Demokratie nach der Wahl (VI)
von Thomas Hecken
8.1.2021

Aktionen im Kapitol

Diese Artikelserie hat in bislang fünf Folgen die Geschehnisse nach der US-amerikanischen Wahl vom 3.11.2020 betrachtet: Als singulären Zeitabschnitt der Weltmacht Nr. 1, in dem der amtierende Präsident führende Personen und Instanzen des Landes einer scharfen, mitunter grundsätzlichen Kritik aussetzt – die ‚liberalen Medien‘ ohnehin (dazu Teil 3), aber auch Exekutive und vor allem Judikative, zuletzt noch die Legislative.

Zugleich versuchte er aber, all diese Repräsentanten und Institutionen mit teils legalen, teils zumindest dubiosen Mitteln (zuletzt die Aufforderung an einen Vertreter der Exekutive Georgias, ihm die ‚fehlenden Stimmen‘ zu besorgen) dazu zu bewegen, ihm eine zweite Amtszeit zu ermöglichen (dazu Teil 1, Teil 2 und Teil 5). Denn, so seine unentwegte, aber von all diesen Institutionen verneinte Behauptung, man habe ihm die Wahl „gestohlen“.

Die ganze Zeit lief die Artikelserie auf die Frage hinaus, was diese radikale Haltung bei und nach der Bestätigung des Wahlergebnisses durch den Kongress (zum Ablauf Teil 4) am 6.1.2021 innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft bewirken wird. Die bisher letzte Folge dieser Artikelserie Mitte Dezember 2020 (Teil 5) endete mit der Frage: „Folgt daraus in den nächsten Jahren nicht mehr als das Übliche: weitere Rekorde beim Dow Jones und beim Militärbudget, Aufrufe zur ‚Heilung‘ auf der einen, radikale Tweets, Interviews, Wahlkampfreden auf der anderen Seite, Neuzuschneidungen von Wahlbezirken sowie evtl. politische Streitigkeiten unter Familien oder Nachbarn, falls die jeweilige Familie oder Nachbarschaft nicht ohnehin nur einer Seite anhängt? Oder bewirkt Trumps harsche, präsidiale Kritik an den staatlichen Organen mehr? Das ist das große US-amerikanische Experiment.“

Diese Frage ist nun auf überraschende Weise einer (ersten) Antwort zugeführt worden. Kurz vor der Sitzung des Kongresses hatten alle noch lebenden Ex-Verteidigungsminister der letzten Jahrzehnte einen ominösen Artikel geschrieben (abgedruckt hier in der Washington Post am 3.1.2021), in dem sie vor militärischen Eingriffen warnten: „Efforts to involve the U.S. armed forces in resolving election disputes would take us into dangerous, unlawful and unconstitutional territory. Civilian and military officials who direct or carry out such measures would be accountable, including potentially facing criminal penalties, for the grave consequences of their actions on our republic.“ Dies ließ nun aufhorchen. Wieso sollte man davor warnen, wenn man keine Kenntnis hätte oder mindestens Befürchtungen hegte, dass so etwas vorbereitet würde?

Zur Beruhigung trug allerdings bei, dass die viel erwartbareren schweren kriminellen Handlungen einzelner Trump-Anhänger Woche für Woche ausblieben. Denn das ist ja sonst ein oft zu sehender Verlauf: Nach einer längeren und intensiven Zeit des politischen Verbalradikalismus – der aber ohne direkte Aufforderungen zu Straftaten auskommt – finden sich einzelne, nicht selten ‚psychisch verwirrte‘ Täter, die mörderische Attentate verüben, welche mindestens zur weiteren verbalen Eskalation beitragen, indem sich verschiedene Parteien jeweils beschuldigen, für solch eine Situation mehr oder minder verantwortlich zu sein.

Wie wir jetzt alle wissen, geschah dies aber (vorerst) nicht, sondern etwas Unerwartetes. Unerwartet, weil nicht damit zu rechnen war, dass der Kongress ausgerechnet am entscheidenden Tag anfänglich nicht von der – wie man annahm: üblichen – massiven Staatsmacht beschützt wurde. Am Ende geschah allerdings das Erwartbare: Ungefähr die Hälfte der republikanischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses focht die Wahlergebnisse einzelner Bundesstaaten, in denen Trump verloren hatte, an, erhielt dabei teilweise spärliche Unterstützung durch republikanische Senatoren und konnte sich darum nicht durchsetzen; das Wahlergebnis des Electoral College mit Biden als Sieger wurde folglich ratifiziert.

Ebenfalls wie erwartet sagte Trump daraufhin am frühen Morgen des 7.1. zu, für eine „orderly transition“ zu sorgen – einen regelrechten Putsch will er wenig überraschend nicht anzetteln –, ohne natürlich seine Wahlniederlage einzugestehen, sondern sich in jeder Hinsicht als ‚tatsächlichen‘ Sieger zu betrachten und anzukündigen, dass der MAGA-Kampf erst begonnen habe: „Even though I totally disagree with the outcome of the election, and the facts bear me out, nevertheless there will be an orderly transition on January 20th. I have always said we would continue our fight to ensure that only legal votes were counted. While this represents the end of the greatest first term in presidential history, it’s only the beginning of our fight to Make America Great Again!“ (mitgeteilt via Twitter von @DanScavino, 7.1.2021).

Bemerkenswert an dem Spektakel des 6. Januar, dem man durch das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen internationalen TV-Sendern und Twitter-Videos detailreich und live folgen konnte, war besonders der Verzicht auf den Einsatz von Schusswaffen durch die Eindringlinge. Wohl selbst überrascht davon, dass sie recht schnell Zugang zum Kongress bekamen – vielleicht auch dann im sicheren (und – wie sich rasch herausstellte – mit einer Ausnahme [Bericht der Washington Post vom 8.1. hier] berechtigten) Gefühl, dass man auf sie als weiße Trump-Anhänger nicht schießen werde –, verbreiteten sie Angst und richteten einigen Sachschaden an (später wurden noch Körperverletzungen bekannt, der Tod eines Polizisten wurde in der Nacht zum 8.1. gemeldet), um sich nach zwei, drei Stunden wieder vom Areal herunterdrängen zu lassen.

Es ist ein weiterer Beleg dafür, dass selbst bei allem verbalen und kulturellen Radikalismus der (geplante) Einsatz von lebensbedrohlicher Gewalt einen Schritt darstellt, vor dem lange oder immer zurückgeschreckt wird, selbst in einem militarisierten Land wie den USA. Wenn diese Grenze allerdings in größerem Ausmaß – etwa in Bürgerkriegen – übertreten wird, fällt das Töten und Morden erfahrungsgemäß vielen über eine längere Zeit leicht. Davon ist man in den USA also noch sehr weit oder ganz und gar entfernt, das dürften die Ereignisse des 6.1. zeigen.

Für uns als Website, die sich u.a. mit Phänomenen der Populärkultur beschäftigt, wird darum höchstwahrscheinlich (bzw. hoffentlich) eine andere Frage von größerer Bedeutung sein: Wie wirkt sich das öffentliche Ereignis der vorübergehenden Besetzung des Zentrums der Legislative durch Unbefugte auf die kulturelle, semantische Auseinandersetzung aus? Reicht die so spektakuläre, unvergessliche Verbindung von Trump zu diesen engagiertesten, von nun an medial für immer sichtbaren seiner Anhänger aus, um den ‚Trumpismus‘ so weit zu diskreditieren, dass er in der Republikanischen Partei und/oder bei der Wahlbevölkerung entscheidend an Rückhalt verliert?

Das rhetorische Potenzial wird selbstverständlich bereits weithin ausgeschöpft. Von „insurrection“ und „terrorism“ konnte man schon während der Live-Berichterstattung von NBC und CBS hören, auch vom Kongressgebäude als dem ‚Heiligtum der Demokratie‘, das geschändet werde. Trump selbst hingegen bezeichnete die Demonstranten in einer ersten Reaktion als „patriots“ und erklärte ihre illegalen Aktionen in sozialpsychologischer Manier als Folge erlittener Ungerechtigkeiten: „These are the things and events that happen when a sacred landslide election victory is so unceremoniously & viciously stripped away from great patriots that have been badly & unfairly treated so long“ – alles sehr „heilig“ im zivilreligiösen oder evangelikalen Amerika (@realDonaldTrump, 6.1.2021, ein von Twitter rasch entfernter Tweet „due to a risk of violence“; die Social-Media-Firma sperrte als eine Art kommerzieller Zensurbehörde Trumps Account darüber hinaus für zwölf Stunden, Facebook sogar für mindestens zwei Wochen).

Diese Verteidigungslinie brach aber bei Trumps Mitstreitern rasch zusammen. Ivanka Trump appellierte zwar zuerst: „American Patriots – any security breach or disrespect to our law enforcement is unacceptable“, löschte diesen Tweet aber rasch und korrigierte sich auf Nachfrage hin, ob sie „these people“ als Patrioten bezeichnet habe (was sie eben getan hatte): „No. Peaceful protest is patriotic“ (@IvankaTrump, 6.1.2021).

Ein Mitglied des Repräsentantenhauses, Matt Gaetz (Republikanische Partei, Florida), hatte den Schock seiner vorübergehenden Vertreibung aus dem Sitzungssaal schnell überwunden und wies in der folgenden Debatte geistesgegenwärtig darauf hin, dass möglicherweise einige der Eindringlinge „members of the violent terrorist group antifa“ gewesen seien, „masquerading as Trump supporters“ (Zitat aus diesem Newsblog von NBC). Also offenbar kein ‚patriotischer‘ Akt, sondern einer von Linken.

Dass es sich bei allen Gesetzesbrechern um „Antifa“-Verfechter handelte, legten allerdings nicht einmal solche republikanischen Angehörigen des ‚heiligen‘ Kongresses nahe, dafür waren die TV- und Handy-Aufnahmen während der Kurzzeitbesetzung zu zahlreich und prägnant. Sie zeigten viele Bürger, die der konservativen Vorstellung eines weißen, ‚ehrlich arbeitenden‘, aber nicht gutverdienenden ‚Normalamerikaners‘, wie man ihn bei Walmart und im Waffengeschäft nebenan antrifft, entsprachen. In vorderster Front und darum auch in erster Linie in den Kongressgebäuden vertreten waren jedoch neben Rednecks, den üblichen sportlichen, jungen, erlebnishungrigen Männern und alerten Neonazis einige interessant aussehende Personen vom Typus ‚Einsiedler‘ im Stile dissidenter Rockmusikszenen sowie theatralisch ausstaffierte ‚Helden‘. Sie sind als illustre Gestalten auf besonders vielen Pressefotografien und geposteten Bildern zu sehen, beim Sturm ins Gebäude und besonders einprägsam beim Posieren auf dem Podium im zwischenzeitlich ‚eroberten‘ Sitzungssaal.

Die Überblendung ihres Bildes mit dem Trumps dürfte eine der stärksten Waffen der Demokratischen Partei sein, um das Unverantwortliche und Groteske des vorgeblichen ‚Law and Order‘-Präsidenten zu betonen, ohne dadurch (wieder einmal) nur Trumps Anti-Establishment-Qualitäten hervorzuheben, sondern nun das ‚Unpatriotische‘ und Bizarr-Gefährliche – und dies auf eine Weise, die Teilen seiner bisherigen Anhänger einleuchtet. Wenn es diesmal nicht gelingt, dann nie mehr.

Trump selbst hat am Abend des 7.1. auf die für ihn gefährliche Situation reagiert. In der ersten Botschaft auf Twitter nach Aufhebung seiner dortigen Sperre verkündete er per Video in für ihn ungewöhnlich traditioneller Manier (da diese Tradition gerade durch ihn erledigt wurde, muss man gegenwärtig sagen: in Biden-Manier): „The demonstrators who infiltrated the Capitol have defiled the seat of American democracy. To those who engaged in the acts of violence and destruction, you do not represent our country. And to those who broke the law, you will pay. […] Now Congress has certified the results. A new administration will be inaugurated on Jan. 20. My focus now turns to ensuring a smooth, orderly and seamless transition of power. This moment calls for healing and reconciliation. […] We must revitalize the sacred bonds of love and loyalty that bind us together as one national family.“ Die  ‚heilige‘ Angst, einen entscheidenden strategischen Fehler begangen zu haben, ist deutlich spürbar. Einige der letzten Getreuen aus seiner Exekutive kündigen bereits, selbst aus Reihen der bislang hyperkonformistischen republikanischen Parteioberen wird vernehmliche Kritik an ihm geäußert.

Ob es eine gute Idee ist, den Druck auf ihn und seine Weggefährten maximal zu erhöhen und Trump nun noch einige Tage vor dem Ende seiner Präsidentschaft das Amt entziehen zu wollen – wie es u.a. der Führer der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, und die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, gestern Mittag (7.1.) vorgeschlagen haben –, muss dennoch bezweifelt werden, dies könnte im Gegenteil wieder für ein Zusammenrücken unter den Konservativen sorgen. Es erscheint recht abwegig, Trump wegen ‚Wahnsinns‘ oder ähnlich juristisch zweifelhaft begründeter Unfähigkeit ausgerechnet von seinem ihm bis vorgestern treu ergebenen Vizepräsidenten Mike Pence und einer Kabinettsmehrheit aus dem Amt entfernen lassen zu wollen (entsprechende Rechtsvorschrift hier).

Mit Pence schließt sich nun der Kreis unserer Artikelserie „Demokratie nach der Wahl“. Die traditionelle Aufgabe des Vizepräsidenten bestand am 6.1. (und wegen der außergewöhnlichen Verzögerung auch am 7.1.) darin, die für Trump insgesamt abträglichen Wahlergebnisse des Electoral College im Kongress vorzulesen. Trump und andere Republikaner hatten ihn zuvor aufgefordert, seine Rolle wesentlich radikaler auszugestalten und die Stimmen einiger Bundesstaaten, in denen Trump verloren hatte, nicht zu berücksichtigen und/oder Voten ‚alternativer‘ Wahlleute nach Trumps Gusto zählen zu lassen. Pence (seine Begründung dafür hat er in einem Schreiben hier niedergelegt) verweigerte sich diesem aller Wahrscheinlichkeit nach illegalen Manöver. – Kurz gesagt: Es war ein langer Weg von der Wahl bis zum Ergebnis.

 

Der Beitrag ist Teil der Forschungsarbeit des Siegener DFG-SFB 1472 »Transformationen des Populären«.

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