Demokratie nach der Wahl (IV)
von Thomas Hecken
7.12.2020

Repräsentanten und Parteien

Auf Dienstag, 8.12.2020, fällt die „Safe Harbor“-Grenze der 59. US-Präsidentschaftswahl. Diese ‚Deadline‘ markiert den Termin, an dem die „determination“ für den „electoral vote“ feststeht – an dem also die Vorbereitungen für das „electoral college“, das am 14.12. in allen US-amerikanischen Bundesstaaten den Präsidenten der USA wählt, abgeschlossen werden (gemäß dieses Gesetzes). In allen Bundesstaaten steht am „Safe Harbor“-Tag fest, wer jeweils die Wahl Anfang November gewonnen hat.

Was folgt aber daraus? Zu den Eigentümlichkeiten des US-amerikanischen Systems zählt, dass nicht nach Auszählung des „popular vote“ der Präsident feststeht, sondern einige weitere Prozeduren erfolgen, u.a. die Wahl durch vorher festgelegte Wahlleute. Sie repräsentieren – aber was und wen? Repräsentieren sie überhaupt?.

Ganz ist die oft zu vernehmende deutsche Verwunderung darüber aber nicht zu verstehen, geht es hierzulande doch ähnlich zu. Die Spitze des Staates, der Bundespräsident, wird nach einem vergleichbaren Wahlleute-Verfahren gewählt, allerdings sogar ohne vorherige Wahl durch das ‚Volk‘, also den wahlberechtigten Teil der Staatsbürger. Deren Wahl trägt nur insofern zur Wahl des Bundespräsidenten bei, als das ‚Volk‘ zuvor jene Abgeordnete von Landes- und Bundesparlamenten gewählt hat, deren Stimmen in der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten einen hohen Anteil besitzen.

Auch der Bundeskanzler wird bekanntlich nicht durch ‚popular vote‘ gewählt, sondern von den durch das ‚Volk‘ gewählten Bundestagsabgeordneten, die dabei aber keinem imperativen Mandat unterliegen, sondern frei (bzw. ihrem ‚Gewissen‘ folgend) ihr Votum abgeben. In all diesen Fällen besitzen Überlegungen der Parteispitzen heutzutage de facto ein hohes Gewicht. Der ‚Volkswille‘ kann anlässlich dieser Vorgänge und Verfahren lediglich in Form von zeitgleich durchgeführten, nicht amtlichen Meinungsumfragen ermittelt werden. Nur wenn eine Partei die absolute Mehrheit erringt und ihr Kanzlerkandidat die Wahl im Parlament gewinnt, ist ein recht unmittelbarer Zusammenhang zwischen ‚Volksmehrheit‘ und Bundeskanzler etabliert.

Gemessen daran, ist die US-amerikanische Präsidentenwahl sogar in höherem Maße an den ‚Volksentscheid‘ gekoppelt, schließlich gewinnt traditionsgemäß derjenige die Wahl, der aus den unterschiedlichen Bundessaaten insgesamt die meisten Wahlleute auf seiner Seite hat. Wer in einem Bundesstaat die meisten Stimmen des ‚Volks‘ errungen hat, dem werden zumeist die Stimmen aller dortigen Wahlleute zugerechnet (nur in wenigen Bundesstaaten werden die Stimmen der Wahlleute anteilsmäßig aufgeteilt). So gesehen, sind die Wahlleute, die zuvor von politischen Parteien vorgeschlagen worden sind, nur Intermediäre bzw. Exekutoren der Mehrheitsentscheidung.

Dies gilt aber eben nur ‚traditionsgemäß‘. Längst nicht in allen Bundesstaaten sind die Wahlleute per Gesetz verpflichtet, gemäß des Ergebnisses der Wahl durch das Bundessstaats-‚Volk‘ abzustimmen; zudem können sie natürlich auch ungesetzlich handeln (bzw. ihrem Gewissen oder wem auch immer folgen).

Auch unabhängig von Trumps (vergeblichen) Bemühungen, die „state legislators“ dazu zu bewegen, die Wahlergebnisse nicht zu zertifizieren und die Wahlleute anzuweisen, für den ‚wahren, nicht betrügerischen‘ Kandidaten zu stimmen, ist demnach Raum für Varianten gegeben. Nach der Wahl bedeutet hier: vor der entscheidenden Wahl.

In den USA kommt nach der Wahl durch das „electoral college“ am 14.12. noch die Auszählung der in den „colleges“ abgegebenen Stimmen durch den Kongress (am 6.1.2021) hinzu. Unmittelbar nach ihrer Bekanntgabe können noch Einwände gegen das Wahlergebnis erhoben werden (mindestens durch zwei Kongressmitglieder, je eines des Senats und des Repräsentantenhauses), über die dann im Senat und Repräsentantenhaus abgestimmt wird (Näheres dazu hier).

Viele dieser Abgeordneten gehören der Republikanischen Partei an, also jener Partei, deren wichtigste Funktionäre Trumps Betrugs-Vorwürfen zu einem großen Teil immer noch nicht widersprochen haben, wenn sie sich diese auch zumeist nicht zu eigen machen. Den Versuch, durch den Supreme Court of the United States mögliche bzw. aus ihrer Sicht offenkundige Verfahrensfehler bei der Wahl bzw. der Verabschiedung von Wahlverordnungen feststellen zu lassen, unterstützen viele von ihnen jedoch ausdrücklich.

Z.B.: Ted Cruz (texanischer Senator, akademische Abschlüsse: Princeton und Harvard Law School, republikanischer Präsidentschaftsbewerber 2016, von Trump parteiintern geschlagen, bei diesen Vorwahlen von Trump fortgesetzt als „Lyinʼ Ted“ tituliert). Er wandte sich vor einer Woche (1.12.2020) an den Supreme Court of the United States mit einer Unterstützungserklärung für die Annahme eines „emergency appeal“ (Text hier). Angriffspunkt Cruzʼ sind nicht (unterstellte) Wahlbetrugsoperationen (dazu Teil 2 dieser Reihe), sondern Entscheidungen zum Wahlrecht durch den Pennsylvania Supreme Court (ausführlich dazu Teil 1 dieser Reihe).

Cruz kritisiert dabei nicht nur die Entscheidung des Gerichts, sondern macht überaus deutlich, dass er den Pennsylvania Supreme Court als ein Instrument der Parteienherrschaft ansieht: „The illegality was compounded by a partisan Democrat Supreme Court in Pennsylvania, which has issued multiple decisions that reflect their political and ideological biases.“

Was bleibt ihm zufolge noch, wenn selbst der Pennsylvania Supreme Court derart parteiisch und folglich unrechtmäßig agiert? Nur der Supreme Court of the United States. Er soll die Auffassungen der eigenen, republikanischen Partei bestätigen, die, mehr oder minder zufällig, genau die Vorgaben der Verfassung (an)erkennt. Diese Parteiauffassung wird von Cruz nicht als solche benannt, sondern als Ansicht einer Meinungsumfragen-Kohorte: „As of today, according to Reuters/Ipsos polling, 39 percent of Americans believe that ‚the election was rigged.‘ That is not healthy for our democracy. The bitter division and acrimony we see across the nation needs resolution. And I believe the U.S. Supreme Court has a responsibility to the American people to ensure that we are following the law and following the Constitution.“

Die (indirekte) juristische Anerkennung der Auffassung der Anhänger der eigenen Partei soll zur ‚Heilung‘, zur Überwindung der „Spaltung“ beitragen. Dies könne nur gelingen, wenn eine unabhängige Instanz dem Recht Geltung verschaffe. Wie Cruz darauf kommt, dass die anderen 61 % solch ein Urteil als nicht parteiisch ansehen würden, wenn der Supreme Court of the United States zu dem von ihm erhofften Ergebnis gelangte, begründet er nicht weiter. Auch sagt er nichts dazu, was passieren sollte, falls die Beschlüsse des von ihm als „Democrat Supreme Court in Pennsylvania“ bezeichneten Gerichts unangefochten blieben. Das Unaussprechliche, es ist noch nicht passiert …

[wird fortgesetzt]

 

2 Gedanken zu „Demokratie nach der Wahl (IV)
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