Techno-Brass als Sound zweiter Ordnung
Die Hamburger Band Meute trat 2016 erstmals mit einer Blasmusik-Interpretation des Techno-Tracks »Rej« von Âme in Erscheinung. Das dazugehörige Straßen-Performance-Video ging viral und machte die Band unmittelbar bekannt. Meute kombiniert klassische Marching-Band-Instrumente (Trompeten, Posaunen, Tuba, Schlagzeug) mit der repetitiven und energetischen Struktur von Techno, ohne elektronische Instrumente zu verwenden. Dadurch hat sich die Band in den letzten Jahren als Live-Phänomen etabliert und bespielt mit einem eng terminierten Tourplan die wichtigsten Festivals und Clubs weltweit. Mit ihrem Konzept, elektronische Musik in eine analoge Form zu überführen, haben sie sich zu einem einzigartigen Element der internationalen Pop- und Clubkultur entwickelt.
Nun gehören Coverversionen und neue Arrangements mittlerweile zu gängigen Kategorien populärer Musik. Nicht selten erreichen solche Formate sogar einen höheren Bekanntheitsgrad als die Originalwerke, auf die sie sich beziehen. Pophistorisch erscheint es deshalb nicht sonderlich überraschend, dass die Hamburger Band Meute Werke der elektronischen Tanzmusik und bekannte Technosongs als Marschkapelle adaptiert. Denkt man etwa an Wegbereiter wie James Last oder auch das Cello Metal Quartett Apocalyptica, scheint die Grundidee bereits ein Erfolgsgarant zu sein.
Doch geht es bei Meute nicht um die Neuinterpretation von Heavy-Metal-Klassikern und auch nicht um die Überführung großer Pophits in den Happy Sound einer Big Band. Meute arrangieren mit ihren Coverversionen nämlich nicht nur Techno, sondern eine ganze sound- und medientheoretische Diskurslage neu. Sie zeigen, dass elektronische Tanzmusik nicht an ihre digitale Materialität gebunden sein muss, sondern in anderen klanglichen Formaten weiter existieren kann. Ihre Performances eröffnen einen alternativen Zugang zu Techno, indem sie dessen Struktur in den Raum der Live-Musik überführen – eine Remediation elektronischer Klangästhetik durch akustische Instrumentierung.
Damit bewegt sich Meute an einer Schnittstelle zwischen Clubkultur und Straßenmusik, zwischen digitaler Produktion und körperlicher Performance, zwischen Original und Übersetzung. Diese Hybridisierung stellt gleichzeitig zentrale Annahmen über die Medialität von Techno infrage: Inwiefern werden Techno oder EDM überhaupt vom Eigenklang, vom elektronischen Sound bestimmt? Oder sind die musikalischen Strukturen der zentrale Bedeutungsträger elektronischer Tanzmusik?
Medien und Sound in der populären Musik
Zum besseren Verständnis der Problemstellung sind aber zunächst ein paar musikwissenschaftliche und medienkulturtheoretische Grundannahmen zu klären. Es ist wichtig zu verstehen, welchen entscheidenden Einfluss Audiotechnologien ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Entstehung der Popmusik und ihre Diskursivierung genommen haben.
Ohne elektronische Verstärkung, Mikrophon und Tonbandmaschine war und ist Popmusik kaum noch denkbar. Populäre Musikformen haben für sich quasi die Hinwendungen zum elektronischen Klang und Geräusch, die es musikgeschichtlich ja bereits bei John Cage, Edgar Varèse oder Karl-Heinz Stockhausen gab, als Existenzbedingung definiert. Durch die Elektrifizierung der Musik wurde ihr Sound zum bestimmenden Gestaltungselement.
Daher erscheinen musikästhetische Zugänge, die Medienbrüche unreflektiert lassen, in diesem Zusammenhang auch wenig produktiv. Denn fragt man heute die Besucher eines Raves oder EDM-Festivals etwa nach musikästhetischen Spannungs- und Lösungsempfindungen, denken die vermutlich eher an Breaks und Beat-Drops und nicht an Tonverbindungen. Doch hat es fast bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts gedauert, bis dieses methodologische Problem wirklich angegangen wurde.
Was hier nun anklingt, schließt die unterschiedlichen Entwicklungslinien der historischen Musikwissenschaft mit dem kurz, was Rolf Großmann als »verschlafenen Medienwandel« (Großmann 2008, S. 6) bezeichnet hat. Dabei geht es um eine Reihe kritischer Positionen musikwissenschaftlicher Methoden aus einer medientheoretischen Perspektive. Bereits Peter Wicke befeuerte einen »epistemischen Bruch mit den musikwissenschaftlichen Paradigmen« (Wicke 2003, S. 12). Gemeint ist damit vor allem der Bruch mit Analyseverfahren, die auf Basis von Notentext operieren.
Dieser kritischen Haltung geht zum einen die Erkenntnis Wolfgang Scherers voraus, der den Sound der populären Musik als das begreift, was am »Rande der [Noten]Schrift« (Scherer 1982, S. 142) hörbar wird. Durch den Medienphilosophen Friedrich Kittler erfährt diese Einsicht zum anderen eine medientechnische Wendung. Demnach sei »Sound das Unaufschreibbare der Musik und unmittelbar ihre Technik« (Kittler 1993, S. 133).
Das Klanggeschehen der Popmusik ist also Medienmusik. Eine Denkfigur, die für Großmann vor allem mit Blick die Figur des DJs, aber auch für Techno im Allgemeinen evident erscheint: »Wenn also auch die Medien, ihre Apparate und ihre Nutzungsweisen zur Konfiguration der Elemente des musikalisch-ästhetischen Prozesses gehören, ist zu erwarten, dass ihre Integration in ein Theoriekonzept wesentliches zum Verständnis der Gestalten und Formen, zu Komposition und kompositorischem Material beiträgt.« (Großmann 2008, S. 6 f.)
So lässt sich die Geschichte der populären Musik auch als eine Entwicklungsgeschichte ihrer Produktionsmedien und Apparate lesen. Und diese Entwicklung schreitet unaufhörlich fort, sodass Sampler, Sequenzer, Autotune, Programmierumgebungen und mittlerweile auch KI-Systeme, Audiotechnologien wie Tonbandmaschinen oder Mischpulte als nahezu antiquiert erscheinen lassen. Eine Popmusikanalyse, die das ganze Klanggeschehen berücksichtigt, muss also Medienanalyse, muss auch Soundanalyse sein: Denn, so die Musik- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Binas-Preisendörfer: »Ohne ihren spezifischen Sound – das Klanggeschehen – bleiben Songs oder Tracks letztlich bedeutungslos.« (Binas-Preisendörfer 2008, S. 10)
Meute: Klangmaterial und musikalische Struktur
Sound ist einerseits zu einem populären Universalbegriff geworden, der vom musikalischen Stil einer Band bis hin zum Eigenklang elektronischer Audiomedien nahezu alles beschreiben möchte. Andererseits ist Sound aber ganz konkret auch zur Bezeichnung einer Differenz geworden, mit dessen Hilfe man in den Sound Studies eine Abgrenzung zur klassischen Musikästhetik vollziehen will. Man will, vor allem mit Blick auf die neueren popmusikalischen Formen, eben weg von der Notentextanalyse, hin zu einem medialen Verständnis des Maschinensounds.
Meute – aber auch ähnliche Musikprojekte, wie etwa das Hypnotic Brass Ensemble oder Brandt Brauer Frick – fordert wiederum diese Perspektive heraus. Denn der analoge Meute-Sound funktioniert offensichtlich durch die Adaption der musikalischen Struktur von Technotracks und EDM. Hierbei geht es nicht um Maschinenästhetik, um synthetische Texturen, subsonische Bässe, digitale Präzision und raumgreifende Effekte. Davon zeugen etwa auch die zahlreichen Kommentare unter den Videoclips der Band: »Who said Electronic House Music had to be Electronic?«, fragt ein User zur Meute-Version des Deep House-Tracks »Rej«.
Die Musik von Meute funktioniert scheinbar vor allem durch die musikalische Organisation, auf der (nichtelektronischen) Basis spezifisch ›technoider‹, musiktheoretischer Marker, wie Melodien, Harmonien und Rhythmen. Ein anderer kommentiert dies sehr detailliert im Zusammenhang mit der Coverversion eines Songs des kanadischen Musikproduzenten Deadmau5:
»As a long-time Deadmau5 fan, I would rank Slip near the top among my favourite of his tracks. But this is even better than the original. For starters, I never knew how much I needed a Saxophone solo during those Suspended Chords in the 2nd Build. It’s also a much more impressive feat to play the Syncopated Ostinato on Analogue Instruments, especially when there is no beat to which to anchor yourself (Marimba), or when you have multiple instrumentalists playing it together in perfect synchronicity. The whole song comes together so beautifully in this version.The fact that this video has received more views than the original Deadmau5 track is well deserved in my opinion.« [sic!]
Betont wird hier auch die körperliche Spielweise von Techno, die in ihrer Präzession wieder die menschliche Leistungsfähigkeit und die technischen Fähigkeiten hervorhebt. Eine Form der Bewunderung, die einem in der Musik schon oft bei Virtuosen begegnet ist. Doch funktioniert der spezifisch elektronische Sound von Techno bekanntlich ja auch als subkulturelles Zeichen, das eine Verbindung zu bestimmten Orten und Räumen, Praktiken und Gemeinschaften herstellt. Auch dies scheinen Meute nach der Meinung eines Kommentars zu unterwandern: »This could easily played at a techno club, the crowd wouldn’t even miss the electronic beats!«
In der Wahrnehmung mancher Fans enterben die Remakes des Brassensembles Techno quasi seiner Identität. Und das spitzt sich noch weiter zu: Aus eigenen Gesprächen mit Personen, die im Übrigen nicht mit Techno sozialisiert wurden, ging sogar hervor, dass manche behaupten, Techno erst durch Meute verstanden zu haben. Der ursprünglich elektronische Sound von Techno bot ihnen offensichtlich keinen Zugang zur Musik. Erst durch die Remediatisierung des Sounds, die Übersetzung in ein vertraut analoges Klangbild und in die bekannten Muster musikalischer Liveperformance eröffnete sich für manche erst ein Verständnisraum für die musikalischen Strukturen von Technomusik: »I just want you to know, you opened up a whole new branch in my musical tree […] Your excellent covers led me to listen to the originals.«
Bis hierhin soll die Argumentationslinie allerdings nicht den Eindruck vermitteln, die Musik von Meute und Techno in eine große Differenzlosigkeit aufgehen zu lassen. Auch wenn manche Fans das gerne so hören wollen, ist es so einfach nicht. Dass es signifikante Unterschiede gibt, muss hier nicht breit ausgeführt werden. Es sollte klar sein, dass Meute als klassische Marchingband vor allem die Straße als Inszenierungsraum nutzt. Davon zeugen auch viele ihrer Musikvideos. Lässt man Sonderveranstaltungen wie die Loveparade mal außen vor, bleibt Techno doch eher ein genuines Club-Phänomen. Ebenso gibt es bestimmte Merkmale der digital-technoiden Klangästhetik, die mit analogen Instrumenten nicht nachgebildet werden können: Dazu gehören etwa die Subfrequenzen, die Effektmodulationen oder die komplexen Hallräume. Meute verlagert Techno aus seinem ursprünglichen elektronischen Kontext in eine körperliche, handgemachte, sichtbare Performance. Dadurch verändert sich auch die Rezeption. Denn irgendwann geht jeder Blaskapelle sprichwörtlich die Luft aus, während auf Raves die Soundmaschinen hochfrequentiert weiter feuern und ihr Publikum nahezu tagelang in Ekstase versetzen. Was aus der Gegenüberstellung dennoch hervorgeht und unterm Strich bleibt, ist, dass die musikalische Struktur in populären Musikformen wohl doch mehr Bedeutung besitzt, als man es in den Sound Studies manchmal hören möchte.
Techno transmedial
Meute reflektieren aber nicht nur die musikalischen Formen von Techno, sondern auch dessen Soundästhetik. Einerseits funktioniert ihre Übersetzung der Klanglichkeit deshalb so gut, weil die Instrumentierung sich stark am Originalklang orientiert. Der Drumsound z.B. wird direkt übersetzt: Bassdrum bleibt Bassdrum, Snare bleibt Snare, Hi-Hats, Shaker und Cymbals ebenso. Die perkussiven Synthesizermelodien werden von klanglich ähnlichen Stabspielen, wie etwa dem Marimbaphon, übernommen. Die knarzenden Bässe wiederum können von einer Tuba oder (Bass)Saxophone hervorragend nachempfunden werden.
Andererseits enthält die Auswahl der Stücke bereits Bläsersätze im Original, wie etwa bei »Slip« von Deadmau5 oder »You & Me« von Flume. Die Soundstruktur des referierten Klangsystems ist im direkten Vergleich dem Eigenklang des Brassensembles damit sehr ähnlich. Daher lässt sich ganz im Sinne Niklas Luhmanns die Klanglichkeit von Techno aus einer zweiten Beobachtungsordnung her begreifen (vgl. Luhmann 1997, S. 92 ff.). Und das reaktiviert, wenn man so möchte, auch wieder einen medientechnischen Soundbegriff. Denn in der Mimesis wird der Techno-Brass von Meute als (synthetischer) Sound zweiter Ordnung erfahrbar.
Vice versa kann man Meute als Phänomen eben auch nur verstehen, weil es Techno gibt – weil ein Maschinensound als Referenzsystem, aber auch weil eine von Maschinen generierte musikalische (sequentielle, repetitive) Struktur (pre-)existiert. Diese musikalische Struktur, bzw. der Inhalt, wird aber durch den Medienwechsel keineswegs bedeutungslos. Er erscheint vielmehr in einer transmedialen Form, emanzipiert sich vom Ursprungsmedium und erlaubt neue (techno-ästhetische) Wahrnehmungsweisen.
Es erscheint daher nur als logische Konsequenz, dass Meute erst kürzlich für den House-Track »Raiva« des Elektroproduzenten Trikk eine Bläsersequenz beigesteuert haben. Medienwechsel geschehen in einer transmedialen Welt eben nicht nur in eine Richtung, sondern ständig und multidirektional. Meutes soundästhetische Kommentare zur Technomusik werden damit in ihr konventionell elektronisches Konzept re-integriert. Dadurch entstehen wiederum neue ästhetische Verknüpfungen und auch Sinnzusammenhänge.
Popmusikalische Inhalte (Noten, Töne und Melodien) sind dadurch jedoch nicht beliebig. Sie sind soundästhetisch vielleicht variabel und wandelbar, aber da sie in klanglichen und sozialen Kontexten verwoben sind, nie bedeutungslos. Meute und ihre Rezeption führen den Beweis an, dass technoide Musik auch im Klangmedium einer Marschkapelle funktioniert. Ein User erkennt bei Meute daher eine ganz eigene (pop-)kulturelle Beziehungsebene: »techno and marching… more german is not possible xD«.
Literatur
Binas-Preisendörfer, Susanne: Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherung an einen populären Begriff. In: PopScriptum 10 – Das Sonische. Sounds zwischen Akustik und Ästhetik. Schriftenreihe herausgegeben vom Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin 2008, S. 1–15.
Großmann, Rolf: Verschlafener Medienwandel. Das Dispositiv als musikwissenschaftliches Theoriemodell, in: Positionen – Beiträge zur Neuen Musik, Ausgabe 74: Dispositv(e), Berlin 2008, S. 6–9.
Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993.
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997.
Scherer, Wolfgang: Zur Strategie der Diskurse über Musik – Delirien, in: Rudolf Heinz, Georg Christoph Tholen (Hrsg.): Schizo-Schleichwege. Beiträge zum Anti-Ödipus, Bielefeld 1982, S. 142–162.
Wicke, Peter: Popmusik in der Analyse. 2003. (http://www2.hu-berlin.de/fpm/texte/Analyse.htm).