Wären die Jugendlichen doch bei den Wildschweinen geblieben
von Sebastian J. Moser
20.5.2025

Sozialfiguren bei Asterix

 

Asterix ist Kult. Seit Jahrzehnten wachsen Generationen in unterschiedlichsten Ländern mit dem kleinen, quirligen Gallier und seinem rundlichen Freund Obelix auf. Und, weil die Autorenteams nach dem Tod der Erfinder René Goscinny und Albert Uderzo dem Geist des Duos verpflichtet bleiben, ist ein Ende derzeit nicht in Sicht. Die Treue zu Goscinny und Uderzo zeigt sich zunächst darin, dass sich die Asterix-Bände durch eine eigentümliche Figurenkonstellation auszeichnen, die seit der Entstehung in den 1950er Jahren existiert und zahlreiche Bände – neben unterhaltsamen Produkten der Kulturindustrie – zu zeithistorischen Dokumenten werden lässt. Letzteres liegt, so die hier vertretene These, am regelmäßigen Rückgriff der Autoren auf Sozialfiguren, d.h. zeitgebundene Figuren, die bevorzugt in Krisenzeiten, in gesellschaftlichen Umbruchs- oder Zwischenzeiten auftreten und das, was argumentativ (noch) Unfassbar ist, in einer anschaulichen Art und Weise darstellen (Vgl. Moser/ Schlechtriemen 2018; 2024; Schlechtriemen 2023).

Die unterschiedlichen Figurentypen bei Asterix

Asterix, Obelix, Majestix oder Gutemine wurden von den Ursprungsautoren imaginiert; Goscinny und Uderzo gaben ihnen ihr Aussehen und ihre Namen. Bei diesen Figuren handelt es sich um fiktive Charaktere, die in unterschiedlicher Häufigkeit auftauchen. Die einen können in einem bestimmten Band im Mittelpunkt stehen, so wie der Barde Troubadix in „Asterix und die Normannen“ (1966) oder „Asterix im Morgenland“ (1987), während die anderen über den Status von Statisten nicht hinauskommen. Viele dieser Figuren verkörpern einen allgemeinen Typus, der nicht auf Asterixhefte beschränkt ist: Asterix ist ein Held.[1] Ähnliches gilt für viele andere Figuren, die als Helden und Heldinnen identifiziert werden können: in anderen Comics sind es z.B. Superman, Catwoman oder Lucky Luke. Denkt man an Literatur, so fallen einem vielleicht Don Quijote, Wilhelm Tell oder Scarlette O’Hara ein. Zu diesen allgemeinen Typen gesellen sich solche wie der Freund oder Gefährte in Form von Obelix. Die Figur „Lügfix“, der Wahrsager aus „Der Seher“ (1972) vereint solch allgemeine Typen wie den Fremden und den Bösewicht. Das Liebespaar ist ebenfalls eine Figur, der z.B. durch Grünix und Grienoline aus „Der große Graben“ (1980) Gestalt verliehen wird – wiederum eine Abwandlung der Romeo-und-Julia-Figuration – oder auch durch Falballa und Tragicomix, die zum ersten Mal in „Asterix als Legionär“ (1966) auftauchen und es sogar bis ins Kino geschafft haben.

Viele der auftauchenden Figuren lassen sich als Positionen innerhalb der arbeitsteilig organisierten Dorfgemeinschaft beschreiben: es gibt einen Chef, einen Druiden – eine Art Vorform des professionalisierten Arztes – es gibt verschiedene Händler, d.h. Anbieter von Waren sowie Künstler. Die römische Armee stellt eine spezifische gesellschaftliche Organisationsform mit eigenen Über- und Unterordnungsverhältnissen dar. Mit den jeweiligen Positionen sind bestimmte Erwartungen verknüpft, die bei Nicht-Einhaltung sanktioniert werden können. Dass diese Erwartungen immer wieder gebrochen und z.T. durch Fausthiebe sanktioniert werden, macht deutlich, dass es sich – soziologisch ausgedrückt – um TrägerInnen von sozialen Rollen handelt.

Des Weiteren werden in den Asterix-Bänden zwei unterschiedliche Typen von historischen Personen dargestellt: Zum einen sind da die karikierten Darstellungen von Personen, die historisch belegt, in der erzählten Zeit existiert haben wie z.B. Julius Caesar; dessen Adoptivsohn Brutus, der beispielsweise in „Asterix als Gladiator“ (1962), „Der Seher“ (1972) oder „Der Sohn des Asterix“ (1983) auftaucht, die ägyptische Königin Kleopatra oder gallisch-keltische Fürst Vercingétorix. Die Zuweisung zur jeweiligen Epoche ist vor einem geschichtswissenschaftlichen Hintergrund vielleicht nicht immer korrekt; aber darum geht es nicht.

Zum anderen gibt es immer wieder karikierte Darstellungen von öffentlichen Personen bzw. celebrities (Lilti 2014). In den ersten Bänden sind das französische Schauspieler, wie z.B. Robert Vattier, Fernand Charpin, Paul Dullac oder Raimu, der in „Die goldene Sichel“ (1960) als Restaurantbesitzer aus Marseille dargestellt wird. Raimu war vor allem in den 1930-40 Jahren bekannt und hat u.a. in der Marseiller Trilogie von Marcel Pagnol mitgespielt. In „Die Odyssee“ (1981) wird der französische Schauspieler Jean Gabin als Römer dargestellt. Der James Bond Darsteller Sean Connery leiht dem Geheimagenten Nullnullsix sein Antlitz. Bei den außerirdischen Superklonen in „Gallien in Gefahr“ (2005) handelt es sich um Karikaturen von Arnold Schwarzenegger. Dieses Beispiel ist deswegen interessant, weil es zeigt, dass auch die neuen Autoren dieses Strukturelement innerhalb der Asterix-Bände übernommen wurden.

Sozialfiguren bilden in gewisser Weise eine dritte, jedoch eigenständige Gruppe von Personen, die real existieren. Dabei handelt es sich nicht notwendigerweise um Berühmtheiten wie Schauspielerinnen, Sänger oder Politikerinnen. Auch lässt sich nicht ohne weiteres vermuten, dass sie in hunderten Jahren in Geschichtsbüchern auftauchen. Zwar ist es für eine Sozialfigur wichtig die Silhouette einer konkreten Person mit einem Namen, einem Geschlecht, einem Alter und einem Körper zu haben. Aber das ist nur wichtig, um eine spezifische Zeiterfahrung anschaulich und somit gesellschaftlich verhandelbar machen zu können (Vgl. Barker, Harms & Lindquist 2013: 161). Als menschliche Figuren weisen sie ein besonderes Identifikationspotential auf und überzeugen nicht nur diskursiv, sondern auch affektiv, d.h. sie ergreifen und fesseln die Menschen, lösen Emotionen aus, lassen die Gesellschaftsmitglieder nicht kalt.

Sozialfiguren zeichnen sich, im Gegensatz zu institutionalisierten Typisierungen, die wir im Alltag benutzen, um uns unsere Welt verständlich zu machen, durch eine spezifische Zeitgebundenheit aus. Sie betreten in unsicheren historischen Zwischenzeiten die gesellschaftliche Bühne. Zwar handelt es sich nicht notwendigerweise um Epochenbrüche, dafür aber um gesellschaftliche Krisenmomente, in denen bisher gültige Deutungen ins Wanken geraten, neue aber noch nicht etabliert sind. Sozialfiguren verdichten Zeiterfahrungen, sie verkörpern gesellschaftliche Erfahrungs- und Problemlagen und veranschaulichen, was Menschen im Alltag ‚unter den Nägeln‘ brennt. Und genau weil es sich um konkrete Personen handelt, wird es möglich – über Umwege sozusagen – im Alltag über gesellschaftliche Prozesse zu sprechen. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sozialfiguren geht es nicht um die Abbildung einer jeweils konkreten Persönlichkeit, sondern um die zugespitzte Darstellung gesellschaftlicher Problemlagen (Vgl. hierzu ausführlich: Moser/ Schlechtriemen 2018; 2022; 2024; Schlechtriemen 2023).

Sozialfiguren bei Asterix: Beispiele

Wer 2019 im Straßburger Bahnhofskiosk den neuen Band „La fille de Vercingétorix“ (Die Tochter des Vercingétorix) sah, musste augenblicklich an Greta Thunberg erinnert werden. Ein jugendliches Mädchen mit einem auffälligen, geflochtenen Zopf.

Beim Lesen des Heftes wurde klar, dass dieses Mädchen zudem in der Lage ist die Dorfjugend zu mobilisieren bzw. deren Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Die Ähnlichkeit zu Greta Thunberg, die Mitte 2018 das erste Mal in der Presse auftauchte und maßgeblich für die 2019 entstandene „Fridays of future“-Bewegung verantwortlich war, fiel auch anderen auf (Vgl. Gonzague 2019[2]; Douhaire-Kerdoncuff 2019[3]). Und selbst wenn Zeichner Didier Conrad angibt, er habe sich durch seine eigene Tochter inspirieren lassen, so ist es doch vor allem der Raum, den die Jugendlichen in diesem Band einnehmen und von ihnen geäußerte Kritik an den Gewohnheiten der Bewohner des gallischen Dorfes, die eine Verbindung zu der Jugendbewegung und damit zu Thunberg nahelegen.[4]

Anderen Sozialfiguren aus dem Asterix-Universum lassen sich schnell ausfindig machen: im Jahr 1991 erschien der Band „Asterix und Maestria“, im Jahr 2001 der Band „Asterix und Latraviata[5]: beide stehen für die veränderte Stellung der Frau in der Dorfgemeinschaft: es geht um die der Männerwelt gefährlich werden könnende Frau. Der Band „Der Seher“ (1972) wurde in einer Zeit veröffentlich, in der erfolgreiche Wahrsager wie Madame Soleil eigene Radionshows hatten (Vgl. Morin et al. 1981), außerdem in der Zeit des New Age und der Verbreitung esoterischer Sekten; ein und dieselbe Person wurde als „geistiger Führer“ gefeiert oder als Scharlatan gebrandmarkt.

Die Publikation von „Trabantenstadt“ (1971) fällt in eine Zeit, in der sich das Bild der französischen Innenstädte modernisiert und die Figur des privaten Bauträgers – dem promoteur immobilier privé – an Gewicht gewinnt. Während es Ende der 1950er Jahre, im Anschluss des Algerien-Kriegs, der staatlich geförderte Wohnungsbau war, der neue Viertel an den Rändern der großen Städte entstehen ließ (die sogenannten „cités“), bezogen sich Goscinny und Uderzo in der Trabantenstadt eher auf die Entstehung von modernen Luxuswohnungen ab Ende der 1960er Jahre.[6]

Historische Sozialfiguren

Die Auseinandersetzung mit historischen Sozialfiguren macht es in einem ersten Schritt nötig zu klären, ob die behandelte Figur tatsächlich in der Zeit der Publikation von einem besonderen Interesse war und präsent auftrat. Anders formuliert: wurde in der Zeit der Veröffentlichung an ihr etwas verhandelt, das die Gesellschaft umtrieb? Erste Hinweise wurden für einzelne Bände bereits gegeben. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, tiefer in den jeweiligen Band einzusteigen und einerseits die Beschreibungen der jeweiligen Sozialfigur soziologisch zu beschreiben (Sacks 1963; Smith 1979), andererseits aber auch die Reaktionen der übrigen Figuren auf die jeweilige Sozialfigur in den Blick zu nehmen, da diese eben nie isoliert auftreten.

Es ist sicherlich einleuchtend, dass eine solch detaillierte Auseinandersetzung im Rahmen dieses Artikels nicht für alle genannten Bände geleistet werden kann. Exemplarisch soll daher der 1966 veröffentlichte Band „Asterix und die Normannen“ betrachtet werden. Die Figur, die in diesem Band auftritt, ist Grautvornix, der Neffe von Majestix (franz. Goudurix = goût du risque = risikofreudig). In ihm verdichten sich spezifische gesellschaftliche Erfahrungen aus der Mitte der 1960er Jahre. Das ist zunächst nicht mehr als eine Behauptung, die sich auf einzelne äußere Merkmale gründet, die bereits auf dem Cover hervorstechen.

Obwohl Grautvornix ein Gallier ist, trägt er keinen Bart. Sowohl Asterix und Obelix tragen Schnurbärte und ein Blick ins Innere des Bandes zeigt, dass alle Männer des gallischen Dorfes Bartträger sind. Außerdem ist Grautvornix der Einzige der Gallier, der eine große, goldene Kette trägt. Die Kette ist deswegen auffällig, weil der Figur vor dem Hintergrund ihres sozialen Status eigentlich kein Schmuck zusteht. Er ist kein Häuptling oder ähnliches. Das Schmuckstück muss demnach auf irgendetwas verweisen (Vgl. Simmel, 2023: 114).

Des weiteren ist die Frisur von Grautvornix auffällig: die Auffälligkeit ist weniger der Länge der Haare geschuldet als vielmehr einer Strähne, die ein Auge fast permanent verdeckt. Wenn man das Erscheinungsjahr 1966 in Rechnung stellt, dann fallen einem vielleicht die Beatles ein, die in dieser Zeit ebenfalls anfingen, ihre Haare lang wachsen zu lassen und außerdem immer mehr Abstand von ihrem braven Auftreten in Anzügen nahmen. Die Kleidung der Beatles bekam eine „individuelle Besonderung“, wie es bei Simmel heißt. Gleiches ließe sich für Bands wie die Rolling Stones oder The Who zeigen.

Da man in Rechnung stellen muss, dass Goscinny und Uderzo über lange Zeit vor allem französische Referenzen verwendeten, ist es notwendig sich auf die Suche nach französischen Künstlern aus dieser Zeit zu begeben. Dabei stößt man recht schnell auf Michel Polnareff, der im Jahre 1966 seine Karriere begann und dem die Figur Grautvornix nachempfunden scheint: dafür sprechen zum einen die Haare, aber auch die Kette von Grautvornix. Obgleich die Kette kein Markenzeichen von Polnareff war, ist sie doch ganz deutlich bei einem seiner ersten TV-Auftritte – im Mai 1966 – zu sehen, ebenso auf dem Cover seiner ersten Single.

Wenn es sich tatsächlich um eine Karikatur von Polnareff handelt, dann zeigt das inwieweit Goscinny und Uderzo den Puls der Zeit verfolgten, welche Aufmerksamkeit sie dem zugestanden haben, was die Gesellschaft umtrieb. Dafür scheint das regelmäßige Auftauchen von Sozialfiguren in den Asterix-Bänden insgesamt zu sprechen.[7]

Wie schon im Falle von Greta Thunberg geht es jedoch nicht darum zu entscheiden, ob Uderzo tatsächlich Polnareff karikierte oder nicht. Grautvornix steht stellvertretend für eine Gruppe, die erst knapp drei Jahre vor der Veröffentlichung von „Asterix und die Normannen“ von der französischen Gesellschaft entdeckt wurde: die Jugendlichen (les adolecents) als eine eigenständige und ernstzunehmende neuen sozialen Klasse, wie es der Soziologe Edgar Morin damals formulierte (Morin 1965; 1966). Im französischen kollektiven Gedächtnis geht die Entdeckung auf ein von der Zeitschrift „Salut les copains“ (einer Art französischer Bravo) und diversen Radiosendern organsiertes Konzert Mitte Juni 1963 zurück, genannt „Nuit de la Nation“ (die Nacht der Nation). Die Behörden hatten mit etwa 35.000 Menschen gerechnet, gekommen waren schließlich über 150.000 Menschen, die auf Bäume und Dächer kletterten, um die Bühne erspähen zu können. Es handelte sich um das erste Massenevent dieser Art und wurde im Nachgang über mehrere Wochen in unterschiedlichsten Organen der Presse diskutiert.

Die Historikerin Florence Tamagne spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚moral panic‘ (2018), die sich an diesem Konzert entzündet habe. Von den einen wurden die Konzertbesucher als Strolche beschimpft, weil es zu kleineren Delikten kam. Das Konzert wurde als Ereignis eines kollektiven Wahns beschrieben, von einer „gefährlichen Jugend“ war die Rede und selbst Vergleiche mit der Hitler-Jugend wurden nicht gescheut. Demgegenüber stellte sich die Zeitschrift „Salut les copains“ auf die Seite der Jugendlichen und prangerte einen Generalverdacht an. Es war der bereits erwähnte Soziologe Edgar Morin, der in zwei aufeinanderfolgenden Tagen in der Zeitung Le monde von einer neuen sozialen Klasse (nouvelle classe d‘âge) sprach, die sich nicht durch den Zugang oder den Ausschluss von Produktionsmitteln definierte, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer Altersklasse. Morin gab dieser Gruppe einen Namen: die Yéyés.

Im Folgenden möchte ich zunächst herausarbeiten, wie die Sozialfigur dargestellt wird, d.h. welche „presentation of the self“ (Goffman) die Autoren ihr zugeschrieben haben: was tut sie, wie reagiert sie auf ihre Umwelt? Im Anschluss daran werden einige Passagen herausgegriffen, in denen andere Figuren des Bandes auf die durch Grautvornix verkörperte Sozialfigur reagieren, ihn beschreiben, über ihn urteilen usw.

Grautvornix als Verdichtung emotionaler Expressivität

Ein erster Blick auf das Cover von „Asterix und die Normannen“: Auf die lange Strähne und die Kette, mit der Grautvornix gegen gallische Konventionen des äußeren Erscheinungsbildes verstößt, wurde bereits hingewiesen. Aber sein weit aufgerissener Mund und das Geräusch, das dem Leser dadurch vermittelt werden soll, deutet auf ein Strukturmerkmal der Figur hin. Während Majestix zu Beginn des Bandes den Brief seines Bruders aus Lutetia liest, der den Neffen (Grautvornix) ankündigt, dringt lautes Getöse in die Hütte des Häuptlings. Nicht nur schreit, wie sich sehr schnell zeigt, der Neffe selbst („Attention“), sondern sein Verhalten lässt Dorfbewohner und Vieh aufschreien. Sein erster Auftritt erfolgt im Modus einer akustischen Störung. Die akustische Ordnung der Situation (Vgl. Vannini et al. 2010), in die der Leser bis dato versetzt wurde – Asterix und Obelix sind dabei mit Majestix im Inneren des Hauses über den Brief seines Bruders zu sprechen – wird durchbrochen und Grautvornix tritt lärmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Lärm und akustische Störungen sind ein regelmäßig wiederkehrendes Merkmal der Figur. Zunächst kommt es zu einem lautstarken Wutausbruch beim Tanzfest: Grautvornix springt mit errötetem Kopf auf und haut, als die Musik einsetzt, mit der Faust so fest auf den Tisch, dass das Trinkhorn neben ihm umfällt. Er brüllt, die Art zu tanzen sei etwas für „unsre Vorfahren“ – immerhin zeigt das Pronomen, dass er sich in die Gruppe der Gallier einschließt.[8] Die Musik, die er darbietet, nachdem er Troubadix die Harfe aus der Hand gerissen hat, zeichnet sich durch geschriene Worte aus, die keine Bedeutung haben.

Zum einen sind dies beides Situationen – also seine Ankunft und das Tanzfest – in denen er gegen die Normen der Gastfreundschaft verstößt und sich respektlos zeigt. Zum anderen aber ist Grautvornix im weiteren Verlauf des Bandes angetan, geradezu entzückt von der Musik und dem Gesang des Barden Troubadix; es handelt sich um die einzige Figur in Asterix-Bänden, die dessen Kunst tatsächlich zu schätzen weiß. Die Anspielung, er solle nach Lutetia kommen, wo man eher Stühle zerlege als die Sänger verhaue, ist eine Anspielung auf Ereignisse, die sich Anfang der 1960er Jahre bei einem Konzert des französischen Sängers Johnny Hallyday im Pariser Olympia zugetragen haben.

Doch zurück zum Lärm: Grauvornix fällt gleich zu Beginn durch Schreien bei seiner Ankunft auf. Auch seine gesangliche Darbietung zeichnet sich eher durch Geschrei, denn durch Gesang aus. Weiterhin fängt er augenblicklich an zu schreien, als er das Schiff der Normannen am Strand entdeckt; Asterix und Obelix hingegen bleiben ruhig. Nachdem Asterix seine Panik nicht nachvollziehen kann, rennt Grautvornix schreiend und hysterisch mit den Händen fuchtelnd ins gallische Dorf.

Die Lauthalsigkeit der Figur zieht sich wie ein roter Faden durch den Band. Er symbolisiert ein akustisches Rabaukentum, das besonders interessant wird, wenn man die Figur mit den abgebildeten Kindern im Band vergleicht. Direkt auf der ersten Seite sieht man einen kleinen Jungen, der brav und die Arme hinter dem Rücken verschränkt, hinter dem Postboten steht. Als Grautvornix vom Strand ins Dorf rennt, bringt er sogar einen kleinen Jungen zum Schweigen, der als ausgerüstete Krieger zu Pferde verkleidet ist. Kurz darauf, als Grautvornix auf einer Bühne steht und die Dorfbewohner vor den Normannen warnt, stehen zwei kleine Jungen mit hinter dem Rücken verschränkten Armen im Publikum und hören aufmerksam zu. Kinder, so scheint es, machen keine Probleme, sind folgsam, brav und hören aufmerksam zu. Das einzige Kind, das in dem Band seine Emotionen brüllend zum Ausdruck bringt, ist ein Baby in den Armen seiner Mutter, das auf dem Tanzfest im Hintergrund zu sehen ist.

Grautvornix ist kein Kind, sondern ein Jugendlicher. Das zeigt sich zum einen daran, dass ihm im Gegensatz zu allen anderen abgebildeten Galliern, der Bart fehlt. Außerdem schickt ihn der Vater, damit sein Onkel Majestix einen Mann aus ihm macht. Grautvornix untersteht damit der familiären Autorität. Das zeigt sich beispielsweise auch, als er den Onkel um Erlaubnis bitten muss, das Dorf verlassen zu dürfen. Ihm fehlt die Selbstständigkeit eines Erwachsenen.

Eben weil sich Grautvornix als Jugendlicher zwischen Kindheit und Erwachsenenalter bewegt, wird es möglich, ihn auch mit den Kindern im Band zu vergleichen. Sein Dazwischen wird an vielen Stellen evident: Als er beispielsweise versucht seinen Onkel von der Abreise zu überzeugen, weil ihm das Klima angeblich nicht bekomme, haben wir es mit einer unzulänglich vorgetragenen Lüge zu tun, die vom Erwachsenen sofort durchschaut wird. An einer anderen Stelle der Geschichte agiert Grautvornix unter der Prämisse der situational unangemessenen Einschätzung, er könne den Normannen durch das Schneiden von Grimassen Angst machen. Er kommentiert sein Scheitern wie folgt: „Wenn ich zu Hause meiner kleinen Schwester solche Fratzen schneide, hat sie immer schreckliche Angst.“ Grautvornix ist nicht in der Lage Erfahrungen aus einem spezifischen Kontext auf einen anderen zu übertragen, ähnlich wie Kinder unterstellen, bei sozialen Normen handele es sich um ein universelles Rezeptwissen.

Analytisch bietet das Dazwischen der Figur – nicht mehr Kind, aber noch nicht Erwachsener – sozusagen weitere Vergleichsmöglichkeiten. Die gallischen Kinder sind brav, leise bis unauffällig, gallische Jugendliche tauchen nur kurz in Form von jungen Frauen beim Tanzball auf. Ansonsten ist das Dorf frei von Jugendlichen.

Die jugendliche Zentralfigur, so kann man zusammenfassen, ist laut, lärmend, akustisch aufmüpfig und steht dadurch im radikalen Kontrast zur potenziellen Referenzgruppe der Kinder; nicht aber zum plärrenden, seine Emotionen nicht kontrollieren könnenden Baby. Die Figur Grautvornix zeichnet sich insgesamt durch eine Bandbreite unterschiedlichster Emotionen aus: das sich körperlich (aufgerichteter Körper, Beschauen der Fingernägel, nach oben gerichtete Nase, verschränkten Arme) und sprachlich ausdrückende selbstsichere, arrogante Auftreten bei seiner Ankunft (er bezeichnet die Dorfbewohner als Hinterwäldler oder Barbaren). Er zeigt zudem eine ‚Null-Bock-Attitüde‘, beispielsweise als er mit in den Taschen vergrabenen Händen hinter Asterix und Obelix zum Strand schleicht und ihr Wettrennen-Angebot verweigert. Oder aber seine Wutausbrüche. Des Weiteren seine Leichtsinnigkeit und Kopflosigkeit, also ein impulsives Verhalten, als er gegen Ende dem Normannen-Chef an den Hals springt. Im Vordergrund jedoch steht seine Angst. Es sind die Schweißausbrüche am Strand sowie in normannischer Gefangenschaft und die Transformation der Gesichtsfarbe in ein blass-käsiges Gelb, sein wiederkehrendes Zittern, Stottern und Fingernägelkauen.

Zeiterfahrung, die sich in Grautvornix verdichtet

Was die französische Gesellschaft bzw. die Nicht-Jugendlichen Mitte der 1960er Jahre umtreibt und somit eine geteilte Zeiterfahrungen darstellt, ist die expressive Emotionalität der Jugendlichen.[9] Die ältere Generation steht ihr mit ebenso viel Unverständnis gegenüber, wie Asterix Grautvornix auf dem Cover gegenübersteht. Die Jugend konfrontiert die Erwachsenenwelt mit unterschiedlichsten Emotionen, sowie mit der Unfähigkeit diese den geltenden sozialen Normen entsprechend zu kontrollieren – wie es beispielsweise auf Konzerten der Fall ist. Die Referenz, die zur Deutung dieser neuartigen Situation herangezogen wird – letztlich aber unzureichend bleiben muss, eben weil es sich um eine neue Situation handelt – ist das schreiende Baby.[10]

Deutungsmöglichkeiten für Emotionen fehlen der Gesellschaft der 1960er Jahre. Vor allem aber fehlt der Umgang mit Emotionen, die von Männern ausgedrückt werden. Die Väter waren z.T. traumatisiert aus dem 2. Weltkrieg zurückgekehrt, waren Mitglieder der Résistance und vertraten vor allem Werte wie Ehre und Verehrung der Nation. Noch dazu hatten viele der jungen französischen Männer den Krieg in Algerien mitgemacht. Gefühle wurden in dieser Gesellschaft nicht gezeigt. Daher fehlten Handlungsroutinen, um mit diesen umzugehen. Es ist nicht nur die Lautstärke der Musik, die die dominierende Erwachsenenwelt irritiert. Die Ruhe der prosperierenden französischen Nachkriegsgesellschaft wird in akustischer, aber vor allem in emotionaler Hinsicht gestört.

Dieses Unverständnis den Jugendlichen gegenüber geht vermutlich mit der Angst der Erwachsenen einher, die Jugendlichen könnten letztlich leicht beeinflussbar sein und zur Unterwürfigkeit unter falsche Autoritäten neigen. Grautvornix fragt beispielsweise den Normannen-Chef: „Soll ich mich Euch nicht lieber vor die Füße werfen?“ Allerdings geben Goscinny und Uderzo am Ende des Bandes Entwarnung. Dort heißt es: „Obelix hat die Erziehung von Grautvornix in die Hand genommen…“ Man könnte sagen, dass die Autoren in einem Moment der Unentschiedenheit die Hoffnung – oder die Angst? – äußern, die aus der Reihe tanzende Jugend werde sich schon wieder in den traditionellen Bahnen wiederfinden und zukünftig Wildschweine jagen.

Wie auf Grautvornix reagiert wird

Sozialfiguren treten nie allein auf, sondern befinden sich im Gefüge mit anderen, die von ihnen beeinflusst werden oder die auf die Sozialfigur reagieren. Genau deswegen soll es im Folgenden darum gehen, wie die übrigen Figuren mit Grautvornix umgehen. Da ist z.B. gleich nach seiner Ankunft Obelix, der ihm eine Tracht Prügel verpassen will. Diese angedrohten Prügel, die nur durch Asterix‘ Eingreifen verhindert werden können, sind vor allem als Erziehungsmaßnahme gedacht: lautstarken, arroganten Jugendlichen ist durch körperliche Züchtigung ihr Platz zuzuweisen. Man kann sich ja durchaus fragen, wie eine solche Prügel-Szene zwischen Obelix und Grautvornix, die wir eben nicht sehen, wohl ausgesehen hätte. Vermutlich eher wie das den-Hintern-versohlen-eines-Kinders, wie ein Übers-Knie-legen. Und interessanterweise stellt der 1962 von Goscinny und Morris herausgebrachte Lucky Luke-Band „Billy the Kid“ eine solche Szene auf dem Cover dar.[11]

Aufgrund des Ungleichverhältnisses zwischen den beiden hätten die Autoren nicht jene Darstellungsweise wählen können, wie sie vom Verhauen der Römer oder Piraten bekannt ist.   Als Grautvornix Majestix um die Einwilligung zur Abreise bittet, meint dieser mit erhobenem Finger, die gewalttätige Auseinandersetzung mit den Normannen könnte ihn von seiner Angst kurieren. Majestix positioniert sich als erfahrener, geradezu weiser Mann, der weiß, was Grautvornix braucht. Als sie kurz darauf am Wagen von Grautvornix stehen und diesen verabschieden, legt Majestix dem Neffen beide Hände auf die Schultern. Es entsteht das Bild des gutmütigen Onkels, der der Bitte des Neffen nachgegeben hat.

Ein Blick auf weitere Reaktionen der Dorfbewohner zeigt, dass diese durchweg ambivalent bis negativ sind: das anfängliche Wohlwollen von Asterix weicht schnell einer ziemlichen Gereiztheit vor und während des Tanzfestes. Asterix‘ innerliches Kochen-vor-Wut wird durch die herunterhängenden Federn an seinem Helm, den roten Kopf sowie die geriffelten Linien über seinem Kopf dargestellt. Interessant ist im Übrigen, dass der Normannenchef Maulaf auf Grautvornix ganz ähnlich reagiert: „Der macht mich noch wahnsinnig“.

Dann ist da noch Asterix‘ Blick mit heruntergezogenen Augenbrauen in Richtung Grautvornix während des Tanzfestes und der Verweis auf die Undankbarkeit für all das, was sie für ihn tun. Diese Undankbarkeit, die sich bei Grautvornix in seinem arroganten Auftreten zu Beginn zeigt, obgleich er herzlich begrüßt wird, die Undankbarkeit, die für die Leserschaft ebenfalls durch den neusten Sportwagen symbolisiert wird etc.: all das muss als eine Beschreibung der damals möglichen Reaktionen auf Jugendliche innerhalb der französischen Gesellschaft gelesen werden. Die Reaktionen der übrigen Figuren geben Strategien wieder, mit den emotionalen Reaktionen der Jugendlichen in dieser Zeit umzugehen: 1) Ruhe bewahren, selbst wenn man innerlich kocht; 2) körperliche Gewalt bzw. Züchtigung anwenden, d.h. mit Jugendlichen nicht anders umgehen als mit ungezogenen Kindern; 3) Mildtätigkeit zeigen und damit auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Dass die Emotionalität von Grautvornix für die übrigen Dorfbewohner, aber vor allem für die Normannen im Mittelpunkt steht, wird an mehreren Stellen im Band evident: Die Normannen wollen von ihm eine Emotion beigebracht bekommen: die Angst. Ihre normannische Reise ist eine Expedition zum Wissenserwerb, also eine Forschungsreise. Das ist aus folgendem Grund interessant: Für die Leserschaft stehen die Normannen und die Gallier, folgt man dem Elias’schen Fürwörtermodell, in einer Wir-Sie-Relation (Elias 1991); d.h. die Normannen sind eine Gruppe, von denen zumindest die französischen LeserInnen „Sie“ sagen würden. Die Gallier sind das Identifikationsobjekt und stehen stellvertretend für die französische Gesellschaft bzw. deren Vorfahren. Wenn es demnach gerade die Normannen und nicht die Gallier sind, die die Angst als eine zentrale Emotion erforschen wollen, könnte dies vielleicht eine mehr oder weniger subtile Kritik an der französischen Gesellschaft sein, die von der Angst nichts wissen will. So könnte man auch den ironischen Kommentar von Asterix am Ende des Bandes deuten, als Grautvornix den Dorfbewohner zeigt, wie der Kampf gegen die Normannen vor sich gegangen ist, obgleich er selbst vollkommen unbeteiligt gewesen ist: „Dein Neffe ist ein richtiger Gallier geworden mutig bis zum äußersten“.

Nachdem Asterix und Obelix den verlassenen und kaputten Sportwagen im Wald gefunden haben, laufen die beiden ins Dorf zurück, um Majestix zu verständigen. Obelix lässt an dieser Stelle seinen berühmten Ausspruch verlauten: „Die spinnen, die Normannen!“. Aber warum spinnen sie seiner Ansicht nach? Obelix setzt Grautvornix und den Hinkelstein, den er ihm bei seiner Abreise geschenkt hat, ins Verhältnis und äußert Unverständnis darüber, dass die Normannen eher den Neffen statt den Hinkelstein mitgenommen haben. Für ihn ist der Hinkelstein wertvoller als dieser spezifische Mensch. Nimmt man dies ernst, muss es als Missachtung gelesen werden. Ähnliche Missachtungen treten an anderen Stellen auf.

Als Asterix und Obelix bei Majestix vorstellig werden und ihm von der Entführung Grautvornix‘ berichten, reißt dieser die Augen weit auf, und die Striche über seinem Kopf dürften eine ruckartige Bewegung darstellen: Er scheint, wenn man sich nur die Zeichnung anschaut, eher überrascht als wütend oder besorgt. Dies zeigt sich auch in seiner Äußerung: „Was können die bloß Interessantes an Grautvornix finden?“ So wie Obelix nicht versteht, dass man Grautvornix einem Hinkelstein vorzieht, so versteht Majestix nicht, welches Interesse man an seinem Neffen haben könnte. Für beide ist er, so könnte man es übersetzen, ohne jedes Interesse.

Eine weitere Szene ist für diesen Punkt bezeichnend: die finale Kampfszene auf der Klippe. Während Asterix allein gegen die Normannen kämpft, hängt sich Grautvornix einem Normannen an den Rücken und schlägt mit hochrotem Kopf auf ihn ein. Dies lässt den Normannen jedoch vollkommen unbeeindruckt: die Schläge sind nicht nur wirkungslos, sie werden nicht einmal bemerkt. Wenig später wird dieses Bild wiederholt, doch die Autoren lassen den Normannen sagen: „Wo ist eigentlich der Meister hin?[12]

Dieser ganze Strauß unterschiedlicher Reaktionen zeigt, dass die Erwachsenenwelt den Jugendlichen keinen besonderen Eigenwert beimessen. Man sieht schlicht und ergreifend nicht, was an ihnen interessant sein könnte. Was sie sagen, ist entweder verletzend oder irgendwie nichtig, ihre Musik ist grauenhaft – man kann von ihnen nichts lernen. Das ist, könnte man sagen, das Erleben der Erwachsenen. Die Jugendlichen, auf der anderen Seite, erfahren ihr Lärmen, ihr Drauf-Einschlagen, ihre Wut als etwas, das einen Teil der Gesellschaft vollkommen unbeeindruckt lässt. Sie schlagen Stühle kaputt, sie brüllen ihre Unzufriedenheit heraus, doch dieser gesamte Energieauswand verpufft, so wie das unbemerkte Einschlagen auf den Schädel des Normannen. Die Jugendlichen bleiben unbemerkt, ja fast unsichtbar und man begegnet ihnen mit Indifferenz bis Unverständnis.

Erneut beweisen die Autoren Goscinny und Uderzo, dass sie ihre Umwelt ganz genau beobachten. Was sie hier zur Darstellung bringen, sind die erfahrenen Demütigungen der Jugendlichen in der Nachkriegszeit. Die Autoren bieten mit den Reaktionen auf Grautvornix mögliche Erklärungen für die zunehmende Wut der Jugendlichen, die sich nur knapp zwei Jahre später – im Mai 1968 – Bahn bricht (vgl. Gilcher-Holtey 2001). Beeindruckend sind diese Darstellungen auch deswegen, weil sie sich nicht parteiisch auf die eine oder andere Seite schlagen. Weniger treten Goscinny und Uderzo als Moralisten, dafür eher als wertfrei beobachtende, ironisierende Soziologen.

Ausblick

Was kann aus den vorgestellten Analysen gelernt werden, einerseits über Publikationsformate wie Comics, andererseits über Sozialfiguren und dann möglicherweise sogar noch über unsere eigene Gegenwart? Vielleicht fange ich mit der letzten Frage an: Dass es Generationenkonflikte gibt, ist keine neue Erkenntnis. Dass die Jugendlichen als eigenständige Gruppe erst in den 1960er Jahren ins Bewusstsein der französischen Gesellschaft traten, vielleicht schon eher. Vor allem aber ist es aus heutiger Sicht interessant zu sehen, was an dieser Gruppe irritierte: ihre expressive Emotionalität, für die es in der damaligen Gesellschaft keine Handlungsroutinen gab. Die Analyse der Sozialfigur lässt vermuten, dass ihr Verhalten wie jenes von Säuglingen oder Kleinkindern gedeutet wurde; unfähig ihre Affekte zu kontrollieren. Auch die Reaktionen auf Erwachsenenseite sind daher von einem Verhalten geprägt, dass in den 1960er Jahren vermutlich noch weit verbreitet war: zwischen Indifferenz und körperlicher Züchtigung.

Weil Sozialfiguren in Zeiten der Unentschiedenheit auftreten, zeigt sich an ihnen die Notwendigkeit, aber eben auch die Chance, für gesellschaftliche Verständigungsprozesse. Darin liegt ihr ethisches Potential (Vgl. Moser/ Schlechtriemen 2018), d.h. ein Potenzial Aushandlung über die Frage anzustoßen, wie eine Gesellschaft ihr Zusammenleben gestalten möchte. Soziologisch formuliert: an Sozialfiguren entfalten sich Deutungskämpfe, die zwar von gesellschaftlichen Machtverhältnissen bestimmt werden, aber auch deren Verschiebungen andeuten. Die Sozialfigur der yéyés zeigt, dass es für das Frankreich der 1960er Jahre notwendig war sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob und wie dem Sprechen über emotionale Belange Raum gegeben werden kann. Dass diese Auseinandersetzung weitestgehend unterdrückt wurde, dass die Erwachsenenwelt es lieber gesehen hätte, wenn diese nouvelle classe d’âge einfach weiter Wildschweine jagt, zeigt sich an der Radikalisierung der Jugend, die sich im Mai `68 auf z.T. gewaltsame Weise entlud (vgl. Gilcher-Holtey 2001). Daraus lernen wir für heutige Debatten, dass es notwendig ist die Belange der jungen Generation zu hören und konstruktiv mit ihr umzugehen, soll eine Radikalisierung verhindert werden, die gegebenenfalls in gewalttätigem Handeln endet.[13] Die allgemeine, dahinterstehende Frage lautet: Wollen wir eine Gesellschaft, in der sich ein immer größerer Teil nicht gehört und in seinen Belangen nicht ernst genommen fühlt, so dass deviantes Verhalten als die letzte Möglichkeit des Sich-Gehör-Verschaffens in Erwägung gezogen wird?

In den Asterix-Bänden wird nicht nur der Umgang Frankreichs mit der eigenen Geschichte karikiert, was sie für die sogenannte Public History interessant macht. Geht man auf die Handlungsebene, so zeigt sich, dass Comics als soziologisches Material ernst genommen werden können, ähnlich wie dies in den letzten Jahren für literarische Texte immer wieder gezeigt wurde (Vgl. Costellano et al. 2008; Longo 2016; Váňa 2020). Publikationen dieser Art eignen sich nicht nur für ein Doing Sociology, sondern auch für ein Doing Public Sociology. Zum einen besitzt Asterix einen hohen, generationsübergreifenden Bekanntheitsgrad. Zum anderen eröffnet das Medium einen scheinbar spielerischen Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Fragen.

Gerade der regelmäßig wiederkehrende Rückgriff auf Sozialfiguren zeigt, wie nah die Autoren am Puls der Zeit operieren. Gleichzeitig würde eine detaillierte Analyse der von ihnen gewählten Darstellungsformen Aufschluss darüber geben, wie Studien zu Sozialfiguren aufgebaut sein müssten, damit sie auch losgelöst vom Aktualitätsbezug funktionieren können. Anders formuliert: wie ist es möglich (relativ) zeitlose Studien über zeitgebundene Sozialfiguren herzustellen?

Für die Auseinandersetzung mit Sozialfiguren lernen wir, dass Produkte der ‚Kulturindustrie‘, gerade weil sie nah am Puls der Zeit operieren, als Dokumente zur Analyse herangezogen werden müssen. Bücher, Filme, aber auch Musik und Comics, stützen sich z.T. explizit auf Sozialfiguren, ja haben diese manchmal sogar zum Gegenstand. Das macht diese Produkte zu wichtigen Dokumenten, will man beispielsweise aktuelle Sozialfiguren mit historischen Vorläuferfiguren vergleichen.

Literatur

Castellano, U., DeAngelis, J., & Clark-Ibáñez, M. (2008). Cultivating a sociological perspective using nontraditional texts. Teaching Sociology36(3), 240-253.

Elias, N. (1991). Was ist Soziologie?, Juventa.

Gilcher-Holtey, I. (2001). Die 68er Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA. CH Beck.

Morin, E. (1965). On ne connaît pas la chanson. Communications6(1), 1-9.

Morin, E. (1966). Adolescents en transition: classe adolescente et classes sociales, aspiration au divertissement et aspiration à la vie bourgeoise dans une commune du Sud-Finistère. Revue française de sociologie, 435-455.

Moser, S. J., & Schlechtriemen, T. (2018). Sozialfiguren–zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose: Social Figures–Between Societal Experience and Sociological Diagnosis. Zeitschrift für Soziologie47(3), 164-180.

Moser, S. J., & Schlechtriemen, T. (2024). » Wir durften halt irgendwie nicht suchen « Die» verlorene Generation «in der COVID-19-Pandemie. Indes11(3), 63-71.

Longo, M. (2016). Fiction and social reality: Literature and narrative as sociological resources. Routledge.

Schlechtriemen, T. (2022). Sozialfiguren in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte50, 465-495.

Tamagne, F. (2018). La “Nuit de la Nation”: culture jeune, rock’n’roll et panique morale dans la France des années 1960. Criminocorpus. Revue d’Histoire de la justice, des crimes et des peines, (11).

Vannini, P., Waskul, D., Gottschalk, S., & Rambo, C. (2010). Sound acts: Elocution, somatic work, and the performance of sonic alignment. Journal of Contemporary Ethnography39(3), 328-353.

Váňa, J. (2020). More than just a product: Strengthening literature in sociological analysis. Sociology compass14(6), e12789.

Anmerkungen

[1] „Asterix, der Held dieser Abenteuer“ heißt es ja immer am Anfang.

[2] https://www.nouvelobs.com/bd/20191023.OBS20222/le-nouvel-asterix-nous-parle-de-greta-thunberg-et-c-est-rejouissant.html;

[3] https://www.radiofrance.fr/franceinter/bd-la-fille-de-vercingetorix-une-aventure-d-asterix-et-obelix-sous-le-signe-des-femmes-et-de-l-ecologie-2124367,

[4] Die Söhne des Schmieds Automatix und des Fischhändler Verleihnix beschweren sich darüber, dass sie später mal die Geschäfte der Väter übernehmen sollen. Als Obelix sagt er habe schon immer Hinkelsteine liefern wollen heißt es: „Hinkelstein und Zaubertrank sind die Stützen des Wildschweinsystems“. Im Zentrum des Bandes „Die Tochten des Vercingétorix“ steht ein sich abzeichnender Generationenkonflikt.

[5] Hierbei handelt es sich um eine Referenz auf die Oper von Guiseppe Verdi, in der es um die femme fatale Latraviata geht.

[6] Bei diesen sogenannten „résidences de haut-standing“ handelte es sich um riesige, von privaten Bauträgern konzipierte Wohneinheiten mit gesicherten Eingängen, privatisierten Parks, Aufzügen, Tiefgarage, teilweise auch Boutiquen wie Bäckern oder Friseursalons und eigenen Hausmeistern; alles auf dem damals neusten Stand. Allerdings führte dies dazu, was man heute Gentrifikation nennt, d.h. einem schleichenden Austausch der Bewohner in bestimmten Bezirken. „haut-standing“ verweist auf Luxuswohnungen, die sich lediglich Personen mit einem bestimmten Einkommen leisten konnten. Diese Residenzen trugen und tragen Namen wie „Résidence les ouseaux“ (Vogelresidenz), „Le Tulipier“ (der Tulpenstrauch) oder „La belle allemande“ (Die schöne Deutsche), während französische Sozialbauklötze eher Namen der national verehrten Dichter und Philosophen tragen.

[7] Gerade in der Anfangszeit der Asterix-Bände sind es vor allem französische Referenzen, an denen sich die Autoren ausrichten. Die beiden Autoren sind verständlicherweise von ihrer gesamten Sozialisation auf Frankreich ausgerichtet. Dies zeigt aber auch, für wen diese BDs ursprünglich geschrieben wurden. Nämlich für jene Generation der Franzosen, die den Zweiten Weltkrieg erlebte und an deren Ende um die 20 Jahre alt gewesen sein dürften, d.h. 1966 um die 40 Jahre alt. Es wäre eine eigene Studie wert zu schauen, ab wann sich diese Zentralstellung Frankreichs und der französischen Kultur ändert. Damit hätte man ein Indiz für die Öffnung der französischen Nachkriegsgesellschaft.

[8] Übrigens könnte man das, was Grautvornix dann im französischen Original brüllt [Non! Non! Non!] wiederum als eine Referenz auf Michel Polnareff lesen. Der Text von dessen ersten Hit „La poupée qui fait non“ geht wie folgt: „C’est une poupée qui fait non, non, non, non ! Toute la journée, elle fait non, non, non, non!“

[9] Denn es darf nicht vergessen werden, dass es sich bei Asterix vorrangig nicht um Comics für Kinder handelt.

[10] Das erinnert an ein Zitat von Erich Fromm aus seinem 1976 erschienenen Buch „Haben oder Sein“: „Der Konsument ist der ewige Säugling, der nach der Flasche schreit.“ Dies ist durchaus eine Deutung, die man an Grautvornix und die Jugendlichen anlegen kann, die er verkörpert: bei ihnen handelt es sich um Konsumenten der Nachkriegsgesellschaft, die sich diese Konsummöglichkeiten nicht selbst erarbeitet haben: den 4CV-Wagen, eine Anspielung an das Renault Modell, hat ihm vermutlich sein Vater geliehen.

[11] Ich danke Johannes Franzen ganz herzlich für diesen Hinweis.

[12] Aufschlussreich ist diese Indifferenz gegen die aggressiv gemeinten Handlungen des Jugendlichen, weil selbst der Barde Troubadix einem Normannen sein Instrument über den Kopf zieht, der in der Folge in die Knie geht. Und selbst der Biss des Hundes Idefix wird von dem Normannen bemerkt und mit lautem Aufschrei quittiert.

[13] Dass die Selbstbezeichnung „Letzte Generation“, in Folge einiger konkreter Aktionen, zur pejorativen Fremdbezeichnung „Klima-Kleber“ führte und mittlerweile z.T., wiederum aufgrund einiger konkreter Aktionen, von „Öko-Terroristen“ die Rede ist, zeigt, dass die Belange in der Vergangenheit kaum Gehör fanden.

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