken akzeptiert, sogar wenn es um die höchste exekutive Position einer Weltmacht geht (und sogar wenn das höchstrichterliche Urteil derart kontingent auszufallen scheint wie im Falle der Wahl 2000).

Aber auch wenn 2020/21 kein Gerichtsurteil den Ausschlag geben sollte, das sich an ein paar urteilenden Personen festmachen ließe, bleibt natürlich das Problem der demokratischen Wahl bestehen. Wenn nicht große Teile der unterlegenen Parteien und Anhängerschaften das Wahlergebnis (falls es offiziell feststeht) akzeptieren, taugt die Wahl der Gleichen in starkem Maße zur Entzweiung. Deshalb kommt den nächsten Wochen eine große Bedeutung zu. [wird fortgesetzt]