Die »Butch Medusa« als Dandy?
von Isabelle Abt
4.10.2022

Queer-feministischer Camp in Hengameh Yaghoobifarahs »Ministerium der Träume« (2021)

Die Erlebnisweise Camp wird als einer der „Schlüsselbegriffe der anglo-amerikanisch geprägten, liberalen, westlichen oder verwestlichten Konsumkulturen“ (Scheller 2017: 216) gesehen und wurde spätestens seit Susan Sontags „Notes on ‚Camp‘“ (1964) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zur Bezeichnung eines Stils tauchte der Begriff ‚Camp‘ zum ersten Mal 1909 in einem englischsprachigen Lexikon auf und hat seitdem stark an Wirkmächtigkeit gewonnen, wie Thomas Hecken in seinem Artikel „Camp als Witz“ (hier auch online: erster Teil; zweiter Teil) aufzeigt. Im Jahr 2019 wurde Camp schließlich zum Thema der Met-Gala in New York – ein deutliches Zeichen, dass der Begriff im kulturellen Mainstream angekommen ist.

Die wohl bekannteste Definition des Begriffs liefert Sontag: Camp umfasse eine fehlgeschlagene Ernsthaftigkeit, eine Liebe zum Übertriebenen und der Stilisierung, der Wertung ‚Stil über Inhalt‘ und ein Bewusstsein über die Möglichkeit, Dinge ironisch ‚in Anführungszeichen‘ zu sehen. Zudem kann er in zwei Unterkategorien eingeteilt werden, nämlich „naïve and deliberate Camp“, also reiner Camp einerseits, der „dead serious“ und sich seiner Camp-Wirkung nicht bewusst ist (ebd.: 282), und vorsätzlicher Camp andererseits (auch ‚Camping‘ genannt), der absichtlich versucht, eine Camp-Ästhetik darzustellen und in Sontags Augen deswegen weniger zufriedenstellend ist (wie etwa die erwähnte Met-Gala in New York). Während der Begriff ursprünglich aus den Erfahrungen und dem Stil einer männlichen homosexuellen Community entwickelt wurde, untersuchen neuere Forschungen Camp in einem nicht (nur) männlichen, queeren Kontext und legen dabei das Augenmerk auf die Unterschiede und Möglichkeiten dieser Begriffserweiterung.

Solche queer-feministischen Interpretationen von Camp haben über die Popkultur auch Einzug in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gefunden; im Folgenden möchte ich zeigen, in welchem Verhältnis Camp und Pop stehen, inwiefern Camp eine Ausdrucksform der queer-feministischen Subversion bestehender Genderkategorien innerhalb der Popkultur bietet (und somit entgegen Sontags Definition eine politische Funktion innehaben kann) und wie solch eine Subversion in  Hengameh Yaghoobifarahs 2021 erschienenem Debütroman „Ministerium der Träume“ aussieht.

Das Verhältnis Camp zu Pop

Camp und Pop haben zweifellos ein enges Verhältnis zueinander (Baßler 2019: 84): Was Leslie A. Fiedler 1969 in seinem berühmten Essay „Cross the Border–Close the Gap!“ über die neue Literaturkritik der Popliteratur schreibt, lässt sich ebenso auf Camp anwenden. Die neue Kritik, die den Graben zwischen der Hoch- und Massenkultur schließen soll, „must be aesthetic, poetic in form as well as substance; but it must also be, in light of where we are, comical, irreverent, vulgar“ (Fiedler 1999: 273). Bei Sontag heißt es (1966: 287): „Camp is the consistently aesthetic experience of the world. It incarnates a victory of ‚style‘ over ‚content‘, ‚aesthetics‘ over ‚morality‘, of irony over tragedy“ sowie „the new-style dandy, the lover of Camp, appreciates vulgarity“ (ebd.: 289). Eine weitere Ähnlichkeit ist der Zugriff auf Pop und Camp: Pop ist ein Modus, den man erst mal ‚getten‘ muss, worunter Moritz Baßler und Heinz Drügh (2021: 218) jenen „der Ästhetik eigentümlichen Modus der vorbehaltlichen Abwägung, der Aushandlung subjektiver Register, […] des gefühlsmäßigen, oft auch ambivalenten Interesses an Sachverhalten“ verstehen, in den man erst hineinkommen muss.

Das erinnert stark an Sontags Beobachtung, Camp-Geschmack sei eine Art Geheimcode kleinerer urbaner Gruppen (Sontag 1966: 275) und „above all, a mode of enjoyment, of appreciation – not judgment“ (ebd.: 291). Sontag erkennt diese Ähnlichkeiten von Camp zu Pop (in Sontags Fall spezifischer: Pop Art) an, nennt jedoch Pop Art „more flat and more dry, more serious, more detached, ultimately nihilistic“ (ebd.: 292). Baßler (2019: 86) spricht sich trotzdem dafür aus, Sontags Camp-Konzept auszuweiten und Camp als Phänomen in die gegenwärtige Popkultur zu integrieren, da Camp mit den gleichen Verfahren wie auch die Popkultur arbeitet, etwa wenn es um die Ent-Naturalisierung eines Gegenstandes (z.B. von der hohen Kunst zur ‚hohen Kunst‘) oder um das Bilden von Stilgemeinschaften geht.

Jörg Scheller (2017: 216) begreift Camp ebenfalls als einen Modus der Popkultur, denn Popkultur integrierte (etwa durch Camp-Verfahren) „nicht nur das mutmaßlich Minderwertige – sowohl mit Blick auf Dinge wie auch Verfahren und Praktiken – innerhalb von Subkulturen, sondern integrierte die Subkulturen wiederum als Sollbruchstellen in die Mehrheitsgesellschaft.“ So wurde auch die Queer-Community über den Modus des Camp in die Popkultur integriert, etwa durch populär gewordene Camp-Filme wie „The Rocky Horror Picture Show“ oder Reality-TV-Shows wie „RuPaul’s Drag Race“.

Wie Stefanie Roenneke in ihrem Artikel „Camp, Nostalgie, Queerness“ (2017, hier online) skizziert, verhalten sich die Kritiker*innen ambivalent zu Phänomenen dieser Art: Manche attestieren Camp „eine entscheidende Rolle in der Neubeschreibung zeitgenössischer Geschmackscodes und eine zentrale Position innerhalb der Evolution der Popkultur“ (ebd.), während anderen befürchten, Camp könne „die progressive Rolle innerhalb der Popkultur und eine kritische Rolle in Bezug auf die herrschende Kultur verlier[en]“ (ebd.).

Camp spielte in der Literatur lange Zeit eine eher unbedeutende Rolle und hat erst durch die Popliteratur, wenn auch sehr zögerlich, Eingang in die deutschsprachige Literatur gefunden, wie sich an Werken von Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre ablesen lässt. Hier zeigt sich der Modus des Camp etwa im spezifischen Prosastil, dem Spiel und der ironischen Aneignung ernster Themen oder in ironischer Selbststilisierung als Dandys der Massenkultur, was sich zu einem autofiktionalen Gesamtkonzept gerade im öffentlichen Auftritt des popkulturellen Quintetts „Tristesse Royale“ zeigt (Baßler 2019: 92f.). Doch auch in der Literatur war der Eingang anfangs nur begrenzt, wenn man sich die Vertreter*innen dieser Camp-Literatur anschaut und feststellen muss, dass fast ausschließlich männliche Autoren darunter zu finden sind (wie etwa in Baßlers Übersichtsartikel „Camp: Susan Sontag“ (2019) zu Camp in deutschsprachiger Popliteratur, wo sich unter acht Vertretern der deutschen campy Popliteratur keine weibliche Autorin findet). Wie kann das sein?

Es lässt sich schnell feststellen, dass Feminismus und Pop-Literatur kein einfaches Verhältnis zueinander hatten: Während die Popliteratur lange männlich dominiert und patriarchal strukturiert war, versucht der Feminismus seit Beginn zumindest gegen die patriarchalen, seit dem ‚Dritte Welle-Feminismus‘ aber auch gegen andere ungerechte und kapitalistische Strukturen anzukämpfen. Spätestens seit den 2000er Jahren etabliert sich der Pop-Feminismus im deutschsprachigen Raum, der „einerseits aus einer entsprechenden Kritik an der Popkultur sowie andererseits aus produktiven Setzungen innerhalb der Popkultur“ (Seidel 2019: 119) besteht und feministische Pop-Zeitschriften wie das „Missy Magazine“ hervorbringt.

Innerhalb dieser pop- oder post-pop-feministischen Strömungen erscheinen immer mehr Bücher von Autor*innen wie  Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah und vielen weiteren, die sich in ihrem Schreiben kritisch mit den herrschenden (Gender-)Ordnungen innerhalb der Popkultur auseinandersetzen. Wie Jens Ole Schneider in seinem Artikel „Pop und Identität bei Mithu Sanyal und Sophie Passmann“ (2021, hier online) zeigt, lassen sich im Post-Pop also Identitätspolitik und Pop-Elemente verbinden zu einem „Reden nach dem Spiel, das aber doch um die Unentrinnbarkeit der Spieldynamik weiß“ und das „stärker als der alte Pop über die sozialen, gender- und racespezifischen Voraussetzungen popliterarischen Schreibens nach[denkt].“ Diese neue feministische Popliteratur muss nun aber keineswegs zwingend Camp sein, weshalb im Folgenden ein Blick auf die Eigenschaften von queer-feministischem Camp geworfen wird.

Queer-feministischer Camp

Lange Zeit wurde Camp fast ausschließlich als Stil einer männlichen homosexuellen Subkultur wahrgenommen, aus der heraus sich der Begriff auch entwickelt hat (Robertson 1996: 3). Erst neuere Forschungen untersuchen Camp-Ästhetiken in einem queeren Kontext bzw. fordern ein ‚Queering‘ des Camp-Begriffs (Cleto 1999) und widmen sich dabei spezifisch der Rolle von Camp als politischem Instrument im Feminismus. Sie stehen damit im Gegensatz zu Sontags Definition, Camp sei „disengaged, depoliticized – or at least apolitical“ (Sontag 1966: 277).

„Was Camp kann, ist aber die oft verborgene Modularität der Kulturwaren gerade da zu ergreifen und zu forcieren, wo diese Waren noch große Geschichten und Stabilisierungen hervorbringen, die noch funktionieren oder vor kurzem funktionierten – nämlich entlang der großen sexuellen Normalisierungsgeschichte“ schreibt Diedrich Diederichsen (2014: 133; hier auch online) und bezieht sich damit auf „Camp als eine spezielle Kulturtechnik […], die sich zu der in den letzten 200 Jahren immer wichtigeren allgemeinen Kulturtechnik des Erkennens und Wiedererkennens von Gesichtern und Körpern quer stellt.“

Dieses Querstellen in Bezug auf Körpererkennung wird in der Camp-Ästhetik produktiv genutzt: Ein Aspekt des Camp-Begriffs ist nämlich das Spielen mit Genderzuschreibungen und -stereotypen. Um zu verstehen, inwiefern die Annahme eines natürlichen Geschlechts bereits problematisch ist, erläutert Judith Butler (2021: 217):

Es gibt keine Ontologie der Geschlechtsidentitäten, auf der wir die Politik aufbauen könnten. Vielmehr fungieren die Geschlechter-Ontologen in einem etablierten politischen Kontext stets als normative Anweisungen, die festlegen, was als intelligibles Geschlecht gelten kann, die die Fortpflanzungszwänge der Sexualität aufrufen und festigen und die Vorschriften aufstellen, die die sexuell oder geschlechtlich bestimmten Körper (sexed or gendered bodies) erfüllen müssen, um ihre kulturelle Intelligibilität zu erlangen. Die Ontologie ist demnach keine Grundlage, sondern eine normative Anweisung, die verstohlen wirksam ist, indem sie sich als notwendiger Grund in den politischen Diskurs einschreibt.

Ausgangspunkt von Butlers Überlegungen ist dabei, dass Gender-Identitäten rein diskursiv erzeugt sind und keinen ‚natürlichen Kern‘ haben, sondern durch Performanz und Wiederholung stabilisiert werden. Camp kommt dabei insofern eine subversive Funktion zu, als die Fokussierung auf die Gemachtheit und das ‚Artifice‘ dazu beiträgt, diese angenommene Natürlichkeit der Geschlechterrollen zu hinterfragen (Ross 1999: 325).

Die Attraktivität von Camp liegt für feministische Theorien in seinem Potenzial, als Gender-Parodie zu fungieren, wie Pamela Robertson (1996: 10) erläutert: „the mimicry of stereotypical images demonstrates the female spectator’s recognition of herself in those images, while it also allows the spectator to misrecognize herself, to see that her ‚self‘ does not exist prior to the mimicry but is always already a construction.“ Durch diese Erkenntnis der Konstruktion von Gender können essentialistische Versionen einer ‚authentischen femininen Identität‘ durch alternative, utopische Identitäten, die im Camp-Stil gelebt werden, ersetzt werden.

Auch Butler (1999: 364) sieht Gender-Parodie als eine zielführende Strategie für eine feministische Politik – eine Parodie, die etwa im Drag zum Ausdruck kommt: „In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency.“ Drag ist insofern subversiv, als es durch die Strategie der Maskerade die vorherrschenden Normen als konstruiert darstellt, den performativen Akt zur Schau stellt und ironisiert und zeigt, dass es keine ‚wahre Essenz‘ der Geschlechtsidentität gibt, wie auch Robertson (1996: 12) schreibt: „The concept of the masquerade allows us to see that what gender parody takes as its object is not the image of the woman, but the idea – which, in camp, becomes a joke – that an essential feminine identity exists prior to the image.“ Dies impliziert, wie Hecken (2014: 197) erläutert, „gegen die abgelehnte sexuelle Identifizierungsnorm nicht eine andere zu setzen, sondern den Raum für eine Vielfalt von oberflächlichen Rollen zu öffnen, die nicht einem Wesenskern verpflichtet sind.“ Die Maskerade ist hier sowohl performative Strategie als auch der Rezeptionsmodus, in den sich die Camp-Betrachter*innen begeben müssen, um Camp und seine Implikationen richtig zu fassen.

Camp bietet also ein Instrument für Kritik an den herrschenden normativen Gender- und Sexualitätsrollen: „In enabling viewers to express their felt alienation from dominant culture, camp spectatorship has changed forever the way large parts of the population have seen and experienced sexual and gender stereotypes and identities constructed in and through mass culture.“ (Robertson 1996: 143). Dadurch wird Camp politisiert und widerspricht Sontags zuvor aufgeführter Definition, Camp sei eine apolitische Empfindungsweise. Zudem hat Camp eine Affinität zu queer-feministischen Diskussionen über Genderkonstruktionen, Performanz und Inszenierung, weshalb Camp-Formen als queer-feministische Praxis herausgearbeitet werden können. Da Camp historisch gesehen eine Praxis männlicher homosexueller Subkultur darstellte, ist es zudem wichtig, Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieses queer-feministischen Camp zum historischen Camp-Begriff zu untersuchen, weshalb ich im Folgenden exemplarisch queer-feministische Alternativen und Subversionsstrategien in Hengameh Yaghoobifarahs Roman „Ministerium der Träume“ (2021) vorstellen werde.

Camp in Hengameh Yaghoobifarahs „Ministerium der Träume“

Wie Sontag in ihrer Einleitung zu „Notes on ‚Camp‘“ (1966) schreibt, ist es nicht leicht (oder, folgt man Fabio Cleto (1999: 3) eigentlich unmöglich), eine Empfindungsweise („sensibility“) wie Camp in Worte zu fassen und zu definieren, denn: „To talk about Camp is […] to betray it“ (Sontag 1966: 275). Einerseits ist Camp eine bestimmte Betrachtungsweise von Gegenständen und Personen, andererseits liegt es aber nicht allein im Auge der Betrachter*innen, sondern ist manchen Haltungen und Verhaltensweisen von Personen mehr inhärent als anderen (ebd.: 277). Zudem setzt die Camp-Wahrnehmung voraus, dass es immer auch mindestens eine Person gibt, die den Gegenstand ‚normal‘ (nicht-campy) betrachtet. Hier kommt die Maskerade ins Spiel, in die sich die Camp-Betrachter*innen hineinversetzen müssen, um Camp als adäquaten Modus wahrnehmen zu können.

Bei Hengameh Yaghoobifarahs Debüt zeigt sich, wie sich die Wahrnehmungsweisen der Kritiker*innen unterscheiden können: Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa setzte sich mit Yaghoobifarahs Roman unter dem Titel „Pöbeln auf Leben und Tod“ (2021) auseinander, der Beitrag im „Deutschlandfunk Kultur“ hieß „Mit gewetzten Polemikmessern auf Deutschlandreise“ (2021). Kritisiert wurde, einige der Figuren seien „comichaft verzerrt“ und „zu holzschnittartig gestaltet“. Diesen Kritiken setzt Baßler in seinem 2022 erschienenem Buch „Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens“ entgegen, dass Yaghoobifarah durch Provokation die Leser*innen zum Nachdenken anregt, denn Yaghoobifarah „ändert etwas im semiotischen Gefüge“ (Baßler 2022: 228).

Er sieht in Yaghoobifarahs Debüt die Textstrategie des tentakulären Erzählens, eine von Donna Haraway formulierte Idee, um alternative Erzählmuster vor allem zum Familienroman zu finden und „sich enge Verbündete zu suchen, neue Allianzen zu schmieden, nach vorne offene Gemeinschaften, mit denen man die Zukunft angehen kann“ (ebd.: 235). Zugleich geht es auch darum, eine Alternative zur romantischen Basiserzählung mit dem Grundmuster der Heimkehr zu kreieren. Damit formuliert Haraway Konzepte, „die den Schwerpunkt mehr auf soziales Handeln […] und tastende, offene Zukunftsentwürfe legen“ (ebd.: 237).

Aber inwiefern ist eine campy Rezeption von Yaghoobifarahs Roman hier eine passende Ergänzung zur Textstrategie des tentakulären Erzählens, um den Roman einerseits richtig zu ‚getten‘ und andererseits die subversiven Möglichkeiten und offenen Zukunftsentwürfe zu verstehen? Protagonistin in Yaghoobifarahs Roman ist Nasrin, eine maskulin wirkende lesbische Türsteherin Mitte vierzig, die durch einen Autounfall ihre jüngere Schwester Nushin verliert. Nasrin erhält zum Missfallen ihrer Mutter Mercedeh das Sorgerecht für Nushins Tochter Parvin und lebt fortan mit dieser zusammen. Da Nasrin nicht daran glaubt, dass ihre Schwester Nushin durch einen Unfall verstorben ist, versucht sie mit Hilfe ihrer Kolleg*innen aus der Bar sowie alten Jugendfreund*innen den Tathergang zu rekonstruieren, um zu verstehen, wie Nushin ums Leben gekommen ist.

Nach dieser sehr knappen Zusammenfassung lässt sich bereits erkennen, dass der Roman von weiblich gelesenen Figuren dominiert ist und männlich gelesenen Figuren nur unbedeutende Nebenrollen zukommen – im Vordergrund stehen die vier weiblich gelesenen Familienmitglieder und ihre Beziehungen zueinander. Besonderer Fokus wird dabei auf Nasrin als Protagonistin des Buches gelegt, die sowohl durch ihre äußerliche Beschreibung wie auch durch ihr Verhalten und ihren Lebensstil auffällt.

Die Figur Nasrin ist ganz im Sinne von Sontags Anmerkungen zu Camp nicht auf Schönheit, jedoch auf Stilisierung (Sontag 1966: 277) ausgerichtet, was sich in ihrem Lebensstil wie auch in ihrem Verhalten zeigt: Nasrin lebt allein in ihrer unordentlichen und dreckigen kleinen Wohnung in Berlin, aus der „der Gestank von Zigaretten, Gras und ungewaschenem Geschirr“ (Yaghoobifarah 2021: 67) dringt. Wegen ihres Jobs als Türsteherin einer queeren Bar in Berlin arbeitet sie hauptsächlich nachts und vertreibt sich dabei die Zeit mit Drogen, Alkohol und Sex mit fremden Frauen, den sie gerne knapp und vulgär schildert, wenn sie etwa von „Piss Play“ (ebd.: 120) redet oder ihre Begegnungen wie in folgendem Ausschnitt beschreibt: „Sobald ich realisiere, dass nicht einmal die größte Faust der Welt meine Leere verdrängen kann, ziehe ich mich an, verabschiede mich und gehe nach Hause. […] Mir ist es peinlich, dass ich wirklich glaube, ich bekomme meinen Kopf frei, indem sich jemand draufsetzt.“ (ebd.: 53).

Die Vulgarität, die den „new-style dandy, the lover of camp“ (Sontag 1966: 289) auszeichnet, paart sich hier mit der Trauer über den Verlust ihrer Schwester Nushin, was der Vulgarität zugleich eine ernste Note verleiht. Nasrin ist also ganz im Camp-Sinne „serious about the frivolous, frivolous about the serious“ (ebd.: 288). Spannend ist hier zudem Robertsons Anmerkung, dass feministischer Camp von und zu einem Arbeiter*innenklassen-Milieu zu sprechen scheint, wie es auch in „Ministerium der Träume“ der Fall ist – im Gegensatz zum historischen schwulen Camp, der als eine „upper-class sensibility“ wahrgenommen wird (Robertson 1996: 18).

Als weiteres Sontagʼsches Camp-Merkmal zieht sich Übertreibung durch Nasrins Verhalten, was anhand ihrer Wutausbrüche deutlich wird: „Moment mal, wie bitte? Meine Hände ballen sich reflexartig zu Fäusten. Aus ihrer Stimme klingt eine Entschlossenheit, die mich maximal irritiert. Was denkt sie eigentlich, wer sie ist? Und vor allem: Was denkt sie, wer ich bin? Ein Esel?“ (Yaghoobifarah 2021: 61). Oder: „Boom. Ich wollte meine Worte mit Bedacht wählen. Nuanciert. Wie feiner Nieselregen. Aber es geht nicht anders. In meinem Mund bricht ein Gewitter aus.“ (ebd.: 145). Die Wut, die die Protagonistin immer wieder plötzlich überkommt, wird durch Adjektive wie „maximal“ oder Interjektionen wie „Boom“ verstärkt und verleiht ihren Gedanken und Handlungen eine plötzliche und übertriebene Heftigkeit. Zudem folgen den Wutausbrüchen teilweise auch übertriebene Handlungen: „Mit einer Armbewegung fege ich sämtliche Vasen und Schalen vom Couchtisch.“ (ebd.: 200).

Nicht nur ihre Wut wird übertrieben geschildert, sondern Emotionen jeglicher Art: „In mir findet ein halber Mauerfall statt, ein Dammbruch, alles läuft aus mir heraus. Minutenlang heule ich laut, ohne überhaupt ein Wort rauszukriegen.“ (ebd.: 160). Und: „Schlagartig rutsche ich in die Spirale des schlechten Gewissens, es gibt keinen Halt, nur ein Unten.“ (ebd.: 372). Nasrins Gefühle lieben die Extreme, was sich an Vergleichen wie „ein halber Mauerfall“ und „Dammbruch“ sowie der Metapher der tiefen „Spirale des schlechten Gewissens“ zeigt. In einem Moment scheint sich Nasrin ihrem eigenen ‚too much‘ bewusstzuwerden, als sie nach vielen Jahren auf ihre Jugendliebe trifft, die Nasrin damals plötzlich verlassen hat: „Der Schock kippt schnell um in Wut, und die Gefühle von damals schießen mir wie ein harter, schwer auszuhaltender Rausch durch die Venen. Alles ist zu laut, zu voll, zu nah, zu viel auf einmal.“ (ebd.: 259). Als Leser*in spürt man die „theatricalization of experience“ (Sontag 1966: 287), die allerdings nicht ernstgenommen werden kann, da sie „‚too much‘“ (ebd.: 284) ist und in einer „failed seriousness“ (ebd.: 287) resultiert.

Nasrins ganze Rolle ist dabei immer ‚naïve‘ und ‚dead serious‘: So glaubt sie etwa nach vielen Auseinandersetzungen aufgrund von Lügen ihrer Nichte immer noch, dass Parvin die bevorstehende Klassenfahrt schwänzt und das Geld dafür selbst behält, um mehr Zeit mit Nasrin zu verbringen, weil „sie sich auch zu Hause wohlfühlt“ (Yaghoobifarah 2021: 132). Dabei stellt sich schnell heraus, dass Parvin nicht plante, mehr Zeit mit ihrer Tante zu verbringen, sondern nur das Geld haben wollte. Nasrin bleibt Parvin gegenüber (naiverweise) immer noch wohlwollend. Sie möchte sich nicht ganz eingestehen, dass Parvin Ladendiebstahl begangen hat, und beim Eintreffen im Kaufhaus erklärt sie die Situation folgendermaßen: „Denn eines ist mir klar: Meine Parvin würde niemals irgendetwas tun, um mich erneut in die Situation zu bringen, mich mit Cops auseinandersetzen zu müssen. Dafür ist sie viel zu sensibel und verantwortungsvoll. Oder?“ (ebd.: 139). Durch ihre Naivität übersieht sie zudem Suchtprobleme in ihrer Familie und ist verwundert, als sie davon erfährt:

Perplex vergrabe ich mein Gesicht in den Händen. All die Jahre habe ich nicht mitbekommen, dass unser Familienfreund mit einem Suchtproblem zu kämpfen hat. Manoucher war immer der Typ, der zu Hilfe eilte, wenn wir etwas brauchten, und ich habe kein einziges Mal darüber nachgedacht, ob er nicht auch irgendwas brauchte. Wer ist für die Starken da, wenn sie mal Unterstützung benötigen? (ebd.: 233)

Nasrins letzter Satz unterstreicht nochmals das Pathos und Naiv-Unschuldige ihrer ganzen Aussage. Ähnlich verhält es sich, als sie zwanzig Jahre später erfährt, dass ihre Schwester während ihrer Jugend in den gemeinsamen Freund Jîwan verliebt war und Nasrin deswegen „die Kinnlade herunter[fällt]“ (ebd.: 347), weil sie es als einzige des Freundeskreises nicht bemerkt hatte. Nasrin wird hierdurch zum „instant character“: „a person being one, very intense thing.“ (Sontag 1966: 286). Dadurch kann zudem ausgeschlossen werden, dass es sich bei Nasrins Rolle um vorsätzlichen (und dadurch schlechteren) Camp im Sinne von ‚Camping‘ handelt, da Nasrins Verhalten nicht von einer Vorsätzlichkeit geprägt ist, sondern naiv und ernst vorgetragen wird.

Ein weiteres auffallendes Merkmal der Protagonistin ist ihre Gender-Identität: Nasrin nennt ihre Veränderung „vom Mädchen zur Lücke“ (Yaghoobifarah 2021: 106), ist nicht „so richtig sicher, eine Frau zu sein“ (ebd.: 156) und bezeichnet sich selbst als „Butch Medusa“ (ebd.: 52), die „soft butch couture“ (ebd.: 117) trägt und eine „brown masculinity“ (ebd.: 24) ausstrahlt. Sie bezieht sich damit direkt auf Begriffe der queeren Subkultur wie Butch-Femme-Paare oder Maskulinitätskonzepte von nicht-cis-geschlechtlichen People of Colour. Während Hecken (2014: 191) zufolge in den 1960ern die Butch-Ästhetik als Konkurrenz und Ablösung des Camp-Stils gesehen wurde, verbindet sich bei Yaghoobifarah vielmehr die Butch-Ästhetik mit einer Camp-Ausdrucksweise. Frauen, „die Geschlechteridentitäten besetzen, die zwischen weiblich und männlich situiert werden könnten“, wie sie durch eine Butch-Ästhetik performt werden, werden Roenneke (2017: 164) zufolge oft als Ausdruck einer Camp-‚sensibility‘ verstanden, da „Geschlechternormen lächerlich gemacht und ironisiert und zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Geschlechtervorstellungen unterlaufen würden.“

Oder in den Worten Sontags (1966: 279): „a relish for the exaggeration of sexual characteristics and personality manners“, die sich deutlich in Nasrins Stil und Auftreten zeigen und die bestehenden Vorstellungen von Sexualität und Gender-Identität herausfordern. Camp wird hier also eine politische Funktion zugesprochen, da Nasrins Gender-Darstellungen die Leser*innen wie auch Nasrins Mitmenschen die bestehenden normativen Vorstellungen von Weiblichkeit hinterfragen lässt, sie ironisiert und unterläuft und dadurch Gender als ein soziales und diskursives Konstrukt entlarvt, das ein gewisses Unbehagen auslöst.

Nasrins ganzes Auftreten erscheint unter den zuvor ausgeführten Punkten als „Being-as-Playing-a-Role“ (ebd.: 280), innerhalb dessen die Camp-Leser*innen alles in Anführungszeichen (also ironisiert) sehen. Die Rezeptionshaltung des Camp-Geschmacks erfordert zudem eine Art Liebe zur menschlichen Natur, aufgrund derer man nicht über Nasrins Rolle, ihre Naivität und ihr ‚too much‘ lacht, sondern ihr gesamtes Auftreten genießt und „ein Gefühl für die Versehrtheit und Verletzlichkeit“ (Baßler 2022: 234) ihrer Figur entwickelt, denn: „Camp is a tender feeling.“ (Sontag 1966: 292).

Der letzte Textausschnitt zeigt die Camp-Ästhetik der Erzählung noch einmal auf:

Wir steigen wieder ein, fahren weiter. Ich nehme ihren iPod und scrolle durch die Mediathek. Neben neuerer Musik finde ich, wie vermutet, alte Platten wieder, wie Live Through This. Nushins Lieblingsalbum. Ich mache stattdessen Lost von Frank Ocean an. Für drei Minuten und 54 Sekunden können wir so tun, als wären wir einfach zwei Queers auf einem nächtlichen Roadtrip, wo die Sterne am Himmel mehr sagen, als wir es jemals könnten, und die Musik das Tempo vorgibt. Was für eine kitschige Vorstellung. Ich hasse sie. Ich liebe sie. (Yaghoobifarah 2021: 290)

Das romantische Bild der zwei Queers, die unter dem nächtlichen Sternenhimmel auf einem Roadtrip sind und dazu passend „Lost“ (Refrain: „Now you’re lost / lost in the heat of it all / Girl, you know you’re lost / Lost in the thrill of it all“) von dem queeren Musiker Frank Ocean (2012) hören, wird sogar von der Protagonistin als „kitschige Vorstellung“ anerkannt – nicht aber ohne das campy Urteil: „Was für eine kitschige Vorstellung. Ich hasse sie. Ich liebe sie.“ Oder wie Sontag (1966: 292) sagen würde: „it’s good because it’s awful.“

 

Literatur

Albath, Maike (2021): Hengameh Yaghoobifarah: „Ministerium der Träume“. Mit gewetzten Polemikmessern auf Deutschlandreise. In: Deutschlandfunk Kultur online vom 15. Februar, https://www.deutschlandfunkkultur.de/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume-mit-100.html [01.07.2022].

Baßler, Moritz (2019): Camp: Susan Sontag. In: Moritz Baßler & Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin/Boston, S. 84–95.

Baßler, Moritz (2022): Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. München.

Baßler, Moritz & Heinz Drügh (2021): Gegenwartsästhetik. Konstanz.

Butler, Judith (1999): From Interiority to Gender Performatives [1990]. In: Fabio Cleto (Hg.): Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Edinburgh, S. 361–368.

Butler, Judith (2021): Das Unbehagen der Geschlechter [1991]. Frankfurt a.M.

Case, Sue-Ellen (1999): Towards a Butch-Femme Aesthetic [1988/89]. In: Fabio Cleto (Hg.): Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Edinburgh, S. 185–199.

Cleto, Fabio (1999): Introduction: Queering the Camp. In: Ders. (Hg.): Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Edinburgh, S. 1–42.

Diederichsen, Diedrich (2014): Camp: Gesichterlektüren, Backstagewissen, Peinlichkeitsregime. In: Pop. Kultur und Kritik. Heft 4, Frühling, S. 133–151.

Dyer, Richard (1999): It’s Being So Camp as Keeps Us Going [1976]. In: Fabio Cleto (Hg.): Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Edinburgh, S. 110–116.

Fiedler, Leslie A. (1999): Cross the Border–Close the Gap! [1969]. In: Ders.: A New Fiedler Reader. New York, S. 270–294.

Hecken, Thomas (2014): Camp als Witz. In: Regine Strätling & Erika Fischer-Lichte (Hg.): Witty Art. Der Witz und seine Beziehung zu den Künsten. Paderborn, S. 179–197.

Liebert, Juliane (2021): Hengameh Yaghoobifarahs Debüt „Ministerium der Träume“. Pöbeln auf Leben und Tod. In: SZ online vom 11. Februar, https://www.sueddeutsche.de/kultur/hengameh-yaghoobifarah-ministerium-der-traeume-debuetroman-rezension-1.5202769 [01.07.2022].

Ocean, Frank (2012): Lost. In: Ders.: Channel Orange. Los Angeles.

Robertson, Pamela (1996): Guilty Pleasures. Feminist Camp from Mae West to Madonna. Durham & London.

Roenneke, Stefanie (2017): Camp als Konzept. Ästhetik, Popkultur, Queerness. Moers.

Roenneke, Stefanie (2017): Camp, Nostalgie, Queerness. https://pop-zeitschrift.de/2017/06/12/camp-nostalgie-queernessvon-stefanie-roenneke12-6-2017/ [08.07.2022].

Ross, Andrew (1999): Uses of Camp [1988/89]. In: Fabio Cleto (Hg.): Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject: A Reader. Edinburgh, S. 308–329.

Scheller, Jörg (2017): Camp und Trash. In: Thomas Hecken & Marcus S. Kleiner (Hg.): Handbuch Popkultur. Stuttgart, S. 216–221.

Schneider, Jens Ole: Pop und Identität bei Mithu Sanyal und Sophie Passmann. In: Pop Online am 8.11.2021.

Seidel, Anna (2019): Pop-Feminismus/Geschlechterverhältnisse im Pop. In: Moritz Baßler & Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin/Boston, S. 119–129.

Sontag, Susan (1966): Notes on „Camp“ [1964]. In: Dies.: Against Interpretation and Other Essays. New York, S. 275–292.

Yaghoobifarah, Hengameh (2021): Ministerium der Träume. Berlin.

 

 

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