Trainieren
von Nicolas Pethes
24.5.2022

Zum Selbstzweck einer sportlichen Praxis

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 30-34]

Wer nach Bezügen zwischen Sport- und Popkultur fragt, muss nicht zwangsläufig die Inszenierung globaler Großereignisse betrachten. Auch einem Blick hinter die Kulissen bzw. auf den Prozess der Vorbereitung der Wettkämpfe und ihre medialen Schauseiten offenbaren sich überraschende Berührungspunkte. So macht, um ein Beispiel zu nennen, Justin Bieber in regelmäßigen Abständen Station bei Trainingseinheiten seines Lieblingsvereins FC Barcelona, zuletzt 2017 während der Tour zur Promotion von »Purpose« – eines Albums, dessen Titel der Frage nach der Funktion solcher Übungseinheiten das entscheidende Stichwort souffliert: ›What’s the purpose?‹

Diese Frage ist brisant, weil die Antwort im Rahmen von Trainingspraktiken evident sein sollte: Für die längste Zeit orientierte sich die Semantik des Trainierens an der Ausrichtung von Körpertechniken auf Leistungssteigerung. Trainiert wurde immer etwas bzw. für etwas – etwa, um im Beispiel zu bleiben, das Fußballspielen mit Blick auf den nächsten Gegner. Nicht nur im Lichte von Biebers Trainingsbesuchen, mit denen er kaum die Hoffnung auf Einsätze im blau-rot gestreiften Trikot des katalanischen Überclubs verbinden dürfte, zeichnet sich aber in den letzten Jahren ein Wandel dieses Verständnisses von Trainieren als dienende und zielgerichtete Praxis ab: Während das Verb früher transitiv gebraucht wurde, d.h. nach einem Objekt verlangte, das näher angab, was genau trainiert wird, kann man heute schlicht sagen: Ich trainiere. Punkt.

Das mit diesem intransitiven Sprachgebrauch verbundene Phänomen ist allgegenwärtig – vor allem in Fitness-Centern, in denen landauf landab trainiert wird ohne Ende und Ziel. Zwar ist diese Trainingspraxis unterlegt mit Diskursen der Selbstoptimierung, und auch der Vergleich mit den Leistungen am Nachbargerät ist durchaus Usus. Aber im Kern dominiert die schiere Schauseite: Muskelaufbau, Cardio-Training und Core-Stabilisierung werden nicht primär betrieben, um sich mit anderen zu messen, und längst haben sich die Studios vom Fokus auf Bodybuilding verabschiedet, zu dem noch ein Wettkampfbetrieb gehörte. Ohne diesen ist Trainieren aber kein Bestandteil des Sportsystems mehr, das dem Code gewinnen vs. verlieren folgt. Auch im Fall des intransitiven Trainierens geht es zwar um ›gain vs. loss‹ – aber gemeint ist damit allein der Aufbau bzw. Verlust von Muskelmasse und also eine temporale Differenz zum ›status quo ante‹, die nicht mehr mit Blick auf zu besiegende Gegner oder zu überbietende Bizepsgebirge anderer erfolgt, sondern nur auf das eigene Spiegelbild und die neuerdings so genannte ›Definition‹ der Muskulatur bezogen ist.

Dabei treten an die Stelle der sportlichen Codierung und Ausrichtung des Trainierens andere Rahmungsangebote – allen voran ein medizinisches, das die gesundheitlichen Vorteile regelmäßiger Körperbetätigung betont und von den zahlreichen diätetischen ›work-life-balance‹-Diskursen unserer Gegenwart begleitet wird. Solche aufs große Ganze zielenden Zusammenhänge stehen aber der je einzelnen Trainingseinheit kaum vor Augen, sodass man diese treffender als Selbstzweck beschreiben wird – und also als Praxis einer autonomen Oberflächenästhetik des Körpers. Das Prinzip Yoga.

In dieser Hinsicht ähnelt die aktuelle Popularität des Trainierens derjenigen Tendenz, die Roland Barthes in seinem Aufsatz »Schreiben. Ein intransitives Verb« der modernen Literatur zugesprochen hat, wenn diese ihr Schreiben von der Ausrichtung auf darzustellende Inhalte löst und als selbstsuffiziente körperliche Praxis für sich genommen als ereignishaft und lustvoll begreift. Auf vergleichbare Weise löst sich derzeit das Verständnis von Trainieren von der herkömmlichen Wahrnehmung, einer bloß vorbereitenden Routine von AthletInnen ohne Ereignis- oder Eigenwert – eine Wahrnehmung, die das Sportsystem lange bestimmt hat, was z.B. der Sachverhalt illustriert, dass ein im Training erzielter Weltrekord, der quantitativ ja eindeutig gemessen werden kann, keine Gültigkeit besitzt.

Dieser innersystemischen Marginalisierung des Trainierens (die dem Üben im Kunstsystem, insbesondere auf dem Gebiet der performativen Künste, vergleichbar ist) steht die an Michel Foucault orientierte Decouvrierung der Körperübung als Disziplinartechnik im Rahmen des hygienepolitischen Programms der Kontrolle, Normalisierung und Effizienzsteigerung von Subjekten in der modernen Gesellschaft entgegen. Foucaults Analysen in »Überwachen und Strafen« lassen sich stützen durch die Nähe der von ihm beschriebenen militärischen, strafrechtlichen, klinischen und pädagogischen Institutionen zu den an der Wende zum 20. Jahrhundert entwickelten physiologischen Experimenten der Arbeitspsychologie zu den Perioden von Ermüdung und Erholung. Wie Georges Canguilhem in »Das Normale und das Pathologische« gezeigt hat, wird bei dieser Vermessung von Leistungs- und Belastungsgrenzen die im medizinischen Diskurs etablierte Unterscheidung von ›normalen‹ und ›anormalen‹ Zuständen dahingehend modifiziert, dass auf dem Feld des Sports die Normabweichung nun gerade positiv konnotiert wird und eine weiter zu befördernde und gesellschaftlich für vorbildhaft erachtete Exzellenz meint.

Auf dem Boden dieser epistemologischen und diskursiven Grundlagen entsteht die moderne Sportwissenschaft und ergänzt sie mit Blick auf Mannschaftssportarten und die Optimierung von Körperkollektiven durch Anleihen bei der Kybernetik und ihren Netzwerkmodellen der Selbststeuerung. All dies unterstreicht auch die Nähe von Trainingskonzepten zu biopolitischen Regulierungen moderner Gesellschaften – ein Zusammenhang, der nirgendwo pointierter erscheint als in Georges Perecs Dystopie »W oder die Kindheitserinnerung« von 1975, in der auf einer feuerländischen Insel das gesamte Gesellschaftsleben durch dauernde sportliche Wettkämpfe geprägt ist, sodass der Alltag der Einwohner beinahe ausschließlich aus Trainingsabläufen besteht, der resultierende »Sportlerstaat« am Ende jedoch in Gestalt zunehmend willkürlicher Wettkampfregeln und demütigender Rituale als Vernichtungslager kenntlich wird.

Neben dieser denkbar radikalsten Decouvrierung des Trainierens als zerstörerisches Leistungsparadigma existieren auch positive Lesarten, die sich meist von Nietzsches Programm einer Unterwerfung der Natur unter den Willen herschreiben. Ihre jüngste Version findet sich 2009 in Peter Sloterdijks »Du mußt dein Leben ändern«. Sein Konzept der Anthropotechniken – demzufolge das Betreiben einer Praxis denjenigen produziert, der sie betreibt – impliziert, dass die Menschheit nie nur natürlich existiere, sondern sich und ihre Kultur stets selbst – durch Technologien und Rituale – hervorgebracht habe. Das damit verbundene Modell einer »autoplastischen Rückwirkung« verknüpft Sloterdijk in Anlehnung an Rilkes Vers »Du mußt dein Leben ändern« mit der »globale[n] Fitnessübung« moderner Gesellschaften, deren Versuche des körperlichen, kognitiven oder genetischen ›enhancement‹ nicht nur negativ als Disziplinierung, sondern auch positiv als evolutionär notwendiges Optimierungsstreben zu verstehen seien. Aus der Trainingswissenschaft entlehnt Sloterdijk hierzu das Konzept der »Hyperkompensation«, d.h. die Beobachtung, dass wiederholende Belastung nicht nur die Regeneration, sondern auch die Zunahme der Muskulatur nach sich zieht; aus der Religionsgeschichte die Praxis der Askese, die auch der späte Foucault als Bezugspunkt eines affirmativen Übungsbegriffs wählt; und aus der Kunsttheorie den Begriff der Form, dessen ästhetisch-athletischer Doppelsinn für Sloterdijk belegt, dass der sportliche Optimierungsappell nicht nur als moderne Disziplinierungstechnik zu decouvrieren ist, sondern – im Lichte antiker Skulpturen, wie sie auch Rilkes Gedicht vom »Archaischen Torso Apollos« vor Augen gestanden haben – als vereinbar mit einem positiven Verständnis von Lebenskunst gesehen werden kann.

Das dieser These zugrundeliegende Kunstverständnis ist freilich ein reichlich klassizistisches, wenn es tatsächlich Vollkommenheit postuliert – und sei es nur als Zielvorgabe angesichts eines fragmentierten Torso. Wenn hier nach dem Eigenwert alltäglichen Trainierens als Ereignis gefragt wird, das keine teleologische Vorbereitung auf etwas ›Eigentliches‹, ›Sinnhaftes‹ oder ›Spektakuläres‹ mehr ist, dann scheinen anthropologische oder werkästhetische Argumente zu kurz zu greifen. Aus diesem Grund ist die Schnittmenge zwischen der Beobachtung des Trainierens als intransitive Praxis und popkulturellen Figurationen von Interesse – eine Schnittmenge, die als zusätzliche Option gegenüber der Alternative von Entlarvung oder Affirmierung festzuhalten ist und die Intransitivität des Trainierens als gezielt künstliche und genussorientierte Spielart einer gegenwärtigen Oberflächenästhetik kenntlich macht.

Was damit gemeint sein könnte, lässt sich am besten in Sozialen Medien nachvollziehen. Plattformen wie Instagram quellen über von Fotos und Videos, die Trainingsaktivitäten dokumentieren – schier endlose Serien stereotyper Selfies, deren Informationswert hinter die bloße Manifestation des eben bewältigten Workouts zurücktritt. Die zugehörigen Hashtags – #postworkout, #FitnessAddict, #TransformationTuesday, #GirlsWhoLift, #GoHardOrGoHome usw. – artikulieren das zugrundeliegende Programm deutlich. Mit »Fitness Instagram« gibt es inzwischen eine fest etablierte Subsparte, in der Userbiografien als Trainingsnarrative präsentiert werden. Die Posts umfassen Trainingsbilder, Motivationssprüche, Empfehlungen für gesunde Mahlzeiten sowie die notorischen ›before/after‹-Photos, die Trainingserfolge dokumentieren und zum Nachmachen animieren sollen. So empfiehlt die US-amerikanische Fitness-Studio-Kette Jersey Strong: »In the digital age, creating a fitness journey Instagram is a great way to keep yourself motivated, track your progress, and interact with other people in the fitness community. Instagram has long been a channel for people trying to increase strength, lose weight, alter their diet, and feel inspired while doing so.«

Dieser Reformulierung von Sloterdijks Rilke-Lektüre für das Internetzeitalter steht die Kritik an der mit der Bilderflut mehr oder weniger erfolgreich optimierter Körper einhergehenden Normierung eines gesunden, schlanken und wohldefinierten Selbstbilds entgegen – und das sogar gestützt auf wissenschaftliche Untersuchungen. So zitiert der Londoner »Independent« (12.08.2016) aus einer Studie der Brunel University zu psychologischen Implikationen der Zunahme von ›fitness posts‹ in Sozialen Medien das nicht ganz überraschende Ergebnis: »Narcissists more frequently updated about their achievements, which was motivated by their need for attention and validation from the Facebook community.« Und das Magazin »GQ« berichtet am im Oktober 2018 unter der Überschrift »How Gym Selfies Are Quietly Changing the Way We Work Out« von einem Experiment an der University of Arizona, bei dem 232 Probanden zu den Folgen des Betrachtens von ›fitness posts‹ befragt wurden – und dabei zwar ein erhöhtes Bewusstsein für Fragen der Gesundheit zu Protokoll gaben, zugleich aber auch eine Zunahme negativer Selbstwahrnehmungen, etwa hinsichtlich des eigenen Körpergewichts, erkennen ließen.

Auf diese Weise scheint auch intransitives Trainieren zwischen den Polen der Affirmation evolutionärer Vorteilsnahme und der Kritik des Autonomieverlusts in Leistungsgesellschaften gefangen zu sein. Es sollte aber zumindest möglich sein, diese Transformation als gänzliche Loslösung von solchen Zweckausrichtungen und Dispositiven zu betrachten. Dann würde die Aussage ›Ich trainiere‹ als reiner Selbstvollzug kenntlich, der nicht mehr, wie noch in Foucaults Hinweis auf den Nullpunkt moderner Literatur im Sprechakt ›Ich spreche‹, referenzlose Worte, sondern Bilder hervorbrächte, die die schiere Materialität einer körperlichen Praxis verdoppelten, ohne ihr damit eine wie immer geartete Tiefe zuzuweisen. So sehr also der gegenwärtige Fitness-Boom mit einerseits evolutionsbiologischen, andererseits kommerziellen und neoliberalen Interessen an Selbstdisziplin und Leistungssteigerung verknüpft zu sein scheint – in Gestalt seiner narzisstischen Selbstpräsentation in Sozialen Medien entgeht er diesen Geboten zugleich, indem er sowohl den Vollzug des Trainings als auch dessen inflationäre Übersetzung ins Bild als opake Oberfläche und Schauseite einer Kultur ohne Sinn und Ziel inszeniert.

 

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