Kunst-Fans
von Wolfgang Ullrich
5.3.2024

Bildende Kunst im Zeitalter von Social Media: Angebote für Durchschnittsverdiener

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 42-46]

Eine Figur, die im Feld der bildenden Kunst bisher keine Rolle spielte, wird dort zunehmend präsent und einflussreich: der Fan. Nachdem Kunst während der gesamten Moderne vor allem an ein Museumspublikum gerichtet war und in den letzten Jahrzehnten mit den – meist reichen – Sammlern eine zweite relevante Gruppe vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hatte, stellen Fans einen dritten Typus dar. Fans sind meist so wenig vermögend wie übliche Rezipienten im Museum, aber sie definieren sich ähnlich stark über das Besitzen von Kunst wie Sammler. Für sie muss es also Kunst geben, die auch für Durchschnittsverdiener erschwinglich ist. Das sind im Allgemeinen keine Unikate, sondern Stücke aus Editionen, oft als ›Art-Toys‹ bezeichnet, die in limitierter, nicht selten auch in nicht-limitierter Auflage vertrieben werden. Für Fans ist es nicht wichtig, etwas als einzige – exklusiv – zu haben, vielmehr wollen sie durch das, was sie besitzen, mit anderen Fans verbunden sein, sich als Teil einer Community erleben.

Fans sind in der bildenden Kunst erst im Gefolge der Sozialen Medien sichtbar geworden, ja haben sich dort sogar erst als solche entwickelt. Sowohl schon längst berühmte Künstler als auch jüngere Künstler aus diversen Szenen – von Graffiti über Politaktivismus bis hin zu Make-up – erlangen durch Plattformen wie Instagram viel mehr Sichtbarkeit als je zuvor, und die Strukturen der Sozialen Medien – mit Accounts, Followern, Likes – begünstigen die Ausprägung von Fan-Verhalten. Künstler erkennen, dass Follower potenzielle Fans sind, die man mit den passenden Bildern, Videos und Captions, erst recht aber mit käuflichen Objekten an sich binden kann. Innerhalb weniger Jahre sind daher bedeutende neue Märkte entstanden. Und dass selbst für die (erfolg)reichsten Künstler, die an großen Sammlern jährlich viele Millionen verdienen, Fans mittlerweile offenbar ein wichtiges zweites Standbein geworden sind, ließ sich spätestens 2020 während der ersten Monate der Corona-Pandemie erkennen.

Sogar ein früher immer abweisender, betont unhöflicher, ruppiger Künstler wie Damien Hirst wandte sich bei Instagram auf einmal demonstrativ verbindlich und freundlich an seine Follower. Er präsentierte sich ihnen als einsamer Künstler im Atelier, und während er expressiv-fröhliche Bilder von Kirschblüten malte, beantwortete er per Video sogar ihre Fragen. Außerdem bot er ihnen eigens entworfene Herzen und Regenbogen zum kostenlosen Download, damit sie Varianten davon basteln, in ihre Fenster hängen und sich so beim Pflegepersonal des National Health Service bedanken konnten.

Takashi Murakami schrieb Anfang April, nachdem er das Virus mit einem Erdbeben oder Tsunami verglichen hatte, in mehreren Beiträgen auf Instagram über sein Verhältnis zur Religion, aber auch darüber, warum Kunst so heilbringend sein könne wie eine Gottheit: »Kunst kann Erlösung für Geist und Herz bringen«, doch hätten heute Spiele und Formen der Unterhaltung die Rolle von Religion und Kunst übernommen. Damit spricht er ausdrücklich die Interessen von Fans an, die sich ihrerseits nicht so sehr über Hochkultur definieren als über Computerspiele, YouTube und TikTok oder über Produkte der Konsumkultur, von denen sie tatsächlich kleine Momente der Erlösung, ein bisschen Trost und Heiterkeit, ein paar warme Emotionen erwarten.

Schon vor einigen Jahren richtete Murakami deshalb im Nakano-Boulevard-Einkaufszentrum in Tokio ein Café ein, in dem seine Fans nicht nur vom Künstler designten Latte macchiato trinken, sondern zudem mit seinen Stofftieren kuscheln und diese kaufen konnten. Mittlerweile befindet sich dort ein Shop mit einem sehr breiten Sortiment an Murakami-Produkten aller Preisklassen.

Vor Weihnachten gab es 2020 sogar Plätzchen mit Murakami-Motiven in limitierter Auflage für die Fans, auf Instagram begleitet von sehr persönlichen Äußerungen des Künstlers, die ihrerseits tröstend-aufmunternd wirken sollten. So berichtete er davon, welche Veränderungen das Corona-Jahr für ihn brachte: Statt sechzig Tage im Flugzeug und den Rest der Zeit mit seinen Mitarbeitern zu verbringen, sei er diesmal viel allein gewesen, habe daher aber auch neue Ideen entwickeln können und fühle sich nun erfrischt.

Auch KAWS reagierte gleich im Frühjahr 2020 auf die Corona-Krise und ließ sich für seine Fans etwas einfallen. Eine App, die er kurz zuvor zusammen mit dem digitalen Kunstanbieter Acute Art entwickelt hatte und die gegen Bezahlung eine limitierte Anzahl von ›Augmented Reality‹-Versionen seiner bekanntesten Figur, dem Companion, bietet, wurde kurzfristig so erweitert, dass zwei Wochen lang jeder eine für Zimmermaßstäbe passende kleinere Version umsonst nutzen konnte. Unter allen Fans, die Bilder ihres virtuellen Companion in ihrer häuslichen Umgebung unter dem Hashtag #mykaws online stellten, wurden zudem hundert Preise vergeben. Und so sah man die Figur von KAWS nun allenthalben, schwebend vor Bücherregalen, über Haustieren und an offenen Fenstern. In der Krise kam die Kunst zu den Fans nach Hause und sorgte dort, nun wirklich als Companion, als Begleiter und Gefährte, für ein bisschen Unterhaltung und Trost.

Anders als Hirst und Murakami hat KAWS von vornherein vor allem auf Fans gesetzt. Geboren 1974 als Brian Donnelly in New Jersey, war ›KAWS‹ zuerst sein Tag als Graffiti-Sprayer. Konsumkritisch übersprühte er Werbetafeln, im Lauf der letzten zwanzig Jahre wurde daraus jedoch der Name einer Marke, die mit anderen großen Marken – von Nike bis Uniqlo – kooperiert und wie kaum eine andere selbst kommerzialisiert ist. So gibt es fast nichts, was man nicht mit Motiven von KAWS kaufen kann: Sneakers und Socken, T-Shirts und Handyhüllen, Kissen und Taschen. Da seine eigenen Figuren und Muster zudem oft andere berühmte Schöpfungen der Popkultur wie die Simpsons, SpongeBob oder die Figuren der Sesamstraße adaptieren, erreicht er deren jeweilige Fans ebenfalls. KAWS ist so zu einem Knotenpunkt heutiger Fan-Kultur geworden: Zu ihm führen viele Fan-Karrieren hin, und von ihm aus eröffnen sich wiederum viele weitere Identifikations- und Entfaltungsmöglichkeiten für Fans.

Außerdem hat KAWS für Fans aller Vermögensklassen etwas im Angebot. Neben sehr günstigen Art-Toys kann man auch Arbeiten kaufen, die genauso teuer sind wie die von einem anderen Star der Kunstwelt. Manche kosten einen sechsstelligen Preis, und der aktuelle Weltrekord für einen KAWS liegt sogar bei fast 15 Millionen US-Dollar, die 2019 bei einer Auktion von Sotheby’s in Hongkong für das Bild »THE KAWS ALBUM« (2005) gezahlt wurden, das eine Parodie auf eine Simpsons-Parodie des Beatles-Covers von »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« darstellt. Dabei gibt es bei KAWS für mehr Geld nicht mehr Bedeutung oder andere Motive, sondern nur bessere Materialien, speziellere Verarbeitung, kleinere Auflagen. Damit aber bleiben der reichste und der ärmste Fan miteinander verbunden; beide mögen und sammeln zwar nicht dieselben, aber die gleichen Figuren.

Weltweit dürften es Millionen sein, die Produkte von KAWS kaufen oder sammeln, viele reisen auch zu Events, bei denen etwas von ihm zu sehen ist. Und manche drehen sogar ›Unboxing-Videos‹, wenn bei ihnen zuhause eine Figur ihres Idols angeliefert wird, die sie vorsichtig auspacken, um dann ihrer Freude hemmungslos Ausdruck zu verleihen. Alec Monopoly, seinerseits ein Künstler, dessen comicartige Bilder große Popularität genießen, beendet ein YouTube-Video von 2019, das ihn beim Auspacken einer 160.000-Dollar teuren KAWS-Skulptur zeigt, mit einem Dank an seine Fans: Sie hätten es ihm erst ermöglicht, so viel Geld zu verdienen, dass er sein eigenes Fan-Sein voll ausleben könne. Hier deutet sich eine Fan-Pyramide an, die sich in den nächsten Jahren noch stärker ausprägen dürfte: Je weiter unten man steht, desto mehr ist man selbst nur Fan, je weiter oben, desto mehr Fans hat man hinter sich, und in der Mitte hat man Fans und ist man Fan gleichermaßen.

Wenn Fans posten, welche Art-Toys und Fan-Artikel sie besitzen, kann man auch oft Einblick in ihre Wohnungen nehmen. Nicht selten stehen dort ganze Regale und Vitrinen voll mit Figuren, und mittlerweile gibt es sogar schon Shops, die nur Zubehör vertreiben, mit dem sich die Sammelstücke gut platzieren und präsentieren lassen. Die Betreiberin eines solchen Shops (craeftmade.com) erklärt in ihrem ›mission statement‹, sie selbst habe erst durch das Sammeln von Art-Toys Zugang zu einem großen Teil ihrer Persönlichkeit gefunden (»it felt like […] a large piece of my identity had been unlocked«), und so wolle sie mit den Display-Angeboten ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und einen nützlichen Beitrag für die Sammler-Community leisten.

Dass im selben Text statt von Art-Toys auch von »designer vinyl« die Rede ist, weist auf Ähnlichkeiten der heutigen Kunst-Fan-Szene zu den Sammlern von Schallplatten hin. Diese waren lange die wichtigsten materiellen Bezugspunkte und Trophäen für die Fans einer Band, eines Komponisten oder eines Interpreten. Entsprechend wurden sie auch immer wieder wie Stücke einer Edition in Szene gesetzt; man denke etwa an Richard Hamiltons Konzept, beim »White Album« der Beatles fortlaufende Seriennummern auf das Cover drucken zu lassen. Die Platte war damit von vornherein als Sammlerstück angelegt, wobei sich echte Fans nicht mit einem Exemplar begnügten, sondern mehrere mit unterschiedlichen Nummern haben wollten. Man gab ihnen damit zugleich eine Möglichkeit, untereinander in Konkurrenz zu treten und ihre Obsession sichtbar auszuleben, ja überhaupt erst zu entwickeln.

In den nächsten Jahren dürften noch viele neue Werkformen und Vermarktungsstrategien entwickelt werden, um die bildende Kunst tauglicher für Fans zu machen. Auch Museen werden sich vermutlich schon bald mehr für Fans und ihre Vorlieben interessieren, können sie doch in Zeiten, in denen Blockbuster-Ausstellungen mit Alten Meistern oder anderen Heroen der Kunstgeschichte immer schwerer finanzierbar sind, nur so darauf hoffen, die gewünschten (und von der Politik verlangten) Besucherzahlen zu erreichen. Und was wären die vielen seit Jahren verfassten Proklamationen wert, die eine weitere Demokratisierung der Museen fordern, wenn diese nicht auf die demokratischste Form von Kunst reagierten? Denn immerhin werden Fan-Art und Art-Toys nicht von einer Elite von Sammlern, Galeristen oder Kuratoren ausgesucht, sondern von Millionen für gut befunden.

Je mehr Künstler mit dem, was sie machen und zum Kauf anbieten, ein breites Fan-Publikum ansprechen, desto mehr könnten diejenigen, die sich hinter einer finanziell und ästhetisch exklusiven Hochkultur verschanzen, nach und nach aber noch in anderer Hinsicht in die Defensive geraten. Denn warum sollten die vielen Fans sich noch länger einschüchtern lassen, wenn sie auf einmal die Chance haben, selbst an Kunstlabels zu partizipieren, Teil von Fan-Gemeinschaften zu werden und dabei zudem den Trost, ja die Erlösung zu erhalten, die lange Zeit nur von der Hochkultur versprochen wurde? Vieles spricht daher dafür, dass nach den Rezipienten und den Sammlern in näherer Zukunft die wachsende Gruppe der Fans die Kunstwelt bestimmen und teilweise umkrempeln wird.

 

Schreibe einen Kommentar