Pop heute
von Thomas Hecken, Elena Beregow, Moritz Baßler, Sonja Eismann
22.5.2023

Zur künstlerischen und politischen Bedeutung gegenwärtiger Popkultur einige Bestimmungen und Vermutungen

Pop heute – so das Thema der Jubiläumsveranstaltung der »Pop«-Zeitschrift (24.05.2023 im Museum Ludwig in Köln). Im Vorfeld haben Sonja Eismann, Moritz Baßler, Elena Beregow und Thomas Hecken kurze Texte dazu verfasst.

Thomas Hecken: Noti­zen zu Pop-Art, Popstar, Popmu­sik und Popkul­tur

Die besondere Bedeutung von Pop für die Freizeit und den Lebensstil vieler Menschen dürfte unbestritten feststehen. Selbst wer nicht der Meinung sein sollte, dass Nicki Minaj, Tommy Jeans, Kristen Stewart, TikTok-Tänze, Mode-Influencerinnen, Metal-Festivals, H&M-Werbung den Höhepunkt moderner Zivilisation darstellen, wird akzeptieren müssen, dass es sich insgesamt keineswegs um eine vergängliche Erscheinung handelt.

Trotz dieser seit Jahrzehnten offenkundigen Tatsache ist das Reden über Pop oftmals blass oder bemüht locker. Meistens geht es zudem nicht über Wertaussagen oder Rückgriffe auf ältere Folk- und Massenkulturüberzeugungen hinaus. Die Frage nach der heutigen Bedeutung der Popkultur erfordert darum eine etwas längere Antwort, nicht nur, weil es recht unterschiedliche Bereiche und Ansätze gibt: Pop-Art, Popstar, Popmusik, Popkultur, Pop als Subversion, Pop als moderne Kulturindustrie etc.

Einzeln betrachtet und knapp bilanziert:

Pop-Art. Aktuelle Artefakte, die in Galerien zu sehen und zu kaufen sind, werden kaum oder gar nicht mehr von den Ausstellern und Rezensenten als Werke der Pop-Art klassifiziert. Pop-Art ist zu einer historischen Kategorie geworden, die bloß bei Retrospektiven oder Auktionen von Werken aus den 1960er und beginnenden 1970er Jahren zum Einsatz kommt. Dies liegt nicht daran, dass die Grenze zwischen ‚high‘ und ‚low‘ gefallen ist. Im Gegenteil, die Galerien-Kunst, von der Teile auch (später) in Museen vertreten sind, beruht streng auf solch einer Trennung. Auch wenn sie nicht mehr so stark mit einem Werturteil zum Ausdruck gebracht wird, das strikt ‚populäre‘ und ‚hohe‘ Kunst voneinander trennt, sorgt bereits die wichtige Unterscheidung zwischen Unikaten und massenhaft reproduzierten Artefakten für diese Trennung.

Popmusik. Verwendet man ‚Popmusik‘ nicht als Oberbegriff, der sehr viele Arten moderner ‚populärer Musik‘ umfasst, sondern markiert mit ‚Popmusik‘ einen Unterschied zu Rock, Soul und Hip-Hop, sieht man rasch, dass solche Popmusik in der Gegenwart floriert. Sie profitiert nicht nur von einer wachsenden Anerkennung, die sich dem gehobenen Status von früher als ‚weiblich‘ und ‚oberflächlich‘ eingestuften Werten sowie von queeren Szenen verdankt. Sie profitiert auch von dem Umstand, dass sie sich stets eine gewisse Neuheit erhält, weil sie technologische Innovationen (etwa Autotune) rasch und deutlich hörbar nutzt und auf diese Weise auch mühelos einzelne Elemente (etwa Soul-Rhythmen und Rap) anderer Genres einbeziehen kann.

Popstar. Soll mit ‚Popstar‘ etwas anderes verbunden werden als der traditionelle Verweis auf Individuen, die auf charismatische Weise eine große Masse in ihren Bann ziehen, liegt es nahe, einen anderen Modus herauszustellen. Dieser Modus besteht darin, das Publikum auf eine Weise an sich zu binden, die nicht in Ausbildungsstätten und Akademien gelehrt und erlernt wird. Diese Art von Popstartum besitzt auch und gerade in der Gegenwart eine große Bedeutung – bei Stars, die nicht mehr nur neben ihrer Tätigkeit als z.B. Schauspieler auch mitunter moderieren, singen, Homestorys anfertigen lassen, sondern deren Beruf genau darin besteht, keinen zu haben. Bekanntheit erlangen solche Social-Media-Stars durch die Präsentation von (großen) Teilen ihres Lebens – eines öffentlich gemachten Lebens bzw. einer Reihe von Handlungen, die denen ähneln, die bei anderen zur Freizeit und dem Intimbereich gehören.

Popkultur. Soll wiederum unter ‚Popkultur‘ nicht einfach die Addition oder Relation von Pop-Art, Popmusik, Popstars verstanden werden, braucht es zusätzliche Angaben. Blickt man auf die Tradition der Rede über Pop seit Mitte der 1950er Jahre, ist etwa folgende Konstellation denkbar, bei der ‚Popkultur‘ aus sechs Komponenten besteht (die folgenden sechs Punkte sind diesem Aufsatz entnommen): Oberflächlichkeit (1), Funktionalität (2), Konsumismus (3), Äußerlichkeit (4), Künstlichkeit (5), Stilverbund (6).

Mit dem ersten Punkt, Oberflächlichkeit, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Pop sich beim Design von der reinen Orientierung an technischen Zwecken distanziert und in diesem Zusammenhang die Oberflächen nicht nur im Sinne von aerodynamischen, ergonomischen etc. Zielen bearbeitet (oder im Sinne der Materialgüte weitgehend unbearbeitet lässt), sondern sie mit Zeichen, Ornamenten, Farben ganz oder teilweise bedeckt. Das setzt sich auch fort bei planen Gegenständen, z.B. menschlicher Haut, Verpackungspapier, T-Shirts, Websites, die mit Grafiken, Slogans, Tattoos etc. geschmückt oder für andere Funktionen hergerichtet werden.

Popfunktionalität (der zweite Punkt) liegt darin, für Belebung zu sorgen, angenehm zu erregen, den Körper vorübergehend intensiv in Bewegung zu bringen, Attraktivität zu erhöhen und eine nette, heitere Stimmung oder eine coole Haltung zu ermöglichen oder auszulösen. Nicht dazu gehört z.B. die Funktion nachhaltiger Bewusstseinsveränderung oder der Versuch, Kunst und Leben, Freizeit und Arbeit vollständig verschmelzen zu lassen (hierfür sind andere Begriffe reserviert, etwa ›Avantgarde‹ oder ›Underground‹). Verbunden mit der angestrebten Popfunktionalität ist häufig eine Abneigung gegen staatliche Institutionen (von der Schule bis zur Verwaltung) und gegen privatwirtschaftliche Organisationen, die als langweilig abgetan werden; zu einer ausgeweiteten politischen Kritik an ihnen oder gar dem Versuch, sie tiefgreifend zu verändern, führt dies aber nicht.

Mit – drittens – Konsumismus ist gemeint, dass es innerhalb der Popkultur als wichtig angesehen wird, sich berieseln, zerstreuen, unterhalten zu lassen. Aufrufe zum aktiven Leben, die über die Forderung, einzuschalten, mitzusingen, zu tanzen, etwas anzuklicken etc. hinausgehen, sind darum keine Popmaximen.

Beim vierten Punkt, Äußerlichkeit, kommt das Oberflächliche wieder ins Spiel, nun aber in seiner metaphorischen Bedeutung (es geht hier nicht mehr um die Gestaltung und Beschaffenheit dreidimensionaler Gegenstände). Der Klang der Stimme ist in der Popkultur mindestens genauso wichtig wie die Aussage. Beim Text gilt die Aufmerksamkeit der manifesten Botschaft, nicht möglichen Sinndimensionen, die eine biografisch, mythologisch oder weltanschaulich inspirierte Interpretation mit einigem zusätzlichen Zeitaufwand zutage bringen müsste. Das Fotoporträt gilt wegen der Attraktivität des Abgebildeten als gelungen, nicht wegen der Vermutung, der Fotograf habe die Persönlichkeit oder Seele des Porträtierten erschlossen. In ungewöhnlich hohem Maße werden im Popbereich Phänomene geschätzt, die kaum oder gar nicht zu einer entfalteten, motivierten und abgeschlossenen Erzählung beitragen: Glamour, zielloser Flirt, Sounds, Repetitionen.

Der fünfte Punkt, Künstlichkeit, sieht Pop mit den großen technologischen Umwälzungen verbunden. Die Abkehr vom Natürlichen ist im Bereich der Popkultur sehr weitgehend vollzogen: Mikrofon, Schneideraum, Tonstudio, Spraydosen, Schminke, Botox, Dildos, Augmented-Reality-Filter, Synthesizer- und Sampler-Software, digitale Geräte und Displays zählen zu den wichtigsten Instrumenten und Materialien des Pop. Von den Popkünstlern oder -anhängern wird das intuitiv oder bewusst berücksichtigt: Sie verhalten sich zurückhaltend, skeptisch, ironisch, indifferent oder offen ablehnend gegenüber der Verpflichtung aufs Tiefe, Echte, Ursprüngliche. Selbst wenn sie das Authentische, Erdverbundene, Traditionelle etc. mit Worten feiern, verzichten sie nicht einmal ansatzweise auf die diversen Technologien von Social Media bis hin zum ‚natürlichen Make-up‘

Mit dem sechsten und letzten Punkt, Stilverbund, soll angezeigt werden, dass ein Stil im Popbereich sich sowohl über eine einzelne Kunstgattung als auch über den Bereich der Kunst insgesamt hinaus erstreckt. Ein festgestellter Stil betrifft dann z.B. nicht nur Musik und Tanz, sondern auch das Design von Gütern des täglichen Bedarfs, die Frisurenmode, einen speziellen Jargon usw. Er ist zudem nicht beschränkt auf die Konzeption eines Designers, auch nicht auf die begrenzte Zeit und den abgetrennten Ort einer Festveranstaltung, sondern viel stärker mit dem Alltag und einer Mehrzahl an Akteuren verknüpft.

Nutzt man nun diese Punkte, um die heutige Popkultur einzuschätzen, lässt sich ein Bedeutungsverlust nur konstatieren, wenn man sich auf popkulturelle Zusammenhänge konzentriert, die sich rund um Popmusikstile erstrecken. Etwas Ähnliches wie z.B. Punk ist momentan nicht zu erkennen. Dafür gibt es aber viele andere popkulturelle Zusammenhänge, etwa im Ausgang von Social-Media-Trends, von Sport- und Modemarken, aber auch im Ausgang von Musikstilen, die lediglich weniger öffentliche Aufmerksamkeit gezollt bekommen, als es etwa zur Hochzeit von Punk der Fall war.

Pop und Politik. Das führt zum letzten Punkt, der heutigen politischen Bedeutung der Popkultur. Da solch spektakuläre ‚moral panics‘ wie etwa zu Zeiten von Punk und später Rave ausbleiben, könnte man geneigt sein, diese Bedeutung aktuell wesentlich geringer zu veranschlagen. Auch aus einer Perspektive, die sich von Pop wichtige Impulse für eine Überwindung der an Leistungskontrolle und Arbeitsproduktivität ausgerichteten Gesellschaft versprach, scheint es kaum mehr möglich, der Popkultur eine auch nur annähernd subversive, gar revolutionäre Potenz zuzumessen. Genau aus solchen Beobachtungen lässt sich aber leicht ableiten, welch politische Kraft Teilen der Popkultur innerhalb der liberalkapitalistischen Gesellschaft zukommt.

Nicht nur trägt sie zum Bestand und zur Attraktivität dieser Gesellschaftsform bei, sie sorgt in ihr auch auf eigene Weise für wichtige Änderungen. Hier ist vor allem die in den letzten beiden Jahrzehnten stark zunehmende Durchsetzung anti-maskuliner und queerer Haltungen zu nennen. Damit soll nicht von vornherein bestritten werden, dass parteipolitische Initiativen und gut organisierte soziale Bewegungen vielleicht eine wichtigere Rolle gespielt haben. Selbst wenn dies so sein sollte, wäre aber die politische – liberale – Bedeutung der Popkultur nicht zu vernachlässigen. Darum steht zu vermuten, dass Staaten wie Russland und China, die sich vom sozialistischen Wirtschaftssystem abgewendet haben, in Zukunft trotz der grundsätzlichen (nicht zuletzt ökonomischen) Förderung des Popkonsums in ihren Ländern noch stärker versuchen werden, den künstlich-queeren Anteil der Popkultur zu diskreditieren.

 

Elena Beregow: Mikro-Trends und die Nischi­sie­rung des Main­stre­ams

Pop heute hat den Gegensatz von Mainstream und Subkulturen überwunden. Befürchtungen, damit sei Pop insgesamt an seinem Ende angelangt, muss das aber nicht wecken. Pop ist so nischig und so schräg wie nie. Gegenüber einer relativ stabilen Zugehörigkeit zu Subkulturen oder Szenen (die es unbestritten nach wie vor gibt) werden hierfür aber Mikrotrends wichtiger, die Mode, Musik und digitale Bildästhetiken durchwandern. Nach Normcore kamen Gorpcore, Dadcore, Weirdcore, Cottagecore, Bimbocore und viele mehr.

Diese Mikrotrends zeichnen sich durch eine relativ kurze Dauer und wechselseitige Überlagerung aus. Sie leben von ihrer Selbstthematisierung und Selbstbehauptung (als new thing), sie brauchen die -core-Labels, die mal eingängig, oft aber auch rätselhaft, ja esoterisch sind. Sie wissen um ihre Flüchtigkeit und nehmen sich selbst nicht allzu ernst, richten sich aber genauso wenig vollständig in ironischer Distanz ein. Sie müssen zirkulieren, wiederholt und behauptet werden, um wirksam zu sein. Die Labels sind von vornherein als Hashtag aufgebaut und damit durch und durch postdigital konfiguriert – gar nicht mehr zu trennen von den Interfaces, Oberflächen und Ausdrucksformen von Social Media, von Memes, Selfies, Likes und Filtern.

Das macht Pop heute einerseits hypergegenwärtig, andererseits hört das Stöbern im Pop-Archiv mit den Mitteln des Postdigitalen nicht auf. Seit einiger Zeit sind die frühen 2000er Jahre Gegenstand popkultureller Faszination, was sich in der ganzen Breite der Popkultur (Mode, Musik, Serien, Social Media) abbildet. Unter dem Schlagwort Y2K ist die 2000er-Sensibilität im Alltag in Form von Low-rise-Cargohosen, bauchfreien Tops und chunky Sneakern lange angekommen. Wenn es darum geht, solche Pop-Phänomene kritisch einzuordnen, ist schnell von Retromanie oder Nostalgie die Rede – verbunden mit der Vermutung, diese beförderten eine konservativ-sentimentale oder gar entpolitisierte Haltung. Solche Diagnosen machen es sich aber zu leicht, wenn es darum geht, Pop heute zu verstehen. Denn sie machen blind für seine spezifischen und oft ambivalenten Ästhetiken.

Richten wir den Blick schlaglichtartig auf aktuelle Mikrotrends, die mit der 2000er-Sensibilität in Verbindung stehen. Einer der letzten ist romcom-core. Die verträumte Stimmung der romantischen Komödie um 2000 wird neben bestimmten Looks durch eine Ästhetisierung des Alltags erreicht, durch die man sich zum „main character“ eines Skripts macht („channeling your inner Meg Ryan“). Romcom-core kultiviert ein Genre, das als besonders naiv, belanglos und künstlerisch minderwertig gilt – ein Genre zudem, das als Unterhaltung für Frauen belächelt wird. Wenn die entsprechende Mode nun zitiert wird, geschieht etwas Neues damit, und Vorstellungen von Liebe, Geschlecht und legitimer Kultur werden möglicherweise neu ausgehandelt.

Ein ganz anderes Phänomen, das den Geist der 2000er wachruft: Sped-up-Versionen von Popsongs auf TikTok. Von nahezu jedem Popsong, ob aktuell oder älter, findet man auf Youtube, Spotify etc. eine beschleunigte Version mit hochgepitchter Chipmunk-Stimme und peitschenden Beats, der Nightcore der frühen 2000er lässt grüßen. Alte Pophits werden so in verfremdeter Weise neu gehört; geschaffen wird eine verzerrte, gemorphte Nostalgie, die der eigenen Erinnerung nicht traut. Es ist eine Nostalgie, die sich mit den allgemein zugänglichen technologischen Mitteln der Gegenwart (Apps, Programme) zu einer Ästhetik der Unruhe, des Düsteren, Aufgekratzten und Abhandengekommenen verbindet, indem sie die Grenzen des Hörbaren ausreizt.

Diese Phänomene und Mikrotrends sind dem Herzen des Pop-Mainstreams (bzw. im Fall von Nightcore bereits seiner überdrehten Übersteigerung) entlehnt. In ihrer heutigen Aneignung als Mikrotrends sind sie aber weird, nischig und esoterisch, ohne an bestimmte Szenen gebunden zu sein. Sie erlauben eine Auseinandersetzung mit dem Jetzt, die neben der Spur ist und zwischen Nostalgie und Futurismus oszilliert. Dieses Dazwischen ist kein Zufall, denn ein emphatischer Bezug auf die Zukunft ist angesichts diverser Krisenerfahrungen zweifellos prekärer geworden.

Tatsächlich mehren sich die No-future-Momente, man denke an die Ästhetik der Langeweile, Pharmazeutika und Depression oder an die aktuell wieder steigende Attraktivität des Rauchens (von Tabak!). Zum Wort des Jahres 2022 hat das Oxford English Dictionary „goblin mode“ gekürt – das scheint narrativ fast konsequent nach „Post-Truth“, „toxic“, „climate emergency“ und „vax“. Goblin mode meint „ein demonstrativ egomanes, faules und schludriges Verhalten, jegliche Erwartungen an einen selbst ablehnend“, wie es in der Pressemitteilung heißt.

In dieser Konstellation verschmilzt die Popkultur immer mehr mit Bereichen, die üblicherweise als popfern gelten und sich nicht ohne weiteres mit klassischen Pop-Kriterien wie Künstlichkeit, Oberflächlichkeit oder Äußerlichkeit zusammenbringen lassen. Zwei davon seien hier in aller Kürze skizziert: Politik und Religion. Die Zeiten einer unpolitischen Popkultur sind vorbei. Die 1990er und 2000er mit ihrer Rom-com- und Sitcom-Kultur mögen auf den ersten Blick nostalgisch zurückersehnt werden, weil die Welt damals vermeintlich noch in Ordnung war: unbeschwert, leicht, sorglos.

Dass diese Kultur aus heutiger Sicht aber schwer zu idealisieren ist, wenn es etwa um Geschlechterrollen und Körperbilder geht, dass es kaum Sensibilität für das gab, was wir heute bodyshaming oder slutshaming nennen, dass es sich um ein fast rein weißes Genre handelt – all das springt einen heute regelrecht an, ohne dass man dazu sonderlich viel kritische Sensibilität aufbringen müsste. Denn der zeitgenössische Blick ist sozialisiert durch Netflix-Produktionen, Werbungen und Musikvideos, die Diversität, Feminismus, Body und Queer Positivity hochhalten. ProSieben gendert. Transfrauen bei Germanys Next Topmodel sind so normal, dass das keiner großen Thematisierung mehr bedarf.

Das ist der Mainstream der heutigen Popkultur. Ohne Zweifel ist Sexismus nach wie vor allgegenwärtig, und das neue Vokabular von Diversität, Empowerment und Feminismus folgt einer gut konsumierbaren, marktförmigen und gouvernementalen Logik. Es ist aber genau die Allgegenwart jener entleerten und lifestyligen Labels, die Popkultur fortlaufend politisiert und Themen wie Sexismus auf relativ einfache Weise adressierbar macht.

Dass in einer solchen Popkultur-Landschaft – postdigital, mikrotrendig, goblinartig gemorpht, politisiert – Religion eine Rolle spielt, mag vielleicht auf den ersten Blick überraschen. Auf dem aktuellen Album von Lana Del Rey, „Did you know that there’s a tunnel under Ocean Blvd“ ist auf dem Track „Judah Smith Interlude“ eine Predigt des gleichnamigen Pastors der überkonfessionellen Kirche „churchome“ zu hören.

Es handelt sich um eine „Celebrity Megachurch“, an deren Messen neben Lana Del Rey auch Justin Bieber, Kanye West, die Kardashians und Tausende Millenials und Zoomer regelmäßig teilnehmen – vor Ort und auf Social Media. Ebenso titelte die New York Times kürzlich „New Yorks Hottest Club is the Catholic Church“, mit Bezug auf beliebte Podcasts und Celebrities, die sich dem Katholizismus zuwenden. Selbst hierzulande konnten wir neulich der Ikone der Popliteratur, Rainald Goetz, dabei zuhören, wie er die (katholische) Messe als Party zelebrierte.

An Podcasts wie „Red Scare“ kann man sehen, wie Katholizismus sich selbst in die Logik der Mikrotrends einfügt: #red scare podcast #catholic girl #trad wife #fawn bambi #coquette russian #bimbocore #lana del rey #slavic girl – so einige der Hashtags, die den dezidiert antiwoken Geist des Podcasts zwischen Neoliberalismuskritik, Psychoanalyse und dem Flirt mit traditionellen Geschlechterrollen zusammenfassen. Lana Del Rey ist hier eine feste Inspirationsquelle. Ihre Fans reagieren teils entsetzt auf das neue Album, denn der gefeierte Judah Smith ist für Aussagen gegen Abtreibung, Homosexualität und Sex vor der Ehe bekannt, von denen er sich trotz inklusiver Parolen nie distanziert hat.

Religion und Politik gehen eine tiefe Fusion mit der heutigen Popkultur ein. Religion wird einerseits selbst zum Mikrotrend und zum hot take, zeigt aber auch, dass Popkultur keineswegs immer progressiver, inklusiver und emanzipativer wird. Trotz des inhärenten Pop- und Camp-Appeals des Katholizismus (Scheu, Exzess und Obsession) ist dieser mehr als reines Zitat und schon gar keine Satire (wie verzweifelte Fans Lana Del Rey unterzuschieben versuchen). Nein, es geht hier um echten Glauben, der inspiriert durch und mit den Mitteln der Popkultur selbst betrieben wird. Oder wie Papst Franziskus es auf Twitter ausdrückte: Maria war die erste Influencerin, die „Influencerin“ Gottes.

 

Moritz Baßler: Eine Frage des Modus

Nachdem sich die Produktion von Pop im Sinne glänzender Oberflächenkunst im Wesentlichen nach Asien verlagert hat, bleibt Pop in der hiesigen Kulturlandschaft, so meine These, vor allem als Modus interessant.

„Wer es nicht permanent schafft, gleichzeitig Ironie, Selbsthass, Nostalgie, Affirmation und Konterrevolution in sich selbst auszuhalten, ist ein Hurensohn, der die Schichtungsverhältnisse der Gegenwart nicht verstanden hat“ (Groß 2018, S. 307), schreibt Joshua Groß, Autor pop-affiner Gegenwartsromane wie Flexen in Miami (2020) und Prana Extrem (2022). Modal werden diese Schichtungsverhältnisse dadurch, dass sie die Semantik jeder einzelnen Setzung über die mitgegebenen Alternativen bestimmen, was heißt: zugleich definieren und relativieren.

Gleichzeitig aushalten bedeutet, dass die Selektion in diesem Fall, anders als in der klassischen strukturalistischen Paradigmatik, die jeweils nicht aktualisierten Möglichkeiten nicht in die Latenz des Codes verweist. Stattdessen müssen sie als potenziell simultan präsente in der Lektüre ebenfalls aktualisiert werden. Auch im Netz stehen die alternativen paradigmatischen Möglichkeiten jederzeit nebengeordnet zur Verfügung, und zwar materialiter. Sie könnten nicht nur ebenso gut sein, sie sind es; und zwar deshalb, weil das Angebot, das sie machen, von anderen Stilgemeinschaften als der meinen (oder auch von mir zu einem anderen Zeitpunkt) ebenfalls nachgefragt wird. Selegiere ich also etwas Bestimmtes, dann nicht aufgrund seines höheren Wahrheitswertes, sondern aufgrund seiner höheren Attraktivität. Der beschriebene Modus ist demnach die heutige, postdigitale Fassung der berühmten Anführungszeichen, in denen Pop (und schon Camp) seine Setzungen tätigt. Sie definiert den Pop-Text in seiner Modalität sowie, weiter gefasst, in seiner Ästhetik.

Es ist dieser paradigmatische Modus, der Pop derzeit von dumpferen Spielarten eines Populären Realismus unterscheidet. Dabei muss sich die auszuhaltende Ambiguität keineswegs nur auf die Sprechinstanz beziehen, in mehr oder weniger komplexer Erfüllung des Pop-Grundgesetzes nach Diederichsen, laut dem es „konstitutiv für alle Pop-Musik [ist], dass in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht (Diederichsen 2014, S. XXIV).“ In Prana Extrem wird z.B. zugleich die Klimakrise verhandelt und das SUV-Fahren gefeiert.

Allerdings kommt der Autorinstanz besondere Bedeutung zu aufgrund des generellen autofiktionalen Anspruchs, der von Gegenwartsliteratur und anderen -künsten derzeit erhoben bzw. erwartet wird. Es ist bezeichnend, dass dieser autofiktionale Trend derzeit geradezu in Opposition zu Pop valorisiert wird, als ernst/diskursiv/engagiert im Gegensatz zu ironisch/spielerisch/privilegiert. Dabei hat Pop ja fast immer autofiktionale Züge, nur bleiben diese eben in besagten modalen Anführungszeichen, so auch in den postironischen Autofiktionen seit Rainald Goetz’ Stirnschnitt (z.B. Christian Kracht: Eurotrash, 2021), während stumpfere Varianten die Schichtungsverhältnisse im Sinne einer Vereindeutigung ‚realistisch‘ verdrängen (z.B. Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse, 2021).

Wo Pop seine Setzungen in einem Raum gleich gültiger Möglichkeiten tätigt und als Teil desselben im gleichen Zug immer schon relativiert, praktiziert – ich sage mal: – Non-Pop „die empörte ‚Vorführung’ der Anrechte des Realen auf die Sprache (Barthes 2010, S. 308)“ (‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘ bzw. ‚Das muss endlich eine Stimme bekommen‘). Ein Beispiel liefert die Rezeption des Ballermann-Hits Layla (2022), die Johannes Schneider beobachtet hat. Vor der Inkriminierung als frauenfeindlich und der vermeintlichen Cancelung sei diese „durchaus ironisch“ erfolgt, „mit einem feinen Bewusstsein dafür, dass man hier die unterste Schublade aufzieht, auch um sich dabei als lächerlich verrenkte Figur selbst beobachten zu können.“

Nach der Skandalisierung des Songs dagegen „verschwand bei Feiernden im ganzen Land die selbstironische Leichtigkeit“ und wich einem „bedrohliche[n] Trotz“: „Layla wurde zur Freiheitshymne derer, die sich in größtmöglicher Freiheit die Gefangenschaft herbeireden lassen. Wie laut es dann in den Zelten wurde, jedes der unzähligen Male, die das vermeintlich verbotene Lied erklang, das hatte schon etwas Unheimliches, weil Aufgehetztes (Schneider 2023, S. 216).“ Ersteres ist Pop, letzteres nicht; und zwar in genau dem Sinne nicht, in dem schon 1974 ein Schlager wie Tina Yorks Wir lassen uns das Singen nicht verbieten kein Pop war.

Wo eine Politisierung im Sinne einer solchen Desambiguisierung wirkt, steht sie, so meine ich, Pop auch heute noch tendenziell entgegen. Umgekehrt ließe sich gerade im Pop-Modus, wenn man ihn mit Groß als Übung im Aushalten der komplexen Schichtungsverhältnisse der Post-Postmoderne oder auch als Gegenprogramm zu jeder Behauptung von Alternativlosigkeit versteht, ein Politisches erkennen. Zumal umgekehrt „dem Grollen“ der Empörten und Dauergekränkten, von denen derzeit eine Bedrohung demokratischer Strukturen ausgeht, „strukturell eine Skepsis gegenüber Ambiguitäten innewohnt, greifen diese doch die Eindeutigkeit der Schuldzuweisung und damit die eigene Selbstbehauptung an (Amlinger/Nachtwey 2022, S. 141).“

Die Unterstellung, der komplexere Pop-Modus sei nur etwas für irgendwie Privilegierte, die sonst keine Probleme haben, ist dabei klar zurückzuweisen: Wer Rap oder Metal hört, Netflix oder TikTok guckt, sich an Memes freut etc., ist offenkundig dazu in der Lage, Spielarten dieses Modus zu aktualisieren. Einen reflektierten Umgang mit postdigitalen Zeichen, ja der Warenform selbst kann ich mir eigentlich gar nicht anders denken. „Alles ist Pop!“, wie es das Fanzine 59to1 schon Anfang der 1980er formulierte, „und der Rest macht uns auch sturzbetroffen (Diener/Klink 1985).“

Literatur

Amlinger, Carolin/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin ²2022.

Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957]. Berlin 2010.

Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik. Köln 2014.

Diener, Thomas/Dieter Klink (Hg.): Alles ist Pop! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen. München 1985.

Groß, Joshua: Die Zauberberg-Bubble. In: J.G., Johannes Hertwig und Andy Kassier (Hg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Fürth 2018, S. 300-309.

Schneider, Johannes: Von Pippi bis Puffmutter: Ich, komplett gecancelt. In: Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hg.): Canceln. Ein notwendiger Streit. München 2023, S. 211-229.

 

Sonja Eismann: Pop ist alltäg­lich

Wenn ich nach der Bedeutung von Pop heute gefragt werde, antworte ich gerne mit einer Anekdote. In einem Uniseminar in den 2010er Jahren im Bereich der Gender Studies, in dem es um feministische Bewegungen ging, unter anderem auch die Riot Grrrls, wollte sich einer Studentin das Konzept „Popkultur“ einfach nicht erschließen. Was das denn sei, fragte sie mich. Ich stockte zunächst leicht überfordert, einen so komplexen Begriff in wenige Sätze zu fassen, fast so, als hätte mich jemand gefragt, was „Menschlichkeit“ oder „Leben“ bedeute. Ich hantierte in meiner Erklärung stockend mit verschiedenen Genres, mit Stilen, mit Performancebegriffen, Fantum und Affekten, was die Studentin veranlasste, mir mit folgender Formel zu begegnen: „Also ist Popkultur eine Epoche?“

In meiner bis heute andauernden Verblüffung über diese Einschätzung erkläre ich mir ihre zeitliche Begrenzung von Popkultur dadurch, dass sie schlicht nicht sehen konnte, was sie umgab und in was für einem Umfeld sie sich tagtäglich quasi immersiv bewegte. Dadurch, dass Pop ein alltagsstrukturierendes Prinzip geworden ist, das nicht mehr in Opposition zu – ja, zu was eigentlich? – steht, ist er nicht mehr als distinkte Praxis erkennbar. Pop ist das Allgemeine geworden, nicht mehr das Besondere, weder subversiv noch affirmativ. In den letzten Jahrzehnten sind die Trennlinien zwischen einer vermeintlich legitimen Hochkultur und einer illegitimen Popkultur erodiert – nachdem das, was anderswo in vielen Fällen als Middle Brow oder Midcult definiert wurde, sich hierzulande als Popliteratur im Feuilleton etablierte. Nacheinander wurden der Papst und die Börse als „Pop“ proklamiert, und popspezifische Curricula und Studiengänge wurden an Universitäten installiert.

Als Pop gilt für junge Menschen heute zuweilen das, wovon ihre Eltern ihnen begeistert erzählen und was sie in der Schule auswendig lernen müssen. Sie sind es gewohnt, anders als Boomer und Gen-Xer innerhalb ideologischer Staatsapparate oder Lohnarbeitszusammenhänge „poppig“ adressiert zu werden. Pop ist daher nicht mehr das begehrenswerte „Andere des Systems“, sondern einfach eine tägliche Gegebenheit, die nicht hinterfragt wird und mal mehr, mal wenig attraktiv erscheint. Pop scheint einfach immer da zu sein, ohne dass er als solcher benannt wird: Turnschuhe sind Pop, TikTok-Videos sind Pop, Games und Apps sind Pop, Getränke, Make-up und Einrichtungsstile sind Pop. Und noch viel mehr. Auch Musik ist Pop. „Den Leuten gefällt alles, was in den Charts ist“, sagt meine 13-jährige Tochter, manche hören auch zusätzlich Hip-Hop, Deutschrap oder Schlager.

Alben, Genres oder auch Stilepochen spielen keine oder kaum noch eine Rolle. Kate Bushs „Running Up That Hill“, das infolge seiner Verwendung in der Serie „Stranger Things“ fast 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wieder chartete, könnte tatsächlich jünger sein als Harry Styles‘ letztjähriger Megahit „As It Was“. Die neue Indie-Supergroup boygenius, deren queere Weiblichkeit im Jahr 2023 keine Schlagzeile mehr wert ist, kann sich auf der ersten EP 2018 als Crosby, Stills and Nash anno 1968 inszenieren, und auf dem „Rolling Stones“-Cover zum ersten Album wie Nirvana im Januar 1994. Keine der drei Musikerinnen war zu dem Zeitpunkt geboren.

Es ist weniger Retromania, die zu solchen Referenzen führt, sondern eher das Verständnis von Pop als überzeitliches und spezifischen Genres enthobenes Prinzip, aus dessen Präsenzbibliothek (statt Archiv) es sich dank Internet und Streaming konstant bedienen lässt. Daher erstaunt es nicht, dass Pop sowohl majoritär als auch minoritär sein kann, reaktionär wie auch progressiv: Das ikonische Bild von Beyoncé vor den Leuchtlettern „FEMINIST“ bei den MTV Video Music Awards im Jahr 2014 hat maßgeblich mit dazu beigetragen, einen weltweiten Imagewandel des ungeliebten Terminus zu begleiten, ähnlich wie auch Werbekampagnen wie die von Nike mit Colin Kaepernick zu Antirassismus und Inklusion einen großen Schritt zu einem Diversity Capitalism bedeutet haben.

In diesem Kontext erklärt sich auch, wie globaler Pop, der bisher von der Dominanz anglo-amerikanischer Artists geprägt war, tatsächlich globaler wurde. Dass ein Superstar wie Rosalía auf Spanisch statt auf Englisch singt, wundert heute niemanden mehr. Denn wenn Pop überall existiert und überall verfügbar ist, findet er auch überall statt und wird überall wahrgenommen. Trotz dieser – aus meiner Sicht – erdrückenden Beweislage für die Überzeitlichkeit und Omnipräsenz von Pop möchte ich am Ende noch einmal auf die eingangs zitierte Anekdote eingehen. Die Popforschung beschäftigt sich viel mit den Anfängen von Pop, doch, was, wenn Pop wirklich nur eine Epoche wäre? Wann merken wir, wo und wann Pop aufhört – und was kommt danach?

 

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