Die Verzeichnung der Polizeiarbeit in US-Serien
von Robin Curtis
27.02.2024

Good Guy / Bad Guy

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 88-92]

Im Juni 2020 stellte Cameron Bailey, der Künstlerische Leiter des Toronto Film Festivals, bei einem virtuellen Panel auf YouTube die Frage: »Was haben Sie aus Filmen alles über Polizeiarbeit gelernt?« Bevor Tabitha Jackson 2020 die Leitung von Sundance übernahm, war Bailey lange Zeit der einzige nicht weiße Leiter der ›Big Five‹-Festivals (Berlin, Cannes, Venedig, Sundance, Toronto). Der Runde Tisch mit dem Titel »Images Matter« erörterte im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung die Art und Weise, wie Nordamerikaner*innen die Polizei durch Film- und Fernsehdarstellungen präsentiert bekommen haben. Zu den Teilnehmer*innen gehörten schwarze amerikanische und kanadische Drehbuchautor*innen und Regisseur*innen, Kurator*innen und Wissenschaftler*innen. Das Treffen fand nur wenige Wochen nach dem Tod von George Floyd statt, der am 25.5.2020 durch vier Polizisten auf einer Straße und vor laufender Smartphonekamera in Minneapolis ermordet worden war.

Baileys Frage ist nicht neu. Seit der Videoaufzeichnung der Misshandlung von Rodney King in Los Angeles 1991 wurde sie immer wieder aufgeworfen. Seit 2020 kommt der Untersuchung, welche Bilder von Polizei und Polizeiarbeit zirkulieren, angesichts der unwiderlegbaren Beweise für Polizeibrutalität und Gewalt gegen Minderheiten (bis hin zu mehreren auf Film festgehaltenen Hinrichtungen) eine besonders hohe Bedeutung zu. Die Verwendung von Mobiltelefonen zur Aufzeichnung solcher Gewalttaten trug in hohem Maße zur Bildung der Black-Lives-Matter-Proteste bei, insbesondere nach dem Tod von George Floyd – einer von Hunderten von Todesfällen schwarzer Amerikaner in Polizeigewahrsam, die aufgezeichnet wurden, seit kamerafähige Smartphones diese Art der ›anticipatory citizen surveillance of the police‹ ermöglichen.

Auf welche Weise hat die narrative Struktur des Hollywood-Films zusammen mit dem US-amerikanischen sechzigminütigen Polizeidrama eine unkritische Haltung zur Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten von Amerika hervorgebracht oder zumindest unterstützt? Laut »Variety«, dem Filmindustrie-Branchenblatt, waren im Jahr 2019 mehr Polizeidramen unter den erfolgreichsten hundert Sendungen im amerikanischen Fernsehen vertreten als alle anderen Seriengenres zusammen: Im Herbst 2019 waren 21 der 34 Dramen, d.h. mehr als 60 Prozent der Sendungen, die zur Hauptsendezeit bei den vier U.S.-Netzwerksendern zu sehen waren, dem Thema Kriminalität und Justiz gewidmet. Serien wie »Law & Order: Special Victims Unit«, »Navy CIS«, »Blue Bloods« oder »Chicago P.D.« besaßen insgesamt mehr Zuschauer als Sendungen aller anderen Kategorien. Zudem kann man im amerikanischen Netzwerkfernsehen in jüngerer Zeit einen Trend zur Verkettung von unterschiedlichen Serien beobachten, indem sie sich verschiedenen lokalen Institutionen widmen und das Zusammenwirken dieser Institutionen aus verschiedenen Blickwinkeln behandeln, so zu sehen etwa bei »Grey’s Anatomy« und »Station 19« oder bei der Verknüpfung von »Chicago Hope«, »Chicago Fire« und »Chicago P.D.«. Die Zuschauerschaft soll dadurch über einen ganzen Abend und verschiedene Formate hinweg erhalten bleiben. Während die Daten zu den Programmanteilen sich nur auf die USA bezogen, erlangen diese Sendungen über Streamingdienste wie Netflix zunehmend internationale Präsenz.

Drei Dinge haben nach meiner Überzeugung zur Ausbildung einer Tradition medialer Repräsentation der Polizei in den USA beigetragen – zu einer Darstellung, die eher mit der Polizei sympathisiert als mit den Subjekten, die dem polizeilichen Zugriff ausgesetzt sind: 1. die langfristigen Auswirkungen des »Motion Picture Production Code« (1930-1968) auf die Entwicklung des Formats ›police procedural‹, in dem die polizeiliche Ermittlungsarbeit im Vordergrund steht; 2. der Fokus der Hollywood-Erzählstruktur auf die Motivation von Individuen anstatt auf die systemische Analyse von Institutionen; 3. das starke Übergewicht der Anzahl weißer Männer unter Produzenten und Autoren bei der Herstellung fiktionaler oder dokumentarischer Erzählungen über die Polizei.

Von Beginn der Filmgeschichte an machten Regisseure die Institution der Polizei zu ihrem Thema. Edwin S. Porters »Life of an American Policeman« (1905) konzentrierte sich auf alltägliche Aspekte der Polizeipräsenz in der Nachbarschaft, wobei er den Topos ›Der Polizist ist dein Freund‹ etablierte, indem er die Staatsmacht durch den einzelnen Polizisten auf Streife personalisierte, welcher die New Yorker vor den verschiedenen Gefahren des Stadtlebens bewahrte oder rettete. Die »Keystone Kops«-Serie (die zwischen 1912 und 1917 von Mack Sennett für die Keystone Company hergestellt wurde) benutzte Slapstick, um eine Verharmlosung der Polizeikräfte zu bewirken. Nach einer Phase zunehmender Zweideutigkeit in den 1920er Jahren – sowohl die Korruption bei der Polizei als auch die Verherrlichung des Verbrechens waren in den Hollywood-Filmen zu sehen ­– wurde mit der Einführung der Zensurrichtlinien des »Motion Picture Production Code« eine eindeutige Haltung zur Darstellung von Polizeiarbeit eingenommen: »Crimes against the law shall never be presented in such a way as to throw sympathy with the crime as against law and justice or to inspire others with a desire for imitation« (1930).

Dieser Imperativ hat das amerikanische Polizeidrama seither geprägt. »Dragnet«, das 1931 als Radioserie begann, um 1951 zum Fernsehen zu wechseln, lieferte 16 Staffeln lang die Vorlage für das noch heute gängige ›police procedural‹ und zementierte gleichzeitig das Bild des heroischen und aufopferungsvollen Polizeidetektivs. Die Produktionsfirma von »The FBI«, das von 1965 an in neun Staffeln lief, prüfte mit dem stellvertretenden Direktor der gleichnamigen Behörde, Clyde Tolson, jedes Detail jeder Folge. Drehbuchberater aus den Polizeikräften werden heute noch in ähnlicher Weise hinzugezogen.

Der Aufstieg des Reality-TV kann auf die Einführung der skriptlosen Show »COPS« zurückgeführt werden, die Fox Network während des Streiks der Drehbuchautorengewerkschaft 1989 ausstrahlte – eine Show, die in den USA erst 32 Jahren später im Zuge von Kontroversen nach dem Tod George Floyds abgesetzt wurde (die Produktion für internationale Käufer begann allerdings kürzlich wieder). Das Format scheint das eines beobachtenden Dokumentarfilms wie Frederick Wisemans »Law and Order« aus dem Jahr 1969 zu imitieren, indem Kameras in den Polizeifahrzeugen platziert werden, um die Arbeit der Einsatzkräfte zu verfolgen – jedoch mit weitaus weniger inhaltlicher Ambivalenz. Ähnlich wie zuvor »Dragnet« und »The FBI« sicherte »COPS« den beteiligten Polizeikräften förmlich zu, innerhalb von zehn Tagen vor der avisierten Ausstrahlung gegen den Inhalt Einspruch erheben zu können. Die Show wurde oft kritisiert, weil sie rassifizierte Personen und bestimmte Verbrechensarten in viel höherem Maße zeigte, als sie zum Zeitpunkt und am Ort der Dreharbeiten der Shows vorkamen. »COPS« zeigte eine vierfach höhere Zahl an Gewaltverbrechen als statistisch erfasst, drei Mal mehr Drogenkriminalität und zehn Mal mehr Prostitution. Diese drei Kriminalitätskategorien machten zusammen 58 % aller Verhaftungen bei »COPS« aus, aber nur 17 % in der realen Welt.

Die Reagan-Ära erlebte einen besonderen Wendepunkt, an dem das von Hollywood etablierte Sujet des notwendigerweise hart durchgreifenden Sheriffs, verkörpert durch (den prominenten Republikaner) John Wayne in seinen Filmen der 1950er und 60er Jahre oder durch die »Dirty Harry«-Filme Clint Eastwoods (einem weiteren prominenten Republikaner) in den 1970er Jahren, auf die politische Sphäre übertragen wurde, um dann vom Präsidenten selbst in seinem »Krieg gegen die Drogen« adaptiert zu werden. Dieser ›Krieg‹ diente zur Rechtfertigung einer enormen Aufstockung der Polizeifinanzierung sowie zur Verfolgung einer unverhältnismäßig großen Zahl schwarzer Amerikaner wegen Drogenvergehen.

Die Teilnehmer des Gesprächs mit Cameron Bailey waren sich einig, dass solche Filme die Polizisten zwar durchgängig als Agenten der Autorität und Brutalität darstellten, dies jedoch zugleich ermöglichte, sie entweder als gut (in einer aktualisierten Version einer Western-Saloon-Szene räumt Dirty Harry 1983 ein Café in »Sudden Impact« durch Hinrichtung) oder böse (eine Gruppe von Polizisten hält in »Do the Right Thing« von Spike Lee aus dem Jahr 1989 den sanftmütigen Radio Raheem mit einem Würgegriff fest und tötet ihn) anzusehen, während sie im Wesentlichen genau dasselbe Verhalten an den Tag legten, nämlich tödliche Gewalt auszuüben. Die unterschiedliche Bewertung scheint lediglich davon abzuhängen, wer die filmischen Protagonisten sind.

Populäre amerikanische Erzählformate, ob fiktional oder faktual, ob im Radio, Podcast, Film oder Fernsehen präsentiert, neigen dazu, sich auf einzelne Figuren und ihre Anstrengungen zu konzentrieren. Nachdem die Macht des »Motion Picture Production Code«, Ergebnisse zu diktieren, abnahm – Ende der 1960er Jahre wurde er ganz aufgehoben –, hat sich das Genre des Polizeidramas zunehmend auf die Nähe und vielleicht auch Ähnlichkeit zwischen Kriminellen und Polizisten, auf polizeiliche Korruption und Brutalität verlegt. Doch während das Filmformat mehr Vielfalt und Ambivalenz zugelassen hat, von dem frühen Ausreißer »Touch of Evil« (ein äußerst seltenes Beispiel eines korrupten Polizisten im Hollywood-Film, was 1958 zum Ende der Hollywood-Karriere Orson Wellesʼ führte) bis zu »Bad Lieutenant‹ (Abel Ferrara, 1992), beharren die Formate des Polizeifernsehens trotz augenfälliger Beweise für Gesetzesvergehen hartnäckig auf der grundlegenden Aufrichtigkeit und moralischen Güte ihrer Figuren.

Im Januar 2020 erschien eine von der gemeinnützigen Bürgerrechtsbewegung »Color of Change« in Zusammenarbeit mit der University of Southern California in Auftrag gegebene Studie über Polizeidramen im amerikanischen Fernsehen zwischen 2017 und 2019. Sie untersuchte die Frage ›guten‹ und ›bösen‹ Polizeiverhaltens. Als  »›Good Guy‹ Endorser Ratio« bezeichnet, misst diese Größe die Anzahl der unrechtmäßigen Handlungen, die von einem ›Good Guy‹ ›Criminal Justice Professional‹ (oder CJP) – kurz: ein guter z.B. Polizist oder Anwalt, der tut, was er tun muss, um die Kriminellen dingfest zu machen – begangen werden, im Vergleich zur Anzahl der unrechtmäßigen Handlungen, die von einem ›Bad Guy‹ ›CJP‹ – kurz: ein korrupter oder brutaler Polizist oder Anwalt – begangen werden. Bei der extrem konservativen Serie »Blue Bloods« wurde ein Verhältnis von 36:1 festgestellt (d.h. 36 ›gute Polizisten, die Regeln brechen, um ihre Arbeit zu erledigen‹, kommen auf eine ›böse Polizisten‹-Erzählung), bei »Law & Order: Special Victims Unit« 20:1 und bei »Chicago P.D.« 4:1; es überrascht jedoch nicht, dass ›Orange Is the New Black« z.B. ein umgekehrtes Verhältnis von 1:6 aufweist (6 Regelverstöße von bösen ›CJP‹-Figuren für jeden Regelverstoß eines guten ›CJP‹). Dieses Verhältnis ist deshalb so entscheidend, weil es »ungerechte Handlungen als Routine, harmlos, akzeptabel oder notwendig« darstellt.

Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung soll sich das ändern, bislang sind aber wenig Auswirkungen auf die ›police procedurals‹ in den Vereinigten Staaten festzustellen. Da sich die Mehrheit gegenwärtiger Polizeidramen in der Regel auf Dilemmata konzentriert, mit denen einzelne Polizeibeamte konfrontiert sind, und die Loyalität von Polizisten sowohl gegenüber der polizeilichen Tradition als auch gegenüber den anderen Mitgliedern ihres Teams thematisiert, wird jede Andeutung eines Fehlverhaltens abgemildert oder gedämpft. »Chicago P.D.« z.B. ging diese Fragestellung explizit, aber zahnlos an, indem die Serie die Hinrichtung eines afroamerikanischen Verdächtigen im Polizeigewahrsam und eine weitere derartige Hinrichtung eine Staffel später durch denselben Polizisten darstellte, die beide Male von dem einzigen schwarzen Polizisten im Team beobachtet wurden – ohne Folgen. Wie andere der oben genannten Beispiele versucht auch diese Show immer wieder zu zeigen, wie und warum es notwendig ist, Regeln zum Schutz der Bürger zu brechen, und weshalb gesetzwidriges Verhalten einzelner Polizisten zwingend notwendig ist, um positive, im Sinne der Gemeinschaft wertvolle Ergebnisse zu erzielen.

Fazit des oben erwähnten Round-Table-Gesprächs war, dass Polizeidramen ethische und moralische Dilemmata bei individuellen Polizist*innen regelmäßig narrativ hervorheben, obwohl es geboten wäre, Polizist*innen nicht als ethisch handelnde Individuen zu betrachten, sondern als Teile einer Institution. Eine solche Konfiguration – ähnlich wie die einer Armee – setzt das Agieren als Einheit voraus und schließt Gewissenskonflikte eines Individuums per definitionem aus. Cameron Bailey hob den Kernpunkt des Problems solcher Repräsentation hervor: »Die Filme behandeln die Polizei als Individuum und die Polizeiarbeit als eine individuelle Aktivität mit Helden und Schurken, während sie eine institutionelle Aktivität ist.« Somit entstellt ›screen culture‹ grundsätzlich die Funktionsweise der Polizei als Institution.

Die Hollywood-Erzählung widmet sich seit langem der individuellen Charakterentwicklung und dem ›Heldentum‹ einer Figur, sie widmet sich der Untersuchung ihrer Motivation und der Frage, ob ein Individuum ›gut‹ oder ›schlecht‹ ist, statt systemische Komplexitäten aufzuzeigen. Deshalb müssen sich zukünftig die Erzählstrukturen grundlegend ändern. Autoren und Showrunner müssen diverser werden, wenn dieses folgenschwere Ungleichgewicht ausgeglichen werden soll. Bei deutschen Produktionen bleibt nachzufragen, inwiefern die Nachahmung dieser amerikanischen Vorbilder (ob im Film oder Fernsehen) zur Reproduktion der diskutierten Drehbuchstrukturen und Topoi führt. Ein ähnliches Ungleichgewicht bei den Autoren und Regisseuren, was Gender und den sog. ›Migrationshintergrund‹ angeht, ist hierzulande allemal gegeben.

 

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