Über Grete Hartwig-Manschingers »Rendezvous in Manhattan«
Pop als Distinktionsspiel ist kein genuines Produkt der 1950er oder gar erst der 1990er Jahre. Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren wurde vieles von dem in Stilen und Konsumpraktiken erprobt, was für eine spezifische Pop-Ästhetik als wesentlich erachtet wurde – die Bezüge auf populäre Musik, auf Marken und Moden sowie deren ostentativen Konsum (wie die bahnbrechende Studie von Maren Lickhardt, Pop in den 20er Jahren. Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion, zeigt). Kritisiert wurde an diesen urbanen Lebens- und Inszenierungsformen meist von linken Autor:innen das tendenziell unterentwickelte politische Sensorium für die grundsätzlichen Paradoxien kapitalistischer Gesellschaften und die unterschätzte Bedrohung durch den Faschismus, der bereits im Schatten des mondänen Glanz- und Glamourlebens gedieh.
Eine seltene Ausnahme stellt daher Grete Hartwig-Manschingers Roman Rendezvous in Manhattan dar, der diese drei Aspekte Pop, Kapitalismus und Faschismus miteinander verschränkt. Ihr Roman erschien zum ersten und einzigen Mal 1948 in Wien. Der Exilautorin Hartwig-Manschinger (1899-1971), die 1938 mit ihrer Familie vor dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland geflohen war, ist allerdings kein Erfolg beschieden gewesen – der Roman, seine Autorin und ihr gesamtes Werk gerieten in Vergessenheit. In einer literaturhistorischen Sonderstellung lässt sich der Roman zunächst als alleinstehendes Artefakt der Nachkriegszeit auffassen, der zwar an Irmgard Keuns Gilgi, eine von uns anschließt, auf den aber weder zeitnah noch später ein vergleichbares Echo erfolgte. Dem Verlag Das vergessene Buch ist es zu verdanken, dass Hartwig-Manschinger nun eine Chance bekommt, wiederentdeckt und ihr Roman von Neuem oder erstmals gelesen zu werden (der Wiener Verlag hat schon einigen vergessenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts wie Maria Lazar, Marta Karlweiß oder Else Jerusalem zu neuen Ausgaben und größerer Beachtung verholfen).
Rendezvous in Manhattan ist ein Roman, der sich den feinen wie den groben Unterschieden der urbanen US-amerikanischen Alltagskultur in durchaus politischer Perspektive annimmt. Denn das, was der Titel an Glamour verheißen mag, wird nur bedingt eingelöst. Stattdessen zeigt der Roman vor allem den alltäglichen Kampf unterprivilegierter Schichten in den Vereinigten Staaten in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs. Er erzählt rückblickend von seiner Protagonistin Edna, die Akkordarbeiterin in einer Fabrik für Kosmetikprodukte beschäftigt ist, die schlecht bezahlt wird, sich tagtäglich Willkür und Schikanen ausgesetzt sieht und vom Sohn des Chefs sexuell belästigt wird. Hartwig-Manschinger konstruiert ein überzeugendes Dilemma, in dem Edna einerseits als Teil der „Industriearmee“ fungiert, deren Einheitsgeist der „Massenanhäufung“ auch ihr zur „zweiten Natur“ geworden ist. Andererseits glaubt sie an den gesellschaftlichen Aufstieg und Ausstieg aus ihrem prekären Milieu. Dieser rückt schließlich durch einige Bekanntschaften näher, die Edna in ihrer Urlaubswoche macht. Diese Freizeitvergnügungen und der ostentative Konsum sind jedoch stets von der Last gedrückt, dass sie gezwungen ist, ihre Herkunft zu überspielen und das „Milieu aus ihrem Bewußtsein aus[zu]schalten“. Edna fühlt sich fremd und wird als naiv und unverständig, als Fremde wahrgenommen.
Von der ersten Seite macht der Roman unmissverständlich klar, dass auch in der ihrem Selbstverständnis nach klassenlosen Gesellschaft die Klassenzugehörigkeit die entscheidende Determinante ist. Hitze, Hunger und Alkohol, aber auch Vergnügen in Form von „Hobbys“, Musikgenuss und alle möglichen anderen Formen des Konsums sind für Angehörige unterschiedlicher Klassen nie dasselbe. Der normierende und zwingende Faktor Zeit stellt einen der zentralen Unterschiede dar – das Leben der einen kennt Freizeit, das der anderen wird von der Stechuhr bestimmt, die kaum Luft zur Rekreation lässt.
Neben den Löhnen, Wohnformen und Verkehrsmitteln sind dies auch die vielen ‚feinen Unterschiede’, die die verschiedenen Milieus und Klassen kennzeichnen. Manche von Hartwig-Manschinger Gesellschaftsszenen greifen Pierre Bourdieus These von der Geschmacksdistinktion vor und führen präzise aus, worin sich die Lebenswelten im Detail unterscheiden: In der Fabrik trinkt man Coca Cola, in den wohlhabenderen Kreisen Pepsi, hier hört man Jazz, dort sogenannten „Schlager“ von Sammy Kaye und Betti Martin. Als Edna den Komiker Red Skelton als ihren Lieblingsstar nennt, halten ihre wohlbegüterten Freunde dies, die nichts davon ahnen, dass ihre Lebenswelten weit auseinanderliegen, für einen Scherz.
Edna führt daher auch ein Leben, das bestimmt ist von Scham. Sie schämt sich ihrer Familie, der kranken Mutter, des trinkenden Vaters und der Schwester, die sich herumtreibt. Sie schämt für ihre billige Kleidung, die sie nicht in derselben Frequenz wechseln kann wie die reicheren Frauen, sie schämt sich ihrer Naivität, da sie darum weiß, vieles nicht zu verstehen, was die sozialen Interaktionen bestimmt. Und es ist die Furcht vor der „seelischen Depression des arbeitslosen Menschen“ die über allem lastet – denn die Arbeit ist einzige Bewegung gegen den „Abgrund“. Die zanyness (Sianna Ngai), eine rastlose Geschäftigkeit ohne Einhalt, geht einher mit den Konsumanreizen, die allerorten locken, Bildungsanreize gibt es hingegen kaum. Edna ist in ihrem Milieu eine Ausnahme, Hartwig-Manschinger zeichnet ein Proletariat ohne Bewusstsein seiner Klassenlage, ohne Solidarität und kollektive Organisations- oder Aktionsformen. Die arbeitende „Industriearmee“ ist zugleich eine konsumierende Kulturindustriearmee, die ihre vorgesehenen Rollen spielt.
Vor diesem Hintergrund erörtert der Roman die Frage, ob und wie Liebe unter den Bedingungen sozialer Abhängigkeiten und ökonomischer Zwangslagen möglich ist. Der Roman hängt dabei einem klischierten Bild eines europäischen Traditionalismus an, der noch ‚wahre’ Liebe ermögliche, während diese in den USA durch den rationalen Geist verunmöglicht werde. Die „echten“ Europäer:innen glaubten noch an den „Wert“, die Amerikaner:innen hingegen nur noch an „den Preis des Werts“ – was auch die Erwägung von Kosten und Nutzen von Liebesbeziehungen miteinschließe. Aber Edna, so will es die kulturelle Vererbung, ist Kind eines italienischen Vaters und einer irischen Mutter, also Trägerin dieser europäischen Charaktereigenschaften. Edna heiratet Ray und erfährt einen moderaten gesellschaftlichen Aufstieg, wird jedoch bald nach Rays Einberufung zur Witwe erklärt, worauf sie den älteren Dr. Connewar heiratet, vor dem es ihr zwar ekelt, der ihr aber ein Leben ohne finanzielle Beschränkungen ermöglicht. Der soziale Druck wirkt also. Nach dem Tod der ‚wahren’ Liebe überwiegen die Angst vor Armut und Not sowie das niemals aufgegebene Aufstiegsversprechen das Treuegelöbnis Ray gegenüber.
Hartwig-Manschinger entwickelt nicht nur die Konstellationen, in denen ihre Figuren agieren, sondern auch das Bewusstsein, mit denen diese auf die Erfahrung ihrer Umwelt reagieren. Ist der Krieg zunächst ein Ereignis, zu dem sich die Figuren naiv und indifferent verhalten, gelingt es zumindest einigen, diesen in seiner ökonomischen wie politischen Dimension zu begreifen.
Sie erblicken „Nutznießer im schaurigsten Kapitel der Weltgeschichte“ und erkennen, wie ihre Selbstbezogenheit, ihr Egoismus, mit dem schlafenden „Weltgewissen“ übereinstimmten. All die „Niemande“ in der Welt hätten keinen Anteil daran genommen, als die „Juden ermordet“ und „Kinder vergast“ wurden, weil diese alle Welt die Konzentrationslager für eine „innerdeutsche Angelegenheit“ gehalten haben. Die zentrale Stelle des Romans führt Individual- und Weltgeschichte, Versäumnis und Einsicht zusammen. Edna bekennt, gar nicht politisch informiert zu sein und auch nicht gewählt zu haben. Dies seien Dinge, „die sie beide nichts angingen“, auch die Herrschaft des Faschismus habe „doch mit ihrem persönlichen Glück nichts zu tun“. Das „arme Arbeitermädel“ weiß nur, dass die „großen patriotischen Worte“ von „freier Geburt“ und „Recht auf Glück“ auch für sie gelten.
Der Glaube an den American Dream wird als hohl und für das Individuum wie die Weltlage gleichermaßen fatal entlarvt. Es ist der totgesagte Ray, der überraschend zurückkehrt und neue Einsichten gewonnen hat. Er habe erfahren, dass der Kriegseintritt der USA nicht allein aus humanitären Gründen erfolgt sei, sondern primär auf die Konsolidierung von Macht ausgerichtet wäre. Ray ist von allen und allem enttäuscht. Von der Menschheit und den USA wie von Edna, deren Verhalten er auf einen gemeinsamen Nenner bringt: „Unsere Staatsmänner sind wirtschaftliche Isolationisten, wir sind seelische. Wir denken nur an unser persönliches Glück und glauben, es ist unabhängig von dem, was in der Welt vorgeht. Wir sind nicht reif für unsern eigenen technischen Fortschritt. Unsere Flugzeuge bringen uns in wenigen Stunden an einen andern Kontinent, sobald wir aber dort sind, sagen wir: das geht uns gar nichts an. Die Welt schrumpft zusammen und wir haben noch nicht gelernt, wie man mit den andern zusammenlebt, Güter brüderlich teilt, Verantwortlichkeiten gemeinsam trägt, Wissen austauscht. Wir sind so dumm und unerzogen, daß wir, während des Nachbars Haus brennt, die Decke über unsern Kopf ziehen und befriedigt sagen: es ist ja nicht mein Haus.“
Isolation und Egoismus werden als die hauptsächlichen Triebkräfte einer falschen Vergesellschaftung beklagt. Am Ende steht jedoch die vage Hoffnung auf ein neues Zusammenleben, auf ein Wir, das sich der eigenen Fehler und Fehlbarkeiten bewusst ist und deswegen weiß, was es aneinander hat. Diese Einsicht hat allen Figuren – im Politischen wie im Privaten – gefehlt. Anstelle der gegenwartsfixierten Haltung tritt die Vision, gemeinsam die „Welt neu auf[zu]bauen“.
Grete Hartwig-Manschinger:
Rendezvous in Manhattan. Amerikanischer Roman.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Vojin Saša Vukadinovič.
Wien: Das vergessene Buch 2021.