Fermentierung als Pop
von Elena Beregow
20.02.2024

Kimchi, Sauerkraut, Pickles, Kombucha, Kefir, Kvass, Ginger Beer, Joghurt und Sauerteigbrot

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 34-41]

Fermentierung – die Umwandlung organischer Materie in Säure, Gase oder Alkohol – mag zunächst denkbar weit von Pop entfernt scheinen. Zu sehr überwiegen die Assoziationen zu muffigen Kammern voller ›Eingemachtem‹ für schlechte Zeiten. Aus den Garagen Portlands hat sich das Homebrewing und -crafting, also die Herstellung alkoholischer Getränke in heimischen Fermentierungskammern, allerdings zu einem zumindest populären (vor allem männlichen) Hobby entwickelt. Etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, den Gärungsprozess in seinen Veränderungen zu beobachten und am Ende ein genießbares Ergebnis vorweisen zu können, übt offenbar einen wachsenden Reiz aus und reiht sich in ›neolokale‹ Trends um das Handgemachte, Regionale und Nachhaltige ein. Ebenso beliebt wie das Homebrewing ist inzwischen das Herstellen von milchsauer vergorenem Gemüse wie Kimchi, Sauerkraut und Pickles, von Getränken wie Kombucha, Kefir, Kvass und Ginger Beer, von Hot Sauce und Ketchup, Joghurt und Sauerteigbrot. Auf YouTube finden sich allein dutzende Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur heimischen Kimchi-Herstellung mit teils um die 20 Millionen Views.

Ein regelrechtes ›Fermentation Fever‹ ist ausgebrochen, dessen Resonanz sich vielleicht daraus erklärt, dass es auf ganz unterschiedliche Anliegen von gesundheitlichen über kulinarische hin zu künstlerischen und aktivistischen Positionen antwortet. Und möglicherweise gehen die hohen Klickzahlen unter den Kimchi-Videos nicht zuletzt darauf zurück, dass es sich beim Fermentieren um eine überaus pandemiekompatible Freizeitbeschäftigung handelt. Es ist kein Zufall, dass das Sauerteigbrot zum Symbol des ersten Lockdowns und Trockenhefe zeitweise zur begehrten Mangelware geworden ist. Denn beim Fermentieren geht es vor allem ums Warten.

Bei aller Häuslichkeit zeichnet sich eine Pop-Ästhetik der Fermentierung ab: Sie gibt blassen Karotten ein leuchtendes Orange, färbt Rote Beete neonpink und verleiht Gurken ein un- bzw. übernatürlich knalliges Grün. Die seriell aufgereihten bunten Gläser, deren Inhalt blubbert und sich jeden Tag in Farbe, Konsistenz, Geruch und Geschmack verändert, rufen geradezu nach einer organischen Reinterpretation der Warhol’schen »Campbell’s Soup Cans«. Fermentation verfügt sogar noch über echtes Schock- und Provokationspotenzial, wenn sie die Fermenteur*in mit einer unerwarteten Schimmeldecke oder einem verstörenden Geruch begrüßt. Und was wäre Pop schließlich ohne das Fermentationserzeugnis Alkohol?

Um die Beziehung von Fermentierung und Pop zu verstehen, müssen wir uns ihre Erfolgsgeschichte näher ansehen. Der relativ junge Fermentierungsboom wurde wesentlich von Sandor Ellix Katz vorangetrieben. Als bekanntester Protagonist einer losen Fermentierungssubkultur hat er zahlreiche Bücher zum Thema geschrieben und weltweit hunderte Workshops zu Fermentationstechniken gegeben. Sein Buch »Wild Fermentation« weist sich auf dem Cover als »The book that started the fermentation revolution« aus. Dementsprechend wird Katz wahlweise als »fermentation master« (»Wall Street Journal«), als »one of the unlikely rock stars of the American food scene« (»New York Times«) oder als »godfather of fermentation« (»Telegraph«) betitelt. Sich selbst nennt Katz etwas bescheidener »fermentation fetishist« bzw. »fermentation revivalist«. Statt Urheber einer Erfindung oder auch nur eines neuen Trends zu sein, betreibe er schlicht eine Neubelebung jahrtausendealter Verfahren, so sein Selbstverständnis. Dass Katz zum Rockstar erklärt wird, hat auch mit seiner subkulturellen Erscheinung zu tun. Katzʼ Markenzeichen ist ein überdimensionierter Oberlippenbart, dazu trägt er eine Art herausgewachsenen Irokesen und verwaschene Shirts mit Aufdrucken wie »Thereʼs a party in my pantry«. Beheimatet in der New Yorker Schwulen- und Queerszene, hat Katz Fermentation im Zuge der AIDS-Krise der 1980er Jahre als Bestandteil einer immunstärkenden Lebens- und Ernährungsweise für sich entdeckt.

Katz vertritt das Prinzip der DIY-Fermentation – also analog zur Uridee des Punk die Überzeugung, dass jede*r fermentieren kann. Fermentierung ist für ihn ›basic‹ und ›low-tech‹, es braucht weder aufwendiges Equipment noch wissenschaftliche Kenntnisse. Indirekt greift Katz die traditionsreiche Affinität des Punk zum Verrotteten auf, die sich in Namensgebungen von Johnny Rotten über die amerikanische Crustcore-Punk-Band Aus-Rotten bis zur hawaiianischen Riotgrrl-Punkband Rotten Blossom zeigt. Katzʼ Aktivismus zielt auf die Wiederaneignung ›lebendigen Essens‹ als kollektiver, kooperativer und kollaborativer Praxis, die sich gegen das ›tote‹, d.h. pasteurisierte Supermarktessen wendet und damit zugleich gegen kulturelle Programmatiken von Reinheit und Kontrolle ankämpft. Verbunden wird dieser Kampf ›von unten‹ mit einer magischen, alchemistischen Betrachtung der Welt. In »Wild Fermentation« heißt es etwa: »Fermentation is everywhere, always. It is an everyday miracle, the path of least resistance. Microscopic bacteria and fungi are in every breath we take and every bite we eat. Try as we may – and many do – to eradicate them with antibacterial soaps, antifungal creams, and antibiotic drugs, there is no escaping them. They are ubiquitous agents of transformation, feasting upon decaying matter, constantly shifting dynamic life forces from one miraculous and horrible creation to the next.« Statt Mikroben als Feinde zu bekämpfen, sollten wir sie als Verbündete, ja als Teil von uns begreifen, so das Credo. Wenn man bedenke, dass der menschliche Körper zu 90 Prozent aus Bakterien besteht, bedeute der moderne Krieg gegen die Mikrobe vor allem, Krieg gegen sich selbst zu führen. Kooperation heiße dagegen, die speziesübergreifenden Gemeinschaften zwischen Menschen und Mikroben als symbiotische Gefüge – gleichsam als utopische Keimform einer besseren Gesellschaft – zu pflegen. Dieser metaphorischen und politischen Aufladung der Fermentation mag es geschuldet sein, dass Katzʼ Bücher nicht nur Rezeptsammlungen sind, sondern inzwischen als Manifeste gelesen werden, wie der »New Yorker« konstatiert.

Neben Katz lässt sich ein zweiter, diametral entgegengesetzter Strang des Fermentierungsfiebers ausmachen. Für diesen steht das Kopenhagener Zwei-Sterne-Restaurant Noma, das seit einiger Zeit ein eigenes »Fermentation Lab« betreibt und vor zwei Jahren den überaus erfolgreichen »Noma Guide to Fermentation« veröffentlicht hat. Stärker noch als in den Anfangsjahren ist Fermentierung zum »defining pillar of Noma« geworden, so der Noma-Chef René Redzepi und der damalige Fermentierungsbeauftragte David Zilber im »Guide«. Im Gegensatz zu Katzʼ wilder subkultureller Grassroots-Ästhetik kommt der Ansatz des Noma sehr aufgeräumt daher. Trotz aller dänischen Demokratisierungsbeschwörung ist Fermentation hier nicht mehr ›basic‹ und ›low-tech‹, sondern wird zu einer Angelegenheit des Labors, das man als heimische »fermentation chamber« mithilfe einer Anleitung im »Guide« nachbauen kann.

Fast wähnt man sich im Pasteur’schen Labor, wenn man auf dem Instagram-Account des Noma Labs all die Heizmatten, Filter, Trichter, Homogenisatoren, Zentrifugen, Rotationsverdampfer, Luftbefeuchter und Luftfeuchtigkeitsmessgeräte, Druckluftschleusen, Thermostate und Thermometer bestaunt. Aber anders als bei Pasteur geht es dem Noma nicht um eine wissenschaftliche Erforschung der Bakterien, Hefen und Schimmelkulturen mit dem Ziel ihrer ultimativen Bekämpfung bzw. Domestizierung. Im Zentrum steht vielmehr die Mobilisierung der Mikroben als innovative kulinarische Ressource. Dabei kommt eine eigentümliche Ästhetisierung des Labors als purifiziertem Raum zum Tragen, innerhalb dessen kontaminierter Zonen auf experimentellem Wege neue Geschmäcker geboren werden. Im Labor des Noma wird nichts dem Zufall überlassen: Statt die Bakterien einfach machen zu lassen, werden Verfahren wie die »Endofermentation« angewendet, bei der Bakterienkulturen einem Apfel mit einer Spritze injiziert werden. Die Transformation des Apfels kann nun in einer sauber abgetrennten luftdichten Umgebung beobachtet werden, um am Ende des Experiments schließlich ein kritisches Urteil darüber zu fällen, ob das Ergebnis es ins Noma-Menü schafft. Mit ihrem Mantra »stay curious« – so wird jeder Instagram-Post beendet – treten die Noma-Fermenteure im Gestus von Biohackern auf. Es gilt herauszufinden, zu welchen Leistungen die Bakterien sich treiben lassen, indem man sie möglichst weit aus ihrer Komfortzone idealer Temperaturen, Licht- und Feuchtigkeitsverhältnisse herauslockt. Nicht der reine Wohlgeschmack, sondern die Kreierung innovativer, ›interessanter‹ Geschmäcksnoten steht im Vordergrund.

Hier sind wir mit einer anderen subkulturellen Ästhetik als bei Katz konfrontiert, nämlich mit einer cleanen skandinavischen Coolness. Durch den kanadischen Fermentierungsbeauftragten David Zilber wird diese auf eine neue Stufe gehoben. Im Porträt werkelt Zilber nicht wie Katz in einer chaotischen, aus Prinzip plastikfreien Küche, sondern posiert etwa in einer Bildstrecke des »Interview« in einem flashy gold-türkisen Lanvin-Anzug und Balenciaga-Sneakern, lässig an die polierte Edelstahl-Arbeitsfläche des Fermentation Labs gelehnt. Zilber ist nicht nur Koch und Fotograf, sondern auch Fashionisto. Außerhalb der Küche trägt er Vetements, Raf Simons und Issey Miyake und wurde vom »The Globe and Mail« zu einem der zehn bestgekleideten Kanadier gekürt. Als Hintergrundreferenz schwingt dann auch nicht mehr Punk, sondern eher Techno mit, wenn Zilber im Interview den Unterschied zwischen Fermentieren und Verfaulen so erklärt: »Fermentieren ist wie Nachtclub, nur die coolen Bakterien dürfen rein« (»Die Zeit«). Uncoole, d.h. pathogene Bakterien müssen bei jedem erfolgreichen Fermentationsvorgang ausgeschlossen werden – dafür braucht es in der Regel kein Labor. Auch Katz muss bei seiner mikrobischen Pantry-Party diese Einlasskontrolle in Form einer strikten Innen-Außen-Grenze zwischen Glas und Außenumgebung installieren, aber das Noma hat eindeutig die härtere Tür.

Dass Mikroben gerne Musik hören, ist übrigens keine abwegige Metapher. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Fermenteuren bis hin zu großen Unternehmen, die ihren Fermenten routinemäßig Musik vorspielen, um den Geschmack des Endprodukts zu verbessern, ihn voller, weicher und weniger bitter zu machen. Wie die »Korea JoongAng Daily« in Assoziation mit der »New York Times« berichtet, reagiert Sojasauce beim Fermentationsvorgang positiv auf Bach und Vivaldi – wichtig ist langsame, organische Musik. Diese »music-food fermentation method« brachte der »Sunshine Soy Sauce«, die sie als erste in großem Maßstab anwandte, immerhin 100 Millionen verkaufte Flaschen und einen Marktanteil von 50 % ein. Makgeolli (koreanisches Reisbier) sowie der Reisschnaps Soju vertragen hingegen auch die neusten K-Pop-Hits. Aus dieser Perspektive gehört Musik zum Terroir, genauso wie die Rohzutaten und klimatische sowie Stoffwechselprozesse in das Endprodukt direkt oder indirekt eingehen.

Umgekehrt produzieren Fermente ganz eigene Sounds, etwa durch Blasenbildung und das Entweichen von Gasen. Der Philosoph und Künstler Tyler Fox zeigt in einer Installation, wie das Ferment klingt: Im Sound-Projekt »Fermentum« stattet er ein Glas Kimchi mit ph- und CO2-Sensoren aus, die Echtzeitveränderungen des Kohls in Soundspuren umwandeln. Inzwischen hat sich ein heterogener Strang der Fermentierungskunst herausgebildet: Das Netzwerk »Fermenting Feminism« versammelt Performances mit Titeln wie »gut feelings«, fermentierte Modekollektionen mit Kleidungsstücken aus dem Kombucha-Pilz SCOBY – eine Abkürzung für ›symbiotic culture of bacteria and yeast‹ –, Gedichte, Zeichnungen und Bilder rund um den Komplex ›food, feminism and fermentation‹; das Projekt »Decomp« experimentiert mit der ›Fermentierung‹ eines Buchs und der anschließenden Kompostierung von Bedeutung; in ihrem Debütroman »Paradise Rot« entwirft die Künstlerin und Musikerin Jenny Hval umgekehrt das atmosphärische Szenario einer alten Brauerei, die – nunmehr als Wohnung einer norwegischen Biologiestudentin – zu einer Art fermentierten Landschaft wird, was pitchfork.com als »Stunning Slice of Fermented Life« bezeichnet. Im Rahmen des weltweit in zahlreichen Städten regelmäßig stattfindenden Eventformats »Fermentation Festival« finden solche künstlerischen Positionen neben Sauerkraut-Workshops und Vorträgen über das Darm-Mikrobiom Platz.

Wie zu erwarten, kommt aus Foxʼ experimenteller Sound-Installation kein Popsong heraus. Aber die klassische, d.h. mehr oder weniger melodische Popmusik lässt sich ihrerseits vom Ferment inspirieren, und zwar quer durch alle Genres: von der japanischen Shoegaze-Band Mass of the fermenting dregs – ›dregs‹ steht für Bodensatz oder Abschaum – über die Hip-Hop-Band Fermented Reptile bis zur Folklore-Gruppe Zoyres Eastern European Wild Ferment. Das Genre aber, das sich am stärksten vom Fermentationsprozess angezogen fühlt, ist der Death Metal Underground. Bei der Gaggenauer Band Necrophagist – übersetzt ›Esser der Toten‹ – ziehen sich die Fermentierungsbezüge durch Albentitel wie »Onset of Putrefaction« (darauf zu finden: der Song »fermented offal discharge«). Kollegen aus dem Death-Metal-Spektrum heißen Fermenting Innards, Fermented Plague, Fermented Masturbation oder schlicht Fermentor bzw. Ferment.

Diese Nähe zwischen Death Metal und Fermentation ist kein Zufall. Denn Fermentation bedeutet nicht nur fröhliche, kreative und lebendige Transformation – wie viele Positionen der Fermentierungskunst und -subkultur suggerieren –, sondern auch Verfall, Zersetzung und Tod.  Im Prozess der Fermentierung schalten Mikroben mit ihrem Zellmetabolismus andere, ›böse‹ Mikroben in einer nekrologischen, zombieartigen Bewegung zwischen Selbsterhaltung und Selbsteliminierung aus. Die Mikroben sind indifferent und erbarmungslos. Ihr einziges Ziel ist es, sich zu vermehren. Würde die dünne Membran unseres Magen-Darm-Trakts den restlichen Körper nicht vom Fermentierungsprozess in unserem Magen trennen, würden die Bakterien uns ohne zu zögern fermentieren. Nichts anderes geschieht nach dem Tod. Sandor Katz öffnet sich dieser dunklen Seite der Fermentation, wenn er am Ende von »Wild Fermentation« den Wunsch äußert, nach seinem Tod nicht kommerziell bestattet, sondern möglichst schnell von der Erde fermentiert zu werden, um so das Futter für neues Leben in der zyklischen Kompostbewegung des Humus bilden zu können. Der Death Metal reagiert auf diese dunkle Dimension der Fermentation, indem er die Grenze des Hörbaren ausreizt. Was man im Song »Fermentative« von den Putrescent Remains hört, ist jenseits von Gut und Böse, Leben und Tod. Es kommt von unten, aus dem Inneren, Dunklen, nicht Sichtbaren und zieht die Hörerin in einen beunruhigenden, dumpf schmatzenden Geräuschstrudel hinein.

Die Unhörbarkeit dieser Musik führt vor, dass Fermentierung als Pop letztlich weder visuell – wie in der Fermentierungskunst – noch akustisch als Fermentierungsmusik darstellbar ist. Die kreativen Transformationen des Fermentierungsvorgangs sind nicht das Werk einer menschlichen (Pop-)Künstler*in, sondern das Abfallprodukt der unendlich kleinen, unendlich vielen Akteure der Fermentation, der Mikroben. Am besten kann man sich ihrem Schaffen durch Riechen oder Schmecken nähern, das heißt mittels der »niederen Sinne« (Georg Simmel), die die Distanz des Sehens und Hörens zu ihrem Objekt überwunden haben. Fermentierung als Pop ist ein unheimlicher Prozess, der buchstäblich durch uns hindurchgeht.

 

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