Die Coming of Age-Serie »Léas 7 Leben«
von Maren Lickhardt
17.5.2022

Suizid und Selbstsabotage im Simulationsmodus

Kein Mensch hat je die Zustimmung zu seinem eigenen Leben gegeben. Auf dieser Prämisse basiert eine bestimmte Richtung antinatalistischer Lehren, die ihren medienwirksamen Kulminationspunkt darin gefunden hat, dass der Inder Raphael Samuel seine Eltern dafür verklagt hat, dass sie ihn geboren haben. Wie es wäre, wenn man durch eine Reihe von Seelenwanderungen in verschiedene Figuren in der Vergangenheit seine eigene Geburt ungeschehen macht, spielt die französische Coming of-Age-Serie Les 7 vies des Léa / Léas 7 Leben durch. Dass dies am Ende der ersten Staffel quasi als Nebeneffekt gelingt – ich kann mir leicht vorstellen, wie das in der zweiten Staffel zurückgedreht werden kann –, vollendet den Suizid, den die Protagonistin Léa zu Beginn der Serie begehen wollte.

Da sie in der Zwischenzeit lebenszugewandter wurde, wirkt die Selbstauslöschung nicht mehr wie eine Verzweiflungstat. Schließlich will sie am Ende nicht mehr Nichtsein, sondern stellt lediglich das Sein der anderen über ihres. Sie rettet Ismaels Leben im biologischen Sinn und dadurch die soziale Existenz ihrer Eltern: Diese werden nun kein Paar bleiben und auf getrennten Wegen endlich glücklich werden, wodurch Léa nie geboren werden wird. Ohne dies zu bedauern, schreibt sie Ismael in der letzten Folge die Notiz, mit der die erste Folge einsetzt, weil sie weiß, dass dies die einzige Spur ist, die sie je auf der Welt hinterlassen wird, wenn sie nun nicht stirbt, sondern nie existieren wird.

Dass sich hierbei ein Kreislauf auftut und außerdem zu erwarten ist, dass Ismael in der zweiten Staffel alles dransetzen wird, um Léas Bewegung in der ersten Staffel vom Sein zum Nichtsein rückgängig zu machen, dass sich in der Serie also auf verschiedenen Ebenen zyklische Vorstellungen einstellen, ist der hier einmal mehr reflektierte Lauf aller Serien, der nun völlig implizit (!) an buddhistische Vorstellungen gebunden wird. Léa verwendet keinen einzigen Begriff, den (Pseudo-)Buddhist:innen gerne verwenden, aber öfter wird die nihilistisch-fernöstlich geprägte Vorstellung artikuliert, es käme auf die manifeste Existenz eines personalen Lebens nicht an, weil wir alle nur – so nun wörtlich in der deutschen Fassung – „Sternenstaub“ seien.

Léa ‚inkarniert‘ sich in der Vergangenheit in verschiedene Körper. So darf sie erfahren, wie es ist, ein Junge zu sein, und ganz Coming of Age-typisch – und es ist wirklich im positiven Sinn komisch – fällt ihr dazu in einer ruhigen Minute als erstes ein auszuprobieren, wie es ist, mit einem männlichen Geschlechtsteil zu masturbieren. Sie hat in der Haut eines anderen Jungen Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen. Sie schlüpft in den Körper einer Schwangeren und übergibt sich mehrmals. Außerdem schläft sie als etwas reifere Frau mit Ismael. Hier werden auf sehr originelle Weise die Topoi des Genres durchgespielt, und weil Léa ins Jahr 1991 versetzt immer in fremden Körpern steckt, findet sich in der Serie eine interessante Distanz zum Geschehen. Alle Teenagerrollen werden als Rollen durchprobiert, die recht souverän ausgestaltet werden können, weil Léa in dieser Realität nichts zu verlieren hat und sie zunächst einfach nur Ismaels Leben retten möchte. D.h. während sie verbissen und fokussiert am Hauptplot arbeitet, kann sie in allen möglichen Szenen quasi en passant das Teenagerfilmrepertoire quasi simulieren, das in anderen Coming of Age-Serien verbissen und fokussiert durchlitten wird.

Nebenbei ist sie im Vergleich zu diesen 90er-Jahre-Teenagern woke und korrekt, kann sie in diesen fremden Körpern toxische Männlichkeit und Chauvinismus, Sexismus und Rassismus durchbrechen, ohne dabei besonders politisch und programmatisch zu wirken. Mit unserem heutigen Wissen, also selbst wenn wir jetzt jung wären, mit historischem Bewusstsein könnten wir wohl alle souverän ins Jahr 1991 springen und Bodyshaming reflektieren, während wir 1991 vielleicht selbst davon betroffen waren. Die frühen 90er Jahre mit dieser Leichtigkeit erleben zu dürfen, macht die Attraktivität dieser Serie aus. Ernst und leicht zugleich werden die genannten Probleme sichtbar und doch mit der positiven Botschaft versehen, dass die Welt im Moment und für uns in Europa in diesen Hinsichten vielleicht ein kleines bisschen besser geworden ist, dass wir doch etwas bewusster mit Klischees aller Art umgehen.

Die Zeitreise bringt es außerdem mit sich, dass wir Mode und Musik der frühen 90er wieder sehen und hören, und weil es eine französische Serie ist, sind es oft speziell die Aspekte, die tatsächlich in Europa verbreiteter waren. Außer Skateboarden und Hip-Hop ist die Serie in diskursiver Hinsicht wenig amerikanisch, was sie für Europäer:innen besonders anschlussfähig macht.

Obwohl 2021 teilweise im 90er-Jahre-Retro-Look unterwegs, empfindet Léa nicht unsere Nostalgie, sondern quält sich derweil mit einem VHS-Recorder. Aber dafür darf sie erfahren, wie es ist, in der Haut ihrer Eltern zu stecken. Hier wird es psychoanalytisch, und auch hier zeigt sich auf originelle Weise ein typisches Moment von Coming of Age-Artefakten: Die Probleme und Krisen des eigenen Lebens – Léa hat im Jahr 2021 mit der Schule, ihrer Zukunft, ihren Eltern und ihrer Identität und letztlich mit dem Erwachsenwerden und dem Finden eines Platzes in der Welt schwer zu kämpfen – lösen sich in einer Quasi-Familienaufstellung, indem sie jede Perspektive einmal einnehmen kann. Sie erfährt nicht nur – sinnlich –, dass auch ihre Eltern mal jung waren, sondern sie gelangt zu dem problematischen Knoten in deren Leben, der in einer vererbten Depression ihr eigenes Lebensunglück bedingt. Und sie schneidet den Faden ab.

Neben psychoanalytischem Durcharbeiten der Familienvergangenheit ist hier erneut die buddhistische Vorstellung implizit am Werk, viele Leben und Perspektiven des Lebens sinnlich erfahren zu haben, und nun selbst-los ins Nirwana gleiten zu können, indem man seine Existenz nicht auslöscht, sondern von vornherein verhindert (man könnte vielleicht sogar eher sagen, nicht buddhistisch, sondern hinduistisch, aber ich möchte mich auf diese Details nicht einlassen, die der Serie ohnehin nicht als religiöses Wissen eingeschrieben sind, sondern auf diffuse Weise als dramaturgisches Vehikel dienen.). Aber statt von Sternenstaubzerstreuungen zu reden, könnte man eben auch tatsächlich sagen, die Serie inszeniert auf dramaturgisch raffinierte Weise letztlich doch Léas gelungenen Suizid als Lösungsmöglichkeit für das vermurkste Leben ihrer Eltern, das Daseinsbedingung des eigenen wurde.

Die Serie ist einfach zu gut gemacht, um sie nicht gut zu finden. Während die deutsche Serie Dark Zeitreisen, Generationenkonflikte und Altlasten narrativ und atmosphärisch beschwert, wirkt hier das meiste leicht. Man spürt es im Grunde nicht, wie die Protagonistin mit ihrem Leben hadert oder wie alle in ihrem Sein gefangen sind, weil stets die Vorstellung zugrunde liegt, dass – zumindest durch einen Zeitsprung und Körpertausch – auch alles ganz anders sein könnte, dass man Fehler ganz einfach nicht machen muss, dass man einfach auch mal nett zueinander sein kann, statt gefangen in seiner Perspektive herumzufrusten, dass man sich in 30 Jahren dankbar sein wird, wenn man geradlinige Entscheidungen trifft etc. Und diverse Drogen – so die Serie – können dabei in Maßen stets auch behilflich sein. Dass sich dabei letztlich eher zufällig die Selbstauslöschung des Niegeborenwordenseins einstellt, spiegelt möglicherweise sogar mit positiver kathartischer Wirkung düstere Teenagergedanken.

Dennoch finde ich es problematisch, wie sehr, wie glatt und wie nebensächlich sich diese Esoterik-Hippie-Substrate dramaturgisch einsetzen lassen und wie wenig sie durch diesen gekonnten Einsatz diskursiv aufstoßen. Auf die diskursive Oberfläche gebracht, gefällt mir der Gedanke nicht, dass man Teenagern ungebrochen diese Denkversatzstücke unterschieben kann, weshalb ich ausnahmsweise auf eine kulturwissenschaftlich-medienpädagogische Einhegung hoffe, wenn diese Teenager die – ästhetisch, narrativ und schauspielerisch wirklich sehr gelungene – Serie genießen.

 

Schreibe einen Kommentar