Der neue Realismus in einer komplexer werdenden Welt
Realismus und Lebensvollzug – Die Behauptung einer tatsächlichen Wirklichkeit ist eine Sache der Praxis.
(Jörg Wurzer: Realität und virtuelle Welten – Philosophie für eine High-Tech-Gesellschaft, Essen 1997, S. 114)
Von Zeit zu Zeit sind stark besetzte Begriffe ein ideales Einfallstor für Erklärungen, denn wenn das zu erklärende Wort fällt, weiß gleich jede Person, um was es geht. Das war lange Zeit auch bei der Science-Fiction-Literatur so. Peter Domagalskis Einführung in die Trivialliteratur weiß im Jahr 1981 folgendes:
„Weniger noch als die anderen Genres läßt sich das, was als Science-fiction[1] bezeichnet wird, auf konstante Merkmale zurückführen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in unterschiedlichen Gegenstandsbestimmungen und in unterschiedlichen historischen Herleitungen.“ (S. 53)
Die Themenvielfalt macht das Genre für eine poptheoretische Diskussion interessant. Domagalski führt unter anderem die Angst vor einem Atomkrieg, Gestaltungen des Überbevölkerungsproblems, die Risiken der Weltraumforschung und die Prognostik an. Inzwischen hat sich die Science Fiction auch durch eine Verjüngung ihrer Autor*innen in ihrer thematischen Ausrichtung verändert. Aber die alten Themen schwingen immer wieder mit bzw. werden neu interpretiert.
Bereits in den 60er Jahren schrieb Leslie Fiedler in seinem Essay „Das Zeitalter der neuen Literatur“ über Science Fiction, Krimis und Pornographie als lohnenswerte Untersuchungsgegenstände. Fiedlers Beobachtung trifft auf Science-Fiction-Literatur zu, heute mehr denn je. In der Science Fiction vollzieht sich seit einigen Jahren ein umfassender Wandlungsprozess – die Parameter werden neu eingestellt. Das führt zu teils abenteuerlichen Genre-Bezeichnungen, um die Bücher an ein möglichst breites Publikum vermarkten zu können. Ein beliebtes Etikett ist hierbei zum Beispiel „Wissenschaftsthriller“.
Bei renommierten Verlagshäusern erscheinen Werke von Autoren und Autorinnen wie Emma Braslavsky, Dietmar Dath, Rudi Nuss oder Leif Randt, die sich mit Fragen der Technologisierung, der Robotisierung und Zukunft auseinandersetzen. Diese Fragen sind ab den 60er Jahren so stark von der Genreliteratur Science Fiction besetzt worden, dass ein Aufgreifen dieser Motive in den eigenen Romanen unweigerlich eine Zuordnung zum Genre möglich machte. Immer hängt das auch von der Selbsteinschätzung der Autor*innen ab. Juli Zeh etwa wurde mit ihrem Werk „Corpus Delicti“ (2009) für den renommierten Kurd-Laßwitz-Preis nominiert, der sich eindeutig als Auszeichnung für SF-Schaffende versteht. Als sie von der Nominierung unterrichtet wurde, lehnte sie diese ab. In ihrem Roman schildert sie eine Gesundheitsdiktatur in der nahen Zukunft. Eine Zuordnung zum Genre wäre durchaus möglich. Ihre Ablehnung hat in SF-Kreisen zu einer Diskussion geführt, wer und wie zur Science-Fiction-Literatur gehört.
Das alte Image
Die feste Zuordnung zu einer Schublade widerspricht einem künstlerischen Selbstanspruch, einen eigenen Stil, einen eigenen Zugriff oder eine innere Stimme zu entwickeln. Der Gedanke, sich vor der Niederschrift eines Werkes an einen Zettelkasten zu begeben und dort die notwendigen Zutaten herauszuziehen, versetzt Autorinnen in Angst und Schrecken. Zurecht, denn die plakative Außendarstellung der Science-Fiction-Literatur macht sie zwar für eine Analyse attraktiv, aber schneidet sie zugleich von einer „seriösen“ Anerkennung ab. Das Attribut „seriös“ verweist hier auf Kanonisierungsprozesse, das heißt: Wer liest diese Werke, wer beschäftigt sich mit den Themen dieser ideengeschichtlich gebundenen Literatur?
Nach dem zweiten Weltkrieg formierte sich in der Bundesrepublik eine Science-Fiction-Szene, die sich stark von den angloamerikanischen Vorbildern inspirieren ließ. Eine der ersten bundesdeutschen SF-Autoren, Herbert W. Franke, verneinte jedoch diesen Einfluss bei einem TELEPOLIS-Interview:
„Also, als ich zu schreiben begann, war ich kaum von der amerikanischen Literatur beeinflusst. Das kam erst später. Zum einen bin ich von der klassischen deutschen Science Fiction à la Hans Dominik, andererseits aber auch von der Fantastik beeinflusst. Mit Fantastik meine ich Kafka und Co., also die Prager Fantasten. Ich bin mit dieser Literatur in einer Zeit zusammengekommen, wo es eigentlich verboten war, diese zu lesen. Ich ging mit meiner Mutter zu einem bestimmten Bibliothekar, der mir Nachschub lieferte. Er öffnete dann die hinteren Reihen und hat mir die Fantasten gereicht. Leo Perutz war ein ganz besonderer Liebling von mir. Bei Perutz schätze ich seine Mischung aus Fantastik und logischer Kombinationsgabe. Das sind für mich wichtige zwei Punkte: Das Fantastische der Fantasten einerseits, aber mit einer rationalen Erklärung wie in der deutschen Zukunftsliteratur. Das war das, was ich machen wollte. Die Amerikaner haben das ohnehin schon gemacht.“
Die Herrschaft des Nationalsozialismus hatte den Strom phantastischer Literatur (nicht nur) im deutschsprachigen Raum empfindlich gestört. Nach dem Krieg lag auch die Science-Fiction-Literatur, die sich im 19. Jahrhundert herausgeformt hatte, in Trümmern. Der dieses Jahr verstorbene Sachbuchautor Hans Frey forschte ausführlich zu den (Wieder-)Anfängen der Science Fiction in der BRD und DDR. Dazu publizierte er beim Memoranda Verlag mehrere einschlägige Sachbücher. Seit diesem Wiederaufbau ist die Science-Fiction-Literatur einen weiten Weg gegangen. Ab den 60er Jahren wurde die SF-Literatur zur Massenware. Es gab viele Wiederholungen, die jedoch auch zur Selbstvergewisserung einer Literatur am Rande dienten. Teils bauten sich hier eine inhaltliche und graphische Identität auf, die zu einer Art self-fulfilling prophecy wurden: Wir behandeln Randthemen, daher befinden wir uns am Rande und wir werden auch so wahrgenommen. Nicht von ungefähr ordnet Fiedler die Science Fiction in seine Studien zur Popkultur ein. Viele SF-Werke zeigen sich in untypischen Umfeldern. Untypisch für den SF-Kontext, das heißt, es handelt sich nicht um Verleger, die sich auf Fanliteratur oder Nerd- beziehungsweise Insider-Wissen stützen, sondern die sich diesem in die Jahre gekommenen Phänomen auf neue Weise nähern (möchten).
Das Widersprüchliche bei früher Science Fiction in den 50er und 60er Jahren, dass eine Literatur, die in den Weltraum reist oder Dinge und Bewegungen andenkt, die in der Zukunft liegen, konventionellen Regeln folgt, verfolgt diese Art von Literatur immer noch. Das Genre löst sich fortwährend aus alten Stereotypen. Heute spielen zahlreiche Filme in diesem Genre eine zusätzliche wichtige Rolle bei der Einordnung dieser Art von künstlerischer Stellungnahme auf eine zunehmend komplexer werdende Welt. In diesem Text soll jedoch allein auf die Veränderungen in der Science-Fiction-Literatur eingegangen werden.
Die zeitgenössische Science Fiction sucht sich neue Orte – sucht sich neue intelligente Bewegungsformen. Was heißt das? Hat sich die Science Fiction früher für abenteuerliche Stoffe interessiert, so justiert sich die Science Fiction heute enger an einem harten Wissenschaftsbegriff (Dietmar Dath geht darauf in enzyklopädistischer Opulenz auf diese Entwicklungen in seinem Mammutwerk zur Geschichte der Science-Fiction-Literatur ein. Er geht auf vielfältige Aspekte der SF-Literatur ein, arbeitet seinen eigenen Zugang an zahlreichen Beispielen ab.). Gleichzeitig wird dieser naturwissenschaftliche Background durch spekulative Elemente gegengezeichnet. Es gibt einige paratextuelle Hinweise, das heißt, im Artwork der Titelseiten finden sich diverse bildliche Elemente, die auf eine Science Fiction (im konventionellen Sinn) schließen lassen.

Michael Blümel: „Zufluchtsort, verlassen, beinahe“ (Zu Stanislaw Lems „Der futurologische Kongreß“), 2020.
Ein Weltraumhimmel, vor dem mehr oder minder realistisch Planeten abgebildet sind, im hinteren Eck des Bildes fliegt ein Raumschiff vom Betrachter weg. Zwischen den Cover-Deckeln finden die Leser*innen konventionelle Abenteuergeschichten. Aber von diesem oberflächlichen Eindruck sollte man sich nicht täuschen lassen. In vielen SF-Geschichten schlummern heute aktuelle Themen, die damals in noch anderer Plot-Setzung und Sprache ausgedrückt wurden.[2]
Der Umgang mit Zeit und Ereignishorizonten prägt dieses Genre zunehmend; langsam befreit sich jedoch das Genre von den starken Erwartungen, auf vielfältige Weise: Das Verschwimmen von Grenzen zwischen Realität und Fiktion oder genauer: zwischen Realität und virtueller Realität wurde bereits vor zwei Dekaden durch Tad Williams‘ „Otherland“-Buchreihe (1996-2001) angedacht. Ein weiteres Beispiel aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum wäre Neal Stephenson mit seinem Roman „Snow Crash“ (1992), der für das Cyberpunk-Subgenre sehr wichtig gewesen ist.
„Grundlegende Elemente der Cyberpunk-Literatur, wie eine zunehmende Verschmelzung von Mensch und Maschine, das Leiden des Individuums in einer fragmentisierten Welt und Tabubrüche, finden sich bereits in Werken der New Wave wieder. Zwar wird sich in der New Wave mit derartigen Thematiken auf eine ganz andere Art und Weise auseinandergesetzt, dennoch ist die New Wave aufgrund ihres dezidierten Avantgardecharakters als direkter Vorläufer der Movement-Bewegung zu verstehen.“ (Gözen 2012: 141)
Unter Movement versteht Gözen eine Gruppe von Cyberpunk-Autoren, die sich von den Vorgängern bewusst unterschieden. Der Cyberpunk befriedigt hierbei die Wünsche und Sorgen von Leser*innen in den 80er Jahren: Die Zuspitzung des Kalten Krieges und die anschließende Entspannung bis zur Auflösung der UdSSR und der Wiedervereinigung der DDR mit der BRD förderte einen eher negativen Blick auf das Weltgeschehen. Im Cyberpunk wurde die eiserne Atmosphäre eines konservativen politischen Backlashes durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher in eine letztlich doch cool-subversive Großstadtstimmung umgemünzt.
Das Genre konnte mit Brian Aldiss‘ Worten bis zuletzt gut mit der Beschreibung „Sie handelt von weit entfernten Dingen!“ klassifiziert werden – inzwischen ist die beschriebene Realität jedoch sehr nah gekommen. Sie überrascht uns in der Gegenwart, sie vergegenwärtigt den technologischen Fortschritt und die gesellschaftlichen Defizite. Letzteres erfährt in den letzten Jahren einen Gegenstrom. Die endlose Wiederholung eines SF-Szenarios als dystopische Zukunft verliert an Attraktivität für Autor*innen aus dem Genre. Stattdessen versuchen Autorinnen wie Theresa Hannig etwa, utopische oder zumindest positivere Entwürfe zu verfassen. Aufgrund der historischen Zäsuren und einer unterschwelligen Postmoderne-Diskussion auch in der Genre-Literatur ist ein solcher Versuch nicht einfach.
Hannig hat mit „Pantopia“ eine Utopie vorgelegt, die jedoch nicht blauäugig wirkt. Eine KI reguliert das Zusammenleben. Science-Fiction-Literatur verarbeitet nicht nur die Komplexität der Welt, sondern konfrontiert die Leser*innen regelmäßig mit Komplexen, das heißt: Zuspitzungen und Problematisierungen von gegenwärtigen Entwicklungen. Früher wurden diese meist im technologischen Bereich lokalisiert – spätestens seit den 60er Jahren hat die sogenannte New Wave der SF-Literatur auch soziale Konflikte in die Plots integriert. Die Science Fiction ist sehr eng an die Gegenwart gebunden. Dieses Pendeln zwischen einer noch nicht vorhandenen Wirklichkeit und einer in der Gegenwart bereits enthaltenen Zukunft zeichnet die besondere spekulative Kraft dieser Literatur aus.
Jiré Emine Gözen beschreibt in ihrer Monographie zum Cyberpunk treffend, wie sich die SF-Literatur einer eindeutigen Definition entwindet:
„Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Definition der Science Fiction als literarische Gattung aufgrund ihrer Heterogenität sehr schwierig ist. Aus diesem Grund muss bei dem Versuch einer Bestimmung mit dem Anspruch auf Eindeutigkeit und einer Definition im herkömmlichen Sinn gebrochen werden und stattdessen das zuvor herausgearbeitete Charakteristikum der Unschärfe berücksichtigt werden.“ (Gözen 2012: 123)
Die Science-Fiction-Literatur verändert sich mit der verändernden Gegenwart – die angesprochene Wirklichkeit, die sich immer schneller wandelt, deren Themen aus der Genre-Ecke in die Präsenz des politischen Diskurses, aber auch in unseren Alltag wandern – und macht sich auf die Suche nach neuen Themen, die sie besetzen kann. So trifft sie auf Autor*innen, die nicht unbedingt eine Lesesozialisation in der Science Fiction hinter sich haben. Dazu gehört Olga Ravn, die beim März Verlag eines der besten SF-Werke des Jahres 2022 veröffentlicht hatt: „Die Angestellten“. Sie berichtet darin über die Ununterscheidbarkeit von Robotern und Menschen am Arbeitsplatz. Ravn schildert eine Arbeitswelt des 22. Jahrhunderts, und gerade die subtilen Unterschiede zu unserem 21. Jahrhundert verschaffen dem Roman einen Science-Fiction-Unterton.
In der Bestandsaufnahme gegenwärtiger Entwicklungen dürfen allerdings klassische Inhalte des Genres nicht ignoriert werden. So wird etwa szeneintern die Rückkehr der Space Opera als ernstzunehmendes Sub-Genre diskutiert. Space Opera als eine eher unterhaltende (daher das Determinans „Opera“) Abenteuergeschichte im Weltraum (Space). Die Naivität des Genres ist längst Vergangenheit – seit den bereits erwähnten Kontakten zur Avantgarde (wie William S. Burroughs, die New Wave, der Cyberpunk) in den 80er Jahren fallen Werke, die sich nicht ihrer eigenen Gattungsgeschichte stellen, durch das Raster und erfahren meist nur die Gunst eines eingeschworenen Fandom. Aus diesen Entwicklungen lassen sich teils auch die eher verkrampft wirkenden Apologien im Feuilleton besser verstehen, die versuchen, die Science Fiction aus der „Schmuddelecke“ zu hieven. Konsequenterweise erscheint Ravns Roman im wiederbelebten März Verlag, der mit Jörg Schröder bis in die 80er Jahre wichtige Impulse aus der Popliteratur, der APO, den Subkulturen und der Theorie publizierte. Auch der Essay ‚Die Zukunft des Romans‘ von William S. Burroughs erscheint beim März Verlag. Darin fordert Burroughs eine Veränderung der Schreibtechniken angesichts der Bedeutung der Raumfahrt.
„Meine Funktion als Schriftsteller ist die eines Kartographen, eines Erforschens neuer Bewußtseinslagen, oder – mit den Worten Alexander Trocchis – eines ‚Kosmonauten des Inneren Raumes‘, und ich sehe keinen Nutzen in der Beschäftigung mit Gebieten, die bereits vermessen & abgegrast sind“ (S. 147)
Burroughs führt die von Brion Gysin entwickelte cut-up-Methode an, mit der Texte auf unkonventionelle Weise entstehen können. Mehr noch als diese Schreibtechniken interessiert Burroughs‘ Bezug auf neue Bewusstseinsräume, die Kontextualisierung seiner Popliteratur in kosmische Bezüge. Die Auflösung eines monothematischen Ankers der Science-Fiction-Literatur schreitet voran und wird durch verschiedene Entwicklungen begünstigt. Nicht alle spielen sich im kulturell-literarischen Feld ab.
Die Science-Fiction-Literatur wird zur seriösen Spekulation[3]
Der Inhalt verändert sich über die Zeit, weshalb gerne die Science-Fiction-Literatur als Seismograph für Zeitenwenden herangezogen wird. Die Politologin Isabella Hermann spricht vom „Science-Fiction-Kontinuum“ (Hermann 2023: 14ff.). Damit meint sie ein Grundverständnis von SF-Inhalten in Literatur oder sagen wir von „science fictional content“, der sich also dem Genre annähert, ihm ähnlich oder zu einem vollwertigen Komplementär wird. Dieses SF-Kontinuum bewegt sich zwischen dem Möglichen und dem Realisierten.
Ein aktuelles Beispiel wäre der Roman „Gras“ (2024) des Berliner Autors Bernhard Kegel. Kegel arbeitet als Wissenschaftsjournalist und verfasst Sachbücher, etwa zu ausgestorbenen Spezies oder Epigenetik. In „Gras“ schildert er, wie sich die Natur die Metropole Berlin zurückerobert. Statt sich aber in vagen Erklärungsversuchen zu verlieren, sucht Kegel auch nach den Zwischenräumen, die eine Deutung zulassen, die nicht nur streng naturwissenschaftlich ist. Die Science-Fiction-Literatur reagiert auf veränderte Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit. Nicht nur Kegel, sondern auch andere Autoren mit starkem Wissenschaftsbezug bekennen, in der Science Fiction eine besondere Freiheit des Ausdrucks genießen zu können; ähnlich auch der Wissenschaftsjournalist Christian J. Meier, der im Interview ebenfalls in der Science Fiction ein ideales Feld für literarische Hochrechnungen findet.
Aber diese Literatur entsteht nicht im Vakuum. Eben weil es gesellschaftliche, technologische und wissenschaftliche Vorgänge in unserer Gegenwart gibt, verortet sich intelligente Science-Fiction-Literatur in diesem Diskurs. Hermann schreibt:
„Science-Fiction ist ein Kind der Moderne. Unter Moderne verstehe ich hier im landläufigen Sinn die Folgezeit der Industriellen Revolution seit dem 19. Jahrhundert mit ihrer tiefgreifenden Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Die Formierung des Genres ging Hand in Hand mit dem bis heute vorherrschenden Glauben an wissenschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Fortschritt sowie der daraus resultierenden Angst und Kritik (Steinmüller/Steinmüller 2021: 9-41). […]“
Neue Bewegungen entwickeln sich meist schleichend, so dass ein Zeitpunkt oder eine Jahreszahl kaum etwas über den Beginn eines neuen Selbst- und Fremdverständnisses aussagt. Die im Titel angesprochene „seriöse Spekulation“ wäre einen eigenen Artikel Wert. Ohne Spekulation wäre die Science Fiction als solche nicht erkennbar, doch äußern sich vermehrt Autor*innen aus dem Genre, sie schrieben eine Art von Realismus. Kim Stanley Robinson äußert sich etwa in diese Richtung in einem Video-Interview zu einem Berliner Festival:
„It’s become a realism. So I think that near future science fiction is a kind of realism and it should shoot at the target in order to hit, because it flies so fast. I’ve also thought about my near future science fiction as opposed to the far future stories that I sometimes tell, but the near future stuff is the best realism of our time. Not just me, but the whole genre of near future science fiction is a kind of realism. So to be realistic, you have to write about climate change.”
Das Nähe-Distanz-Verhältnis war für die Science Fiction schon immer eine wichtige Größe, über die sie sich lange bestimmt hat. Wie nah konnte ich der Gegenwart, der beschriebenen Zukunft oder der vorgestellten Fantasie kommen? Wirkt das aber nicht paradox? Wenn ich als SF-Autorin eine Wirklichkeit in der Fiktion beschreibe, bestimme ich doch selbst ihre Parameter? Nicht ganz, denn auch wenn ich die Schwerelosigkeit im Weltraum fiktional überwinde, müsste ich diese neuen physikalischen Parameter nachvollziehbar erklären. Science Fiction bedeutet eben nicht, völlig fantastische Zustände zu postulieren. Paradoxerweise öffnet sich die SF-Literatur – wahrscheinlich auch angesichts einer komplexer werdenden Außenwelt – Einflüssen aus einem spekulativen Grundgedanken. Das Wort ‚spekulativ‘ bezeichnet ein Diskursfeld, das sich freier als die genuine Science-Fiction-Literatur zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Wissenschaft, Theorie und Aktivismus bewegen. Die Abgrenzung ist nicht immer scharf. Jedoch spricht etwa Margaret Atwood immer wieder in Interviews oder Texten die Unterscheidung an:
„For me, the science fiction label belongs on books with things in them that we can’t yet do, such as going through a wormhole in space to another universe; and speculative fiction means a work that employs the means already to hand, such as DNA identification and credit cards, and that takes place on Planet Earth.“
Das Verhältnis zu den realisierbaren Dingen entscheidet nach Atwood über die Zugehörigkeit zur Science Fiction. Dinge, die bereits vor der Tür liegen, rücken anders in unser Bewusstsein als weit entfernte Geschehnisse und Gegenstände. Die zeitgenössische Science-Fiction-Literatur jedoch kennt noch einen dritten Weg: ein subkutaner Zugang zum SF-Pool. Heutige Autor*innen lesen die Klassiker, aber auch viele untypische Bücher zu Sachthemen, die allmählich neue Akzente in der Science Fiction setzen. Künstliche Intelligenz ist hierbei längst Mainstream geworden.
Science Fiction als Wahrnehmungsmodus in zeitgenössischen Werken
Die Zeit-Raum-Erfahrung wird neuerdings zu einem beliebten Spielfeld von SF-Autor*innen und auch jener, die nur Zaungäste des Genres sind. Emma Braslavsky etwa beschreibt in ihrem aktuellen Roman „Erdling“ (2023) eine Entführungsgeschichte um Sahra Wagenknecht, bevor diese politisch mit eigener Partei durchgestartet ist. Braslavsky durchschreitet in kurzen Kapiteln die Geschichte der deutschsprachigen phantastischen Literatur, setzt den für die Science Fiction wichtigen Topos der Zeitreise in einem übertragenen Sinne um. Auf der Suche nach der entführten Politikerin begibt sich die Privatdetektivin Emma Andreas durch verschiedene Epochen der Phantastik. In Dialogen wird diese Literaturgeschichte anschaulich präsentiert, das Genre in diesem Sinne ernstgenommen, dass keine Stereotypen eingesetzt werden, sondern die Grundlage dieser Art von Literatur entfaltet wird. Die Grundlage ist die Erforschung fremder Welten und Verhältnisse mit den Mitteln von Fiktion. Dass hierbei die Realität die fiktionalen Welten inzwischen einholt, entkräftet nicht das Grundversprechen solcher Literatur: Möglichkeitsräume zu eröffnen. In diesem Aspekt ähnelt sie einer Popliteratur, die Referenzen auf zeitgenössische Phänomene in ihren Texten aufgreift.

Michael Blümel: „Begegnungen“ (Zu Stanislaw Lems „Robotermärchen“), Linoldruck 2021.
Theresa Hannig, Aiki Mira und Zara Zerbe haben je auf ihre Weise Romane geschrieben, die den Science-Fiction-Wahrnehmungsmodus auf den Klimawandel lenken. Hannings Roman „Pantopia“ beginnt mit einer ausführlichen soziophilosophischen Reflexion zur Organisationsstruktur dieser zukünftigen Gesellschaft – statt sofort in die Handlung einzusteigen, schaltet Hannig eine theoretische Passage vor. Das Reflexionsniveau des Genres reagiert auf eine komplexer werdende Gegenwart. Diese Hypothese lässt sich nicht nur durch die genannten drei Romane belegen. „Pantopia“ (2022) erklärt das System, das der Roman ausführen und anhand von auftretenden Problemen prüfen wird. Science-Fiction-Literatur wird hier zu einem Testballon von gesellschaftlich-technologischen Entwicklungen. Das aktuelle Werk „Parts Per Trillion: Gewalt ist eine Option“ (2024) greift die Aussagen und Aktionen der Klimaaktivisten auf. Der Roman ist für das Genre erschreckend gegenwärtig – Hannig nennt zum Beispiel die Ampelregierung und das Veto-Verhalten der FDP, wenn es um wirklich klimaschonende Entscheidungen in der Koalition ging: „Tempolimit, Ausbau erneuerbarer Energien, Mobilitätswende, Klimasolidarität, Heizwende.“ (S. 25) Als Protagonistin wählt sie eine Autorin auf der Suche nach neuem Stoff. Das ist insofern interessant, als dass sie damit auch die Suche der Science Fiction nach neuen Stoffen in die Romanhandlung integriert.
Aiki Mira versucht ähnlich wie Hannig eine Utopie, genauer: „eine Endzeit-Utopie“, wie der Untertitel ihres neuen Romans „Proxi“ lautet, zu schreiben. Mira schildert drei Figuren auf der Suche nach der Sicherheitskopie einer virtuellen Realität, die ein erträgliches Leben erlaubt. Die Ambivalenz zwischen einer Welt, die dem Klimawandel ausgesetzt ist, und einer virtuell inszenierten Wirklichkeit bietet für die Autorx eine gute Möglichkeit, einen Spekulationsraum aufzumachen, der sowohl in die Zukunft wie in die Gegenwart verweist. Aiki Mira interessiert sich hier vor allem für die sozialen Konstellationen – immer auch in Wechselwirkung mit neuem technologischem Umfeld. Sie verweist darauf, dass sie „Post Climate Fiction“ schreibt; die Klimakatastrophe ist bereits da und mit dieser Realität müssen sich die Schreibenden anders auseinandersetzen.
Ähnlich verfolgt Zara Zerbe in ihrem Debütroman „Phytopia Plus“ (2024) die Auswirkungen technologischer Entwicklungen auf die sozialen Beziehungen zwischen den Protagonist*innen. In einer nahen Zukunft wird menschliches Bewusstsein von sterbenden Menschen auf Pflanzen übertragen. Zerbe greift hier einige Thesen des Trans- bzw. Posthumanismus auf. Ähnlich äußerte sich bereits der Technologiepionier Ray Kurtzweil. In Zerbes Roman bewegt sich jedoch die Technologie in einem Bedeutungsraum, der nicht eindeutig ist.
„‚Aber sag mal, wie findest du denn die Idee? Das Bewusstsein in Pflanzenzellen zu speichern? Auch wenn in der Zellvakuole so viel Verkehr ist?‘
Großvater schaut nachdenklich in der Gegend umher.
‚Schwierig‘, antwortet er nach einer Weile. ‚Wie gesagt, ich habe nicht verstanden, was dein Chef in der Sendung erzählt hat. So ein Bewusstsein braucht ja einen Körper, um überhaupt etwas wahrnehmen zu können. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass man das Bewusstsein aus dem Körper herausholen und in einen vollkommen anders ausgestatteten Organismus versetzen kann, und es dort weiterhin wie ein Bewusstsein funktioniert. Aber ich bin alt und habe wenig Ahnung.‘
Darüber hat Aylin bisher noch nicht nachgedacht. ‚Ich habe wirklich keinen Plan, ob die Pflanzen bei uns irgendwas wahrnehmen. Aber manche von ihnen bekommen interessante Blattmaserungen. Kann ich dir bei Gelegenheit zeigen.‘“ (S. 102-103)
Zerbes Roman ist insofern Science Fiction, als dass sie über noch nicht zur Gänze entwickelte Technologien, Datenflüsse und Bewusstseinsformen schreibt. „Phytopia Plus“ weist auch Passagen auf, die eher an phantastische Literatur erinnern, vor allem, wenn es um die Zäsur geht, die eine Unwirklichkeit beschreibt, die für die Leser*innen recht schnell deutlich macht, dass es sich hier nicht um unsere unmittelbare Gegenwart handelt. Das phantastische Element konkretisiert sich auch in der Perspektive der Pflanzen, die sich am Ende mancher Kapitel ‚äußern‘. Es finden sich zudem einige Hinweise auf das Cyberpunk-Genre, wie eine KI namens Bella, die die Arbeitsabläufe in der Pflanzenspeicher-Firma Drosera AG kontrolliert, wie auch junge Menschen, die Aylin über mehr oder weniger inoffizielle Kommunikationskanäle erreicht.
Diese Leute versuchen neben der computergesteuerten öffentlichen Ordnung ein „altes Leben“ zu regenerieren. Das Leben vor einer angedeuteten Klimakatastrophe und mit anderen Geräten als in der erzählten Gegenwart. Zerbe weitet das Gedankenspiel einer Kommunikation mit Pflanzen aus, führt dabei einige transhumanistische Annahmen ins Absurde, inspiriert zugleich in Solarpunk-Manier durch gewisse Do-It-Yourself-Praktiken ihrer Protagonist*innen. Solarpunk orientiert sich als SF-Subgenre anders als der Cyberpunk nicht an einer hochtechnologisierten dystopischen Wirklichkeit, sondern überlegt sich eine möglichst klimaschonende Technologisierung der urbanen Räume. Entsprechend stehen Pflanzenbeete auf den Dächern und Efeu bewächst die Häuserwände. Diese Bewegung in der Science Fiction hat sich zunächst in Lateinamerika entwickelt und beschränkt sich nicht allein auf (fiktionale) Literatur. Besonders die Machbarkeit der vorgestellten Konzepte in der Gegenwart rückt in den Fokus.
Bewegungen vom Kern weg oder zum Kern hin?
Das Genre entwickelt sich zunehmend aus der Nische heraus. Der SF-Autor und Theaterwissenschaftler Michael Wehren veröffentlichte im aktuellen „Das Science Fiction Jahr 2024“ (Hirnkost Verlag) ein umfangreiches Sammelinterview mit SF-Schaffenden, in dem er den aktuellen Schreibweisen und Dramaturgien in der SF-Literatur nachgeht. In dem langen Artikel zeigen sich einige gemeinsamen Nenner der ausgewählten deutschsprachigen Autor*innen: Die Themen ändern sich, auch das Schreiben darüber, und zwar, weil einige klassischen SF-Motive längst Realität geworden sind. In einem Interview mit Zara Zerbe taucht der Begriff „realistische Fantastik“ auf – das passt ziemlich gut.
Aufgrund einer komplexer werdenden Welt wird die Science Fiction zu einem positiv spekulativen Möglichkeitsraum, der Modelle ‚erproben‘ kann und zugleich ein popliterarisches Vergnügen an Fantasie und Fiktion zelebriert.[4] Eine Konfrontation der Umweltprobleme, der Klima- und Wirtschaftskrisen, des ausbrechenden Kulturkampfes, der Spaltung von Gesellschaften, des globalen Zuspruchs von autoritären Regierungen und Konflikten generell scheint nicht mehr unrealistisch zu sein. Ganz im Gegenteil bietet die zeitgenössische Science-Fiction-Literatur einen neuen Wahrnehmungsmodus, der statt der Krise und des Untergangs Utopien sieht. Ob sich diese Literatur auch an entsprechenden Stellen der Gesellschaft bewähren wird, muss sich noch zeigen. Ein Anfang ist jedenfalls schon gemacht.
Literatur
Braslavsky, Emma: Erdling, Berlin 2023: suhrkamp.
Burroughs, William S.: „Die Zukunft des Romans“. In: Anonym (Hg.): MÄRZ Texte 1. Trivialmythen, Augsburg 2004: März bei area, S. 147-149.
Domagalski, Peter: Trivialliteratur. Geschichte – Produktion – Rezeption, Freiburg im Breisgau 1981: Herder.
Frey, Hans: Vision und Verfall. Deutsche Science Fiction in der DDR, Berlin 2023: Memoranda.
Frey, Hans: Optimismus und Overkill. Deutsche Science Fiction in der jungen Bundesrepublik, Berlin 2021: Memoranda.
Gözen, Jiré Emine: Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie, Bielefeld 2012: transcript verlag.
Hannig, Theresa: Parts Per Million: Gewalt ist eine Option, Frankfurt am Main 2024: Fischer TOR.
Hannig, Theresa: Pantopia, Frankfurt am Main 2022: Fischer TOR.
Hermann, Isabella: Science-Fiction zur Einführung, Hamburg 2023: Junius.
Kegel, Bernhard: Gras, Zürich 2024: Dörlemann.
Mira, Aiki: Proxi. Eine Endzeit-Utopie, Frankfurt am Main 2024: Fischer TOR.
Ravn, Olga: Die Angestellten, Berlin 2022: März Verlag.
Stephenson, Neal: Snow Crash, Frankfurt am Main 2021: Fischer TOR. (Deutsche Erstausgabe: 1994).
Wehren, Michael: Neue Schreibweisen, andere Welten, viele Zukünfte. Ein Sammelinterview zu neuerer deutschsprachiger Science Fiction. In: Melanie Wylutzki und Hardy Kettlitz (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2024, Berlin 2024: Hirnkost, S. 293-324.
Williams, Tad: Otherland, Stuttgart ³2022: Klett-Cotta (US-Erstausgabe: 1996).
Zerbe, Zara: Phytopia Plus, Berlin 2024: Verbrecher Verlag.
Anmerkungen
[1] Science Fiction kennt verschiedene Schreibweisen. Mit Bindestrich wird es im Duden vorgeschlagen; ich bevorzuge hier die Schreibweise, wie sie auch in dem Jahrbuch Das Science Fiction Jahr verwendet wird, als Lehnwort aus der englischen Sprache, das aus zwei Komponenten besteht: Science steht für die (Natur-)Wissenschaften, Fiction für das spekulative, das literarische Element. Science hat sich seit den 60er Jahren begrifflich und inhaltlich längst den Humanwissenschaften geöffnet.
[2] Bereits in den 70er Jahren erschienen SF-Romane, die die reale Corona-Pandemie Jahrzehnte vorweggenommen hatten. Ein einfaches 1:1-Verhältnis lässt sich daraus trotzdem nicht ableiten.
[3] Seriöse Spekulation ist eine scheinbar widersprüchliche Begriffszusammenstellung, die ich aber als gewinnbringend für eine weitere Erforschung der gegenwärtigen und zukünftigen Science-Fiction-Literatur erachte. Zu dem Begriff sollen noch weitere Arbeiten entstehen, in denen die seriöse Spekulation detaillierter umrissen wird.
[4] Der Bochumer Literaturwissenschaftler Markus Tillmann untersucht in verschiedenen Projekten die zunehmende Komplexität unserer Realität. Besonders auch unter dem Vorzeichen der Virtualisierung. Zudem war er federführend bei der Tagung KlimaFiktionen 2024 im November 2024. Wie reagiert die Science Fiction, auch in Form der Klimaliteratur, auf gravierende Veränderungen in der Realität? Oder aber wie beeinflussen virtuelle Welten das Selbstverständnis der Science Fiction? Näheres hierzu auch unter: https://demokratischer-salon.de/beitrag/den-klimawandel-erzaehlen/?portfolioCats=115. Letzter Zugriff: 22.04.2025.