Reels
von Annekathrin Kohout
6.5.2025

Instagram-Video-Format

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 27-35]

Durch Reels, die Instagram-Videos mit einer Länge von 15, 30 oder höchstens 60 Sekunden, scrollt man sich nicht wie etwa durch den Feed, geschmeidig und in der jeweils eigenen Geschwindigkeit. Durch Reels muss man swipen, kurz und schwungvoll. Dieser kleine Mechanismus hat einen beachtlichen Effekt: Etwas gerät unmittelbarer ins Blickfeld, erscheint überraschender, taucht im besten Fall wie aus heiterem Himmel auf. Vielleicht, so die leise Hoffnung beim vertikalen Weiterswipen, verbirgt sich etwas völlig Unerwartetes hinter dem nächsten Reel. Oder dem danach. Bloß nicht noch ein »Bongo la, bongo cha cha cha«; oder wenigstens eine neue, originellere Variante. Und da ist sie auch schon. Zumindest ein bisschen lustiger, ein bisschen interessanter von der Komposition her, etwas besseres Playback; wobei, so besonders nun auch wieder nicht. Swipe. Bei der Rezeption des Reel-Feeds fällt die Neugier auf den nächsten Content mit der Abstumpfung angesichts immer gleicher Formate, Musikstücke, Gags oder Spiele auf seltsame Weise zusammen. Der von TikTok vertraute schwungvolle Swipe wirkt auf Instagram eher wie ein beifälliges Abwinken. Zumindest noch.

Man kann nicht über Reels auf Instagram schreiben, ohne auf dessen Vorlage, TikTok, einzugehen. In Zeitungsartikeln, Blogbeiträgen oder Threads wird nie versäumt, das Offensichtliche zu erwähnen: dass Instagram durch die Adaption des neuen, populären Formats seine zentrale Stellung in der Social-Media-Landschaft behaupten will – und zwar auf ähnliche Weise, wie es bereits zuvor durch die Übernahme der ursprünglich von Snapchat bekannten Story-Funktion gelang. Was auf TikTok das leitgebende Format der App ist – kurze, meistens bearbeitete Videos – wird auf Instagram als Funktion neben anderen wie den Storys oder IGTV integriert.

Formal sieht das auf den ersten Blick nicht bahnbrechend, ja sogar wenig neu aus. Für Reels werden ähnliche Effekte und Filter verwendet, wie sie aus der Story-Funktion von Instagram bereits bekannt sind; auch Musik kann in den anderen Video-Funktionen hinterlegt werden. Mit dem Schnittwerkzeug, Beschleunigungstool und Timer sind zwar Gestaltungsmöglichkeiten hinzugekommen, diese wurden aber zumindest in der Anfangszeit der Funktion meinem Eindruck nach kaum in vollem Umfang ausgeschöpft. Vielmehr haben sowohl Influencerïnnen als auch weniger ambitionierte Nutzerïnnen der App die in den anderen Formaten etablierten Techniken auf ihre Reels übertragen, die damit wiederum ihrem Namen gerecht und gewissermaßen zu »Blooper Reels« – sprich: Outtakes – der für den Feed, die Story oder IGTV produzierten Inhalte wurden. Aus Werbebildern werden bewegte Werbebilder, aus lustigen Filter-Ausprobierbildern werden lustige Filter-Ausprobiervideos. Da Bewegtbilder im allgemeinen und Reels im Speziellen algorithmisch bevorzugt werden, entstehen sie momentan oftmals nicht aus der Lust am Format, sondern vielmehr aus der Notwendigkeit, seine Reichweite nicht zu verlieren.

Gestalterisch und inhaltlich ähneln einzelne Reels also stark den anderen Formaten. Auf dem Startseiten-Feed sind sie durch die Umgestaltung zur Vorschau und Einlassung in das typische quadratische Format zudem auf den ersten Blick kaum von anderen Bewegtbildern zu unterscheiden: Hier wie dort wird mit inszenierten Aufnahmen entweder für ein Produkt geworben und/oder man gibt Einblicke in die eigene Lebenswelt und/oder probiert spielerisch die von der Plattform vorgegebenen Effekte und Filter aus. Eben so, wie man es von den anderen Funktionen gewohnt ist. Ein mit TikTok vergleichbarer videotechnischer, choreografischer oder auch inhaltlicher Aufwand (insbesondere bei Sketchen o.ä.) ist (zumindest bislang) nur selten vorzufinden.

Das liegt aber nicht nur an einer gewissen Trägheit, die mit jeder Gewöhnung an eine neue Technologie verbunden ist. Auch die Fotografie imitierte bekanntlich in ihrer Anfangszeit aufwendig künstlerische Effekte und Kompositionen, obwohl sie bereits über ganz andere und vielfältigere Möglichkeiten verfügte. Nein, es liegt auch daran, dass das von TikTok übernommene Reels-Format nicht der ursprünglichen Bestimmung von Instagram entspricht.

Instagram ist fast schon zum Museum geworden, in und mit dem die verschiedenen Epochen Sozialer Medien nachvollzogen werden können. Es gibt eine mehr oder weniger statische Profilseite mit gespeicherten und archivierten Beiträgen, wie es in der Anfangszeit üblich war. Dann wurden vergängliche Formate (die Storys) integriert, die einst als Gegenbewegung zum ›Internet, das nichts vergisst‹ von Snapchat eingeführt wurden – auch, um im Digitalen etwas zu reproduzieren, das im Analogen selbstverständlich ist: Spontanität, Begrenztheit, Instabilität. Da man die Möglichkeit der Archivierung aber keinesfalls aufgeben wollte, ruderte man zurück und führte die Möglichkeit der Speicherung wieder ein – nicht zuletzt, weil sich Content-Erstellerïnnen professionalisierten und bewahrenswerte Inhalte veröffentlichten. Ein weiterer neuer Bereich innerhalb der Plattform entstand. IGTV und Instagram Live sollten es schließlich ermöglichen, die Plattform bestenfalls nicht mehr verlassen zu müssen, sondern alle Inhalte direkt in der App zur Verfügung zu stellen.

Doch bei all diesen Übernahmen und damit einhergehenden Veränderungen blieb Instagram seiner ursprünglichen Bestimmung treu. Diese besteht darin, dass Nutzerïnnen soziales Kapital aufbauen, indem sie ihre Netzwerke vergrößern und die anderer einsehen können. Bis heute, Anfang 2022, dient Instagram vielen Menschen dazu, Kontakte zu knüpfen, zu pflegen, zu beobachten, mit ihnen anzugeben etc. Eugene Wei hat in seinem vielbeachteten Blogbeitrag »TikTok and the Sorting Hat« (August 2020) verschiedene Social-Media-Typen voneinander unterschieden. Der erste Typus verfolgt vordergründig einen konkreten Zweck: Auf Vinted werden Kleidungsstücke verkauft, auf Pinterest werden Ideen gesammelt, LinkedIn ist eine Berufsbörse etc. Der zweite hat sich vor allem der Unterhaltung verschrieben – wie zum Beispiel YouTube. Drittens gibt es Netzwerke, bei denen es hauptsächlich um soziale Interaktionen geht. Meistens verfolgen alle Netzwerke jeden dieser Zwecke, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Instagram ist – genauso wie Facebook und Twitter – derzeit eindeutig letzterem zuzuordnen. Das ist nicht nur durch die Architektur der Profilseiten entsprechend angelegt, in denen die Followerïnnen der anderen eingesehen und deren Netzwerke wiederum begutachtet werden können, sondern wird zudem durch den Instagram-Algorithmus begünstigt, der in den personalisierten Feed bringt, was den Mitgliedern des engeren bis erweiterten Netzwerks gefällt bzw. auf eine nicht immer nachvollziehbare Weise mit ihnen zu tun hat.

Dieser Schwerpunkt auf Soziale Netzwerke hat einige negative Effekte. Man ist zum Beispiel aus Rücksichtnahme auf verschiedene Personen nicht immer frei in der Erstellung von Content. Schon bei der Bildung eines Netzwerks können etwaige persönliche Verpflichtungen zum Folgen und Liken von Inhalten verleiten. Das mag wie eine Lappalie klingen, da jedoch der Algorithmus wesentlich auf den Kontakten beruht, wird einem mit wachsendem Netzwerk (was das wesentliche Ziel ist) auch eine wachsende Anzahl an Postings im Feed angezeigt, die bestenfalls das eigene Interesse nicht berühren, schlechtestenfalls Missmut bereiten. Freilich kann man jetzt einwenden, dass Vernetzung auf Instagram für viele Teil der beruflichen Realität ist – und das muss wahrlich nicht immer nur Spaß machen. Es führt aber notwendigerweise dazu, dass man die App dann ›in der Freizeit‹ verlassen möchte. Das wiederum ist das Todesurteil eines jeden Sozialen Netzwerks, bei denen alles daran hängt, die Nutzerïnnen auf ihrer Seite/in ihrer App zu halten.

Die Etablierung von Reels soll vor diesem Hintergrund nicht nur eine weitere Möglichkeit bieten, schnell und einfach lustige kleine Videos zu machen. Reels sollen vielmehr zu einer Art Ferienangebot der App werden – ohne dass man sie dafür verlassen muss. Reels sind nämlich nicht eine bloße Funktion – wie Storys oder Live-Videos. Sie haben neben der Startseite und dem Shopping-Bereich einen eigenen Feed erhalten. Und dieser Feed reproduziert eine wichtige Ursache des TikTok-Erfolgs: dessen Algorithmus.

TikTok weist die genannten negativen Effekte des Netzwerkens nicht auf, da sein – wie Eugene Wei gezeigt hat – wahnsinnig effizienter Algorithmus nicht auf Interaktionen beruht, sondern ausschließlich auf den persönlichen Interessen, die beim Umgang mit gezeigten Inhalten gemessen werden. Mit enormer Geschwindigkeit lernt der Algorithmus die jeweiligen Bedürfnisse kennen. Da die Videos im Durchschnitt nur wenige Sekunden lang sind, werden viele in kurzer Zeit konsumiert und liefern eine entsprechende Menge an Trainingsdaten. Theoretisch muss man keiner Person folgen, um einen sehr guten personalisierten Feed zu erhalten. Nachteil dieser Variante ist natürlich, dass man sehr schnell nur noch Inhalte der gleichen Art angezeigt bekommt. Mein persönlich schönster Aufenthalt bei TikTok war, als ich die App zum ersten Mal öffnete und mir noch nie zuvor gesehene Videos aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt angezeigt wurden. Das hielt allerdings nur etwa zehn Minuten vor, dann reduzierte sich die Bandbreite bereits stark. Man kann derart reaktionsschnelle Algorithmen zwar auch entsprechend feinsinnig ›irritieren‹, das bedarf allerdings einiger Überlegungen und damit eines gewissen Aufwands.

In dem an TikTok orientierten Reels-Feed auf Instagram fühlt es sich durch den ungewohnten Algorithmus hingegen so an, als sei man in einer anderen Welt. Doch der Reels-Feed hat mutmaßlich noch eine weitere Funktion. So soll eine ähnliche Eigendynamik aufkommen wie bislang nur bei TikTok. Diese Eigendynamik wird von einem Mechanismus angetrieben, den ich Instant-Memifikation nennen möchte. Waren Meme bislang überwiegend bildbasiert, kann bei TikTok aus jedem einzelnen Bestandteil eines Videos per Klick ein Mem werden: Aus der Audiospur – entweder wegen einer besonders pointierten Textzeile oder aufgrund der Stimmung des Liedes –, aus der Performance oder der Choreografie, aus einem Filter oder Effekt. Eine Nutzerïn kann auch von vornherein auf Interaktion angelegte Fragen oder Challenges posten. Klickt man auf die jeweiligen Bestandteile, werden alle bisher vorhandenen Versionen angezeigt – einschließlich der Gesamtzahl.

Auf TikTok gibt es nicht nur zwischendurch mal vereinzelt ein Mem – die überwiegende Mehrheit der TikToks sind Abwandlungen von bestehenden Trends und Inhalten, die andere Nutzerïnnen erstellt haben. Es gilt auch nicht als verwerflich, TikTokerïn zu sein, die ausschließlich bereits bestehenden Content neu interpretiert. Viele auf der Plattform erreichen ihren ersten viralen Hit, indem sie ein bereits etabliertes Mem aufgreifen. Daher charakterisiert Eugene Wei die Plattform völlig zu Recht als »the most evolved meme ecosystem to date.« Denn sie verkörpert in herausstechender Weise die Mashup- und Reaktionskultur der Sozialen Medien. Ja, die »Kultur der Digitalität«, wie sie Felix Stadler analysiert hat, in ihrer Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmität, ihrer »hypermimetischen Logik« (Limor Shifman), gelangt in TikTok regelrecht zur Vollendung.

Zwar können auch bei Instagram-Reels Bestandteile eines Videos wie ein entsprechender Filter oder die zugrundeliegende Audiodatei per Klick zum Ausgangspunkt des eigenen Videos gemacht werden (und damit zur Memifikation beitragen), aber einige bei TikTok sehr beliebte Funktionen wie »Duett« (mit der man unmittelbar Reaction-Videos erstellen kann) oder »Stiches« (die es ermöglichen, Abschnitte aus den Videos anderer Nutzerïnnen sofort zu editieren und in das eigene Video zu integrieren) gibt es beispielsweise (noch) nicht. Während die Instant-Memifikation auf TikTok bereits eine Kultur der Kooperativität hervorgebracht hat, die über die reine Partizipation hinausgeht, ja in der Nutzerïnnen mit ihren eigenen Stimmen nicht nur einzeln und abstrakt in die der anderen einsteigen, sondern tatsächlich ein ›Duett‹ hervorbringen, bleibt Instagram derzeit noch alten Mustern verhaftet. Für viele dürfte der Reels-Feed mit Neil Postman gesprochen noch eine »Guckguck-Welt« sein, »in der mal dies, mal das in den Blick gerät und sogleich wieder verschwindet« (»Wir amüsieren uns zu Tode«, 1985). Meinem Eindruck nach sind auch die kreativen Interpretationen vorhandener Videos/Filter/Sounds bei TikTok stärker ausgeprägt, wohingegen die Instagram-Nutzerïnnen es tendenziell (noch) als beiläufigen Zeitvertreib verstehen und weniger künstlerisches Engagement für die Reels aufwenden. Zu sehr sind sie auch inhaltlich noch an den bislang vorherrschenden Standards und Diskursen der Plattform orientiert. »Let’s deconstruct face filters« lautet etwa ein beliebtes Audio-Mem, die dazugehörigen Videos ›entlarven‹, was hundert Prozent der Instagram-Nutzerïnnen bereits wissen: dass Face-Filter nicht die körperliche Wirklichkeit darstellen.

 

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