Camp: Gesichterlektüren, Backstagewissen, Peinlichkeitsregime
von Diedrich Diederichsen
20.10.2014

Camp glaubt an den Ernst der kulturindustriellen Narration – aber nicht wegen der Narration, sondern trotzdem

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 4, Frühling 2014, S. 133-151]

Camp soll hier einmal nicht als kulturhistorische Auffälligkeit (Oscar Wilde, Glam-Rock, Diven-Verehrung, Queer Culture) noch allein als Rezeptionstechnik kultureller Objekte diskutiert werden. Stattdessen könnte man Camp als eine spezielle Kulturtechnik  beschreiben, die sich zu der in den letzten 200 Jahren immer wichtigeren allgemeinen Kulturtechnik des Erkennens und Wiedererkennens von Gesichtern und Körpern quer stellt: sei es im großstädtischen Alltagsleben mit seiner hohen Frequenz an Begegnungen, sei es in den öffentlich ausgestellten, oft zeichenhaft zugespitzten Darstellungen von menschlichen Gesichtern und Körpern in der massenmedialen Verbreitung durch Presse, Kino, Fernsehen.

Camp erkennt etwas anderes in öffentlich bekannten Gesichtern wieder oder korrigiert und refiguriert in Rezeptionsakten, die oft zu eigenen Produktionen werden, öffentlich bekannte Gesichter in etwas anderes – ohne diese zu kritisieren, abzulehnen oder zu zerstören. Camp benimmt sich vertraut, wo die reguläre Rezeption nicht vertraut ist, gläubig, wo die reguläre Rezeption zu Kritik neigt, und skeptisch-analytisch, wo reguläre Rezeption gläubig ist.

Die Camp-Rezeption nimmt sich mehr und weniger gegenüber der rezipierten Person heraus; und es ist wichtig, dass eine Person rezipiert wird oder ein Objekt wie eine Person. Dies ist aber kein kritisches Programm, sondern tritt eher als Rettungsversuch einer oft sentimental gefassten Erinnerung an starke Erlebnisse mit Kunst auf, die im gewissermaßen übergriffigen Umgang mit der rezipierten Person gegen deren meist kulturindustriell geprägte Umgebung quasi erzwungen werden. Soweit die generellen Thesen.

In Wiedererkennungsakten performen wir vor der Arena unseres Selbst das Spektrum und die Gesetze unserer aktuellen und potenziellen Relationen. Wir produzieren nicht nur jedes Mal unsere soziale Welt (oder schränken sie ein), wir bilden auch Muster und Routinen heraus, bilden und verwalten ein Vokabular, das sich auf etwas bezieht, das nicht endlos interpretierbar und offen ist, sondern am Ende zu einer harten Referenz führt: Jemand ist diese Person oder ist es nicht.

Was heute digital bürokratisiert von sozialen Netzwerken standardisiert und optimiert geleistet wird, wird im Großstadtleben der letzten ca. 200 Jahre von jeweils kulturell unterschiedlich eingebetteten Wiedererkennungstechniken und -traditionen verwaltet. Anstarren, Anhimmeln, Auschecken, Anblinzeln – in Deutschland nur zu oft auch einfach ein erstaunt skeptisches Anglotzen, das sich seines Blickes nicht bewusst ist. (Vielleicht die Definition des Provinzlers: die Person, die sich ihrer eigenen Blick-Performance nicht bewusst ist und andere anschaut, als würde sie nicht selbst gesehen.)

Camp steht in diesem Zusammenhang für ein Moment der Störung, aber auch für die Erweiterung solcher Techniken im Zuge des Aufkommens von Massenkultur und visuellen Reproduktionstechnologien. Camp reagiert auf die Zunahme der Wiedererkennungsakte im Alltag bei gleichzeitigem Aufkommen von Fotografie und massenhaft fotografierten, gefilmten Gesichtern mit fixierten Bedeutungen und deren Einfluss auf das Erkennen und Unterscheiden, auf das Integrieren und Stigmatisieren.

Dieser Camp-Komplex kann sicher nicht einfach auf eine bestimmte Epoche beschränkt werden (wie dies andere Camp-Definitionen tun); er ist gewissermaßen transversal, aber er hat natürlich dennoch seine historische Zeit, die zwar ausfranst, aber heute an ein Ende gekommen zu sein scheint. Mir geht es im Folgenden aber um grundsätzliche Typen von Relationen an der Grenze von Gesellschaft, Staat und Kulturindustrie und der Rolle eines sehr allgemein gefassten Habitus des Lesens und Interpretierens von Wiedererkennungsfällen, die ich hier Camp nennen will.

Bekannt, unbekannt, überbekannt

Etwas wiedererkennen heißt, plötzlich mit zwei Zeiten konfrontiert zu sein, dem Zeitpunkt der ersten Begegnung und dem aktuellen. Entlang solcher Punkte bildet sich Identität. Nicht das, was man heute so nennt: eine Rolle, ein Entwurf von einem selbst, sondern das überaus brüchige und undeutliche innere Gefühl, tatsächlich mit der Person etwas gemeinsam zu haben, die ich war, als der nun wieder erkannte Gegenstand das erste Mal in mein Leben trat. Gegen alle schockierende Differenz, die zunächst auftaucht: Natürlich erleben wir zunächst die Überraschung, dass ich nicht der bin, der ich war.

Doch dann, wenn all die Unterschiede aufgelistet und abgehakt sind, wenn sie inventarisiert und in autobiografische und narzisstische Geschichtsschreibung eingespeichert sind, beginne ich mich der Tatsache zu stellen, dass ich tatsächlich nicht nur ein anderer, sondern auch derselbe bin. Dass dieses Identisch-Sein nicht als Verfügung, sondern als Überraschung erlebt wird, begründet die Schönheit, die Attraktivität des in dieser Weise Rezipierenden, Erfahrenden – die Rezipient_innen strahlen wie die Künstler_innen selbst. »The mirror of the world makes you pretty«, pflegte Mark Beer zu singen.

Nun stelle man sich vor, man erkennt nicht etwas wieder, sondern eine/einen. Eine Person. Dieselbe Komparatistik, die ich eben auf mein Inneres bezogen geschildert habe, wird nun zunächst mal auf den anderen gerichtet: Ich besuche einen Freund, den ich nie aus den Augen verloren habe, auf einer großen Eröffnung. Nun hat er auch die gemeinsamen Freunde eingeladen, die mit uns in derselben Stadt vor zwanzig Jahren gelebt haben. Ich muss nun an diesen Gesichtern ein Verhältnis aus Konstanter und Variabler ermitteln und dieses wiederum mit meiner anderen Frage in Verbindung bringen, wer ich denn damals war, der dieses Gesicht gesehen hat, als es noch jung war, und welche Kompetenz eigentlich die Vergleiche zwischen zwei Unbekannten anstellt.

Das Gesicht, das ich wieder sehe und wiedererkenne, ist ein Gegenstand, der antworten kann, auch wenn er nicht einmal den Mund öffnet und zu reden anfängt. Paradoxerweise verleiht er meiner Identität, meiner Konstanz gerade dadurch Stabilität, weil ich antizipiere, dass er sie anzweifeln wird; sagen könnte: Du bist Dir untreu geworden, nur noch ein Schatten dessen, der Du einst warst. Et cetera. In der Konfrontation mit dem anderen taucht vielleicht am ehesten etwas Solides auf, eine materielle Basis unseres gegenseitigen Kennens: permanentes Aushandeln, ob meine Veränderung oder mein Gleichbleiben vorherrschen und ob das jeweils gut ist.

Das wäre natürlich auch bei der Liebe möglich: Beide, Konkurrenz und Konfrontation wie auch Liebe und Begehren führen ein Drittes ein, eine Institution, die auch mal ohne unser unmittelbares Zutun, ohne den ständigen Vollzug der Wiedererkennungsakte weiterlebt. Grundsätzlich aber gilt: Je höher die Frequenz von Wiedererkennungssituationen in meinem Alltag, desto dichter und beweglicher das seelische Muskelgewebe, mit dem ich mich auch dort bewege und festsetze, ja orientiere, wo die Orientierung schwierig wird, wo ich als Fremder und Feind erkannt werde.

Seit wir in Gesellschaften leben, zu deren Alltag es gehört, dass sich große Menschenmengen durch die Lebenswelt bewegen, leben wir mit dem Unterschied zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern. Das unbekannte Gesicht ist im großstädtischen Leben kein fremdes Gesicht, ein Unbekannter ist anders als auf dem Dorf kein Fremder, sondern ein Unbekannter, der unbekannt bleiben darf und der trotzdem zu uns gehört oder gehören kann. Die Mittel, mit denen man dann wieder Fremde unter den Unbekannten ausmacht und dingfest zu machen versucht, bilden die weniger schöne Seite dieses neuen Lebens mit und unter Unbekannten; die Möglichkeit mit und unter Unbekannten zu leben hingegen, ohne sie in unterschiedliche Gruppe unterteilen zu müssen, ist die Quelle aller utopischen Komponenten des Großstadtlebens.

Vereinfacht kann man den Übergang vom ländlichen und kleinstädtischen zum urbanen und metropolitanen Leben so beschreiben: Auf dem Land ist der Unterschied zwischen fremd einerseits und eigen oder bekannt, zu uns gehörig andererseits zunächst tatsächlich ein empirischer. Entweder kennt man jemanden oder eben nicht: Dann ist vielleicht Vorsicht geboten oder auch nicht. Dies entscheidet aber auch immer noch vor allem die Empirie der Begegnung. In der Stadt wird diese Unterscheidung zwischen Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit, eigen/fremd nicht mehr an der Empirie fest gemacht, daran, ob man ein Gesicht oder eine Person tatsächlich kennt.

Bekannte Gesichter können trotzdem zu einer Gruppe gehören, die dem urteilenden Subjekt fremd ist oder als feindlich gilt, und unbekannte Gesichter können zu solchen gehören, die wir die Unsrigen nennen – folglich wird die primäre mit Wiedererkennen verbundene Unterscheidung ins Ideologische verlegt. (Mir ist natürlich bewusst, dass ich hier mit Zuspitzungen arbeite: die ideologiefreie Begegnung auf dem Land, die auf ›reiner‹ Empirie basiert, hat es so rein nie gegeben; über den ›tatsächlich Fremden‹ konnten auch unterschiedliche Urteile gefällt werden).

Zur gleichen Zeit mit der Großstadt entstand die Fotografie. Fotografie und Kulturindustrie produzierten gemeinsam einen dritten Typus neben Fremden und Unbekannten: den Überbekannten, den Star – eine ähnliche Institution wie die Liebe oder die Konkurrenz, nur diesmal scheinbar konkret. Zunächst hieß Star ja nur das: ein extrem bekanntes Gesicht eines ansonsten unbekannten oder gar fremden Menschen. Diese Kategorie bediente sich der Unruhe über die Verhaltensmöglichkeiten unter Unbekannten, unter Fremden und unter Bekannten, jetzt, wo sie in die Hände der Ideologien der Klassen, Stände und Rassen gefallen war. Was durfte man sich jenseits der Konvention gegenüber einer Vertreterin/einem Vertreter dieser Kategorien erlauben? Welche Rückschlüsse sind aus dem Umgang mit Stars gegenüber anderen Bekannten, Unbekannten und Fremden erlaubt, wie sehr können wir manipulieren und entscheiden, wie sehr jemand etwas davon für uns ist, wie viel hermeneutische Verfügungsgewalt geht auf Konsumenten und Rezipienten über?

Camp-Rezeption, Geste der Rettung

Es gibt einen über zwanzig Jahre alten, mittlerweile klassischen Konflikt zwischen Vertretern einer rezeptionsoptimistischen und denjenigen einer kulturpessimistischen Lesart der Massenkulturen und der Kulturindustrie. Da Camp regelmäßig in die rezeptionsoptimistische Lesart eingetragen wird, ist es wichtig, sich daran zu erinnern. Während die Optimisten den Rezipienten ein hohes Maß an Selbstständigkeit bei der Aneignung kulturindustrieller Materialien zugestehen – ein klassisches Beispiel war dafür etwa Henry Jenkinsʼ Studie über weibliche und schwule Fangemeinden von »Star Trek« und generell Positionen, wie sie John Fiske und seine Anhänger vertreten –, bestehen die Kulturpessimisten darauf, dass solche Aneignungen dem konventionellen ideologischen Material nichts anhaben können und das Gefühl, sich etwas angeeignet zu haben, im Gegenteil die Abhängigkeit und Unterwerfung gegenüber dem kulturindustriellen Produkt noch viel tiefer macht.

Lawrence Lessig, ein weiterer notorischer Optimist, unterscheidet in seinen Vorträgen gerne drei Stadien von Kulturproduktion, von denen er die erste mit einer Vater-Sohn-Szene auf einem Foto aus dem 19. Jahrhundert illustriert, bei der dieser Vater seinem Sohn ein Musikinstrument beibringt, dann kommt als zweite Phase die böse passivierende Kulturindustrie, in der wir nur rezipieren dürfen – und heute leben wir Gott sei Dank in der interaktiven YouTube-Welt, in der wir auf die Produkte der Kulturindustrie mit lustigen Remixes und Parodien reagieren dürfen.

An dieser Stelle, die auch für Camp-Diskussionen entscheidend ist, würde ich gerne einen anderen, dritten Vorschlag machen, der kein Kompromiss ist. Eigentlich sind kulturindustrielle Produkte – ihre Narrationen, ihre Ideologien, ihre Immer-schon-Gewusstes stabilisierende Mechanik – kaum dazu angetan, oppositionelles Leben und Handeln zu motivieren und zu unterstützen; sie ermächtigen nicht, so wie dies in den Cultural Studies oft dargestellt wird, die Rezipienten zu am Ende gar emanzipatorischen Entwicklungen und Entscheidungen. Sofern sie bestehen können, sind kulturindustrielle Produkte genauso zu beschreiben wie in den Tagen der Erfindung des Begriffes. Am allerwenigsten hilft es, sie in Parodien oder Fan-Aktivitäten zu beantworten, interaktiv mit ihnen umzugehen – das treibt die Rezipienten nur immer weiter in die Hörigkeit gegenüber den vorgegebenen Materialien.

Jedoch, und das ist nicht erst heute so: Die Kulturwaren können nicht bestehen. Sie verfallen sehr schnell und sichtbar – und bei diesem immer schon mitgelieferten, oft antizipierbaren, aber auch oft rührenden Verfall setzt Camp ein. Kulturwaren sind in einer Weise Konkurrenzen aus je benachbarten Produktionen, Verschleißerscheinungen ihrer Überzeugungskraft durch destabilisierende Erfahrungen aus der eigenen wie aus Parallelwelten ausgesetzt und schließlich und vor allem heute gilt: Ihr formaler Zusammenhalt ist in der digitalen Kultur endgültig nicht mehr gewährleistet, sie zerfallen in Content-Bits.

Einige wenige Formate retten sich in Subkulturen, in die Kunst – was immer das heißen mag und muss; die meisten aber hören auf, Ideologie zu stiften – vielleicht auch weil ihr Job schon erledigt ist –, und beschränken sich darauf, die längst durchgesetzte Ideologie des Alltagslebens zu demarkieren, durch kleine, unbemerkte Manöver der Ablenkung. In der Tendenz ist dieser Autoritätsverlust auch schon bei Adorno/Horkheimer beschrieben, wenn es in der »Dialektik der Aufklärung« heißt, dass Kulturwaren modular seien (»fungibel«), so dass sich ihre Einzelteile jederzeit mit ihresgleichen verknüpfen können.

Mittlerweile wird diese Verbindung vor allem durch die vermeintlich eigensinnigen Aktivitäten des Rezipienten hergestellt. Natürlich üben diese Kulturwaren ideologische Effekte aus, aber nicht so stählern wie angenommen, und gerade da, wo vorübergehend sehr bestimmt und stählern, verlieren sie ihre Macht auf umso rührendere, ja inspierendere Weise.

Was Camp kann, ist aber die oft verborgene Modularität der Kulturwaren gerade da zu ergreifen und zu forcieren, wo diese Waren noch große Geschichten und Stabilisierungen hervorbringen, die noch funktionieren oder vor kurzem funktionierten – nämlich entlang der großen sexuellen Normalisierungsgeschichte, die der Hollywood-Film im Besonderen und das Kino im Allgemeinen überall dort, wo es einen narrativen Mainstream entwickelte, erzählte und installierte.

Camp funktionierte nur dort, wo noch nicht offen modular rezipiert wird und die Kulturwaren in Einzelteile zerfallen: Voraussetzung für Camp war die Art und Weise, wie Filme und Fotografien das urbane Erkennen und Wiedererkennen geregelt haben; wie sie an die Stelle der ›dörflichen Empirie‹ und der urbanen ideologischen Abgrenzungen eine künstliche Empirie gesetzt haben. Diese künstliche Empirie, die massiven Bedeutungen, die sie Körpern und Gesichtern anhängt, nimmt Camp ernst: Camp parodiert nicht.

Und Camp emanzipiert auch nicht einfach die Rezipienten: Camp ist das Handeln eines autonomisierten – durch Einsamkeit, mangelnde Integration, Fremdheit selbstständig gewordenen – Rezipienten, der versucht, den alten Ernst der Kunst, die Autorität, die noch nicht industriell und ideologisch war am eigenen Getroffensein und um es herum, zu rekonstruieren. (Und dies muss nicht einmal der alte Ernst der Kunst sein, es kann auch ein anderer verloren gegangener Modus der Mobilisierung oder der Affektation sein, der aber mit Kunst gemein hat, seinen Effekt einem Kontakt mit einem oder etwas Anderen/m zu verdanken: Kontakt, Welt mithilfe der Organe, die erkennen und wiedererkennen – nicht Bestätigung. Die Erinnerung an den süßen Schmerz der Erkenntnis rekonstruieren – indem ich das Süße schmerzhaft aus dem verehrten Objekt, Gesicht herausoperiere – wie Leo Bersani sagt: liebender Mord. Dem verehrten Objekt zufügen, was man selber erlebt, wenn einem die Identität als Überraschung erscheint, wenn der Spiegel der Welt einen hübsch macht.)

Die einzelnen als begehrenswert markierten Teile eines gefilmten Körpers oder eines fotografierten Gesichts können in der Camp-Rezeption herausgegriffen werden, seziert und/oder aufgeblasen – und diese Arbeit ist ein rettendes, stehlendes, aneignendes Herauspräparieren eines Einzelteils, eines Moments, einer Körpereigenheit oder eines Verhaltensattributs. Denn dieses Teil, dieses Moment spricht für den campy Betrachter nicht nur von Wahrheit, ähnlich dem fotografischen Punctum. Er muss es auch gleich verteidigen gegen den trivialen und industriellen Real-Kontext – der je nachdem aber auch noch dazu beitragen kann, dieses Moment noch wertvoller und zugleich bedrohter zu machen, wie Jack Smith es in seinem berühmten Aufsatz über Maria Montez schildert, wo Gips und Kulisse um sie herum ihren Camp-Wert sogar noch hochtreiben.

Dies setzt oder setzte ein besonderes Verhältnis, eine besondere Nähe und Vertrautheit zu den Göttinnen und Göttern des Moving Screens voraus. Und dies bringt uns auch gleich zurück zu unserem ersten Thema: Kennen und Wiedererkennen in der großen Stadt. Es gibt also zwei Zustände kulturindustrieller Produkte – mächtig, ganzheitlich, überzeugend und verführerisch und banal, modular, mickrig, aber alltäglich und nützlich –, und beide Zustände lassen sich nicht in Selbstermächtigungsakte umdeuten; man wird entweder autoritär für die große Sache verblödet in Fordismus und Disziplinargesellschaft oder bohrt sich locker-flockig in die alltägliche Verblödung in Post-Fordismus und Kontrollgesellschaft hinein.

Die große Unterbrechung im Sinne von Camp kann nur passieren – oder konnte, denn wahrscheinlich rede ich hier ja von historischen Phänomenen –, wenn man ein persönliches Verhältnis zu den Akteuren und Figuren des kulturindustriellen Panoramas aufbaute, aber nicht auf der Ebene, auf der dieses Personal uns vorgeführt wurde, sondern indem man es persönlich kannte oder zu kennen glaubte – aus einem anderen Kontext. Nur dann konnte die Geste der Rettung, die der Camp-Liebhaber gegenüber dem Camp-Objekt einnimmt, aufgehen.

Unsinnige Vertrautheit

Die Position des ›I knew the bride when she used to rock’n’roll‹ ist noch keine Camp-Position – sie steht der Schadenfreude, der Häme, dem Ressentiment nahe. Aber sie ist eine Voraussetzung für den Schritt, der dann die Camp-Rezeption initiieren würde. Camp mobilisiert ein Gewicht in der Rezeption und die echte oder eingebildete Quelle dieses Gewichts ist persönliche Nähe, persönliche Bekanntschaft. Das, was Neil Young meinte, als er in seiner Totenklage »Ohio« gewissermaßen auf ein Foto einer erschossenen Demonstrantin zeigte und sagte: »What if you knew her and found her dead on the ground?«  ›What if you knew him and loved him‹ – das wäre die Camp-Frage an ihre bevorzugten Objekte, die sie sich so präpariert, dass sie zu stellen ganz selbstverständlich wird.

Diese privilegierte Fan-Position ist entweder eine Projektion eines früheren (Kunst-)Erfahrungsmodus auf einen aktuellen, etwa aus der Kindheit, und/oder sie ist ein Ergebnis einer Identifikation, die damit zu tun hat, dass der oder die sich Identifizierende seinerseits so ähnlich lebt wie eine Fotografie oder ein von Plakaten und Plattenhüllen bekanntes Gesicht – nämlich sehr sichtbar und doch nicht zugehörig, nicht anerkannt. Mit anderen Worten: Minderheiten, markierte Personen: ethnisch – habituell – sexuell.

Auch Jugendliche sind selber auffällig, sichtbar und doch nicht in den üblichen Austausch eingegliedert, in der die Statusformen Bekanntheit, Unbekanntheit und Fremdheit verhandelt werden. Menschen, die für ihre Umwelt selbst eher ein Bild oder ein Körper als ein anerkanntes Subjekt sind, entwickeln ein anderes Verhältnis zu so genannten Stars und Prominenten. Sie kennen das Verhältnis des Bildes zur Hinterbühne oder glauben zumindest dieses zu kennen, besser als diejenigen üblichen Fans und Beobachter, die sich diesbezüglich auf die Informationen von Klatschillustrierten verlassen müssen. Sie kennen diese Hinterbühne von sich selbst oder glauben, dass sie dieselbe ist. Wer im Camp-Modus rezipiert, kann die öffentliche Person wiedererkennen, selbst wenn er oder sie diese zum ersten Mal sieht.

Man kann dieses Hinterbühnenwissen und die Projektionsintensität als ein Verhalten von Personen beschreiben, die auf die Naturalisierungsversuche des Verhältnisses von unbekannt zu fremd, von bekannt zu fremd resistent reagierten. Kai Althoff plädierte etwa neulich, wenn auch in einer Rolle, die er in dem Film »Die kleine Bushaltestelle« von Isa Genzken spielte, dafür, die Regel, dass man in der Öffentlichkeit jeden ansprechen, aber niemanden anfassen dürfe, einfach umzukehren; andernfalls würde es sich nicht lohnen, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Natürlich gibt es sowohl ein Regierungshandeln als auch ein Bedürfnis eines dörflich sozialisierten und sich bedroht fühlenden Teils der Städtebewohner, die die schon bestehende relative Offenheit, den freiheitlichen Spielraum, der darin steckt, dass ein Unbekannter kein Fremder und ein öffentlich Bekannter kein wirklich Bekannter ist, nicht ertragen können.

Diejenigen Unbekannten (und Bekannten), die man gerne wieder zu Fremden erklären wollte, müssen also stigmatisiert werden; diejenigen Überbekannten, die von Fotos und Plakaten bekannt waren, mussten irrealisiert und ihre Präsenz in die Zone der kindlichen und weiblichen Praktiken verbannt werden – was vor allem deswegen nicht dauerhaft gelingen konnte, weil der Umgang mit diesen bekannten Unbekannten zur Jugendkultur wurde und damit zur allgemeinen Sozialisierung beitrug.

Die Unterscheidung zwischen einem rein einübenden, tendenziell verblödenden Umgang mit diesem Sozialisationsmittel und dem oben schon angedeuteten anderen, den wir mit Camp verbinden und der unter dem kulturwissenschaftlichen Verdacht einer selbstermächtigenden Funktion steht, besteht aber nicht in einer höheren Reflektiertheit auf Seiten des Camp, sondern in dessen im Prinzip unsinnig gesteigerten Vertrautheit. Wenn man so will, beruht der spezifische Blick des Camp-Geschmacks auf einer noch gesteigerten Naivität – wie vorhin schon angedeutet: Camp nimmt zwar nicht die Geschichten ernst, die um die Stars herum geflochten werden, aber die große Wichtigkeit, den gewaltigen Ernst.

Camp-Rezeption ist von einem Wahrheitsflash angefeuert: das Wahrheitserlebnis derjenigen, die beim hegemonialen Tausch von Wiedererkennen und Wiedererkanntwerden keine konvertierbare Münze anzubieten haben und daher entdecken, dass sie die kulturindustriellen Sachen gebrauchen können – aber nicht im verstümmelten Gebrauchswertmodus der Pornografie, sondern in einem versetzt bildungsbürgerlichen Modus von Liebeslyrik – eine selbstgemachte, aus Ahnungen und Hörensagen rekonstruierte surreale Bildungsbürgerlichkeit.

Im Zentrum der Hyperbekanntheit steht eine andere Unterscheidung, sie betrifft ja nicht verschiedene Fälle von Hyperbekanntheit, die dann auf verschiedene Seiten der Unterscheidung geschoben werden, sondern sie unterscheidet Anteile innerhalb der bekannten Person. Die besteht zu einem Teil aus einem Geheimnis, dem privaten Anteil, dem verhüllten Teil des Körpers, der dreidimensionalen, uns nicht zugänglichen ›Substanz‹, dem Fleisch auf der einen Seite und der Legende, dem Mythos, der Star-Persona, zusammengesetzt aus der Summe der Film-Rollen und der öffentlichen Rollen, auf der anderen Seite.

Für den alltäglichen, zwischen Fremdheit und Zugehörigkeit in seinem Alltag entscheidenden, sein Leben ordnenden Normalrezipienten bleiben diese Anteile getrennt. Aus dem mysteriösen Teil, aus der Verhüllung zieht er sein Begehren, den zweiten, öffentlichen und mythischen Teil nimmt er oder sie mehr oder weniger ernst: Mit diesen Daten wird das Begehren rationalisiert und im Bewussten verwaltet. Mitunter wird dieser Normal-Rezipient auch kritisch, heute ist er oft ironisch. Seine Kritik und seine Ironie richtet er auf die Legende, auf den Mythos, die er in Zweifel zieht, sich als schlauer inszeniert – ohne dass er sein Begehren infrage stellen würde.

Der Camp-Rezipient/die Camp-Rezipientin hingegen akzeptiert nicht den verhüllten Teil als verhüllt, akzeptiert nicht den Ausschluss des dreidimensionalen Körpers, der Fleischlichkeit als verborgene Seite der Legende, sondern glaubt diesen Teil zu kennen – von sich selbst, von anderen unklaren und unbekannten oder dunklen körperlichen Verhältnissen her, weil Camp-Rezipienten, wie schon gesagt, selbst so etwas ähnliches sind wie gedruckte Fotografien. Sie erkennen sich wieder in der Unvollständigkeit, Zugerichtetheit des Stars, seiner Ausgeschlossenheit vom Blicke-Tausch.

Der Camp-Sensibilität ist die Hinterbühne des Stars vertraut. In diesem Maße ist Camp also gewissermaßen aufgeklärt. Aber Camp zweifelt niemals die Legende an, den Mythos, die öffentlichen Aussagen der Star-Persona – allenfalls deren ganze, geschlossene Form, niemals aber das Gewicht der Legende. Da ist Camp ganz – wenn man so will – unaufgeklärt. Camp glaubt an den Ernst der kulturindustriellen Narration (aber nicht wegen der Narration, sondern trotzdem). Nur dieser Glaube macht es Camp möglich, etwas mit ihnen anzufangen, anstatt sie in bedeutungslose dekorative ironische Module zu zerlegen. Dafür muss Camp aber eben auch rettungslos naiv sein können.

Oder wenn wir zurückkommen auf das Kennen und Wiedererkennen von Stars und Celebrities, die als Gegenstände der Verehrung zur Verfügung stehen könnten: Man kann den Unterschied zur oder das Unterlaufen der offiziellen Regelung des Verhältnisses von bekannt, unbekannt und fremd auch auf Frequenzen bringen, auf die Häufigkeit von Situationen, in denen jemand oder etwas wieder erkannt wird.

Die neuen Unterscheidungen des Stadtlebens, die wieder Stigmatisierungen in die Großstadt einführen sollten, die Teile/Herrsche-Software für unübersichtliche soziale Verhältnisse, operierten mit den Frequenzen. Wenn ich ein bestimmtes Signalement häufig genug sehe, führt es zu stabilen Fremd/Vertraut-Unterscheidungen selbst dann, wenn ich weder die Dunkelhäutige noch die Hellhäutige, weder die Verschleierte noch die nicht Verschleierte persönlich kenne. In der Großstadt lernt man bestimmte Sorten von Menschen, Typen definieren – sie sind die nächste Stufe der Fremd/Eigen-Unterscheidung: ihre Codifizierung jenseits von Bewertungen.

Aus der Street-Smartness als Ergebnis häufiger Wiedererkennungsakte wird über die Festschreibung von Zwischenergebnissen und Routinen die Wiedereinführung der alten sinnlichen Evidenz als nun mehr vollendete Ideologie. Bin ich aber auf der falschen – nämlich der ausschließenden – Seite einer bestimmten Typen-Unterscheidung gelandet, wird diese mit der Evidenz der Häufigkeit von Wiedererkerkennungsakten argumentierende Operation für mich problematisch, ich bin ihr gegenüber misstrauischer: Mir steht meine Street Smartness nicht mehr so zur Verfügung.

Die im weiteren Sinne Camp-Operation fragt nicht bei einer unbekannten Person: Was ist das für ein Typ?, um das Unbekannte in ein immer noch unbekanntes, aber stabiles Typenregister einzutragen. Sie fragt stattdessen bei der prominenten Person: Was ist das für ein Typ? Die erste Operation, die hegemoniale Frage des Blockwartes an die unbekannte Person definiert einen Typen als möglichen Träger weiterer Zuschreibungen, ermöglicht aber, die Zuschreibungen nach Konjunkturen zu ändern, opportunistisch zu verfahren, ohne das Weltbild umwerfen zu müssen.

Die Camp-Frage erkennt in der bereits überaus bekannten  (aber nicht persönlich bekannten) Person über die Hinzufügung vermeintlich vertrauten Backstage-Wissens einen Typ, den ich persönlich kenne. Sie verliebt sich im Unerreichbaren in den erreichbaren Körper. Sie stellt eine Verbindung her aus der Unerreichbarkeit der metaphysischen Unbekanntheit – dass wir nie alle kennen, dass wir nie auch nur den einen, den wir kennen, vollständig kennen – und der Vertrautheit eines Körpers, mit dem ich schon mal was erlebt hatte oder haben könnte.

Freilich darf in dieser Konstruktion weder die eine noch die andere Seite ganz dominieren. Und sehr oft muss daher diese Konstruktion dadurch gerettet werden, dass man die Verbindung über das einzelne, herausgelöste Attribut herstellt, über das metonymisch mit dem verehrten, aber zu bekannten oder zu oft falsch kontextualisierten Gesicht verbundene Objekt.

Jetzt die Liebe: Der unbekannte Anteil erweist sich als bekannt, vertraut; der bekannte Anteil als viel mehr als bekannt, als mythisch, als legendär – ja als Verdichtung der metaphysischen Komponente des Kennens überhaupt. Als Camp-Anfänger kann ich diese Konstellation vielleicht noch per Projektion herstellen, als Profi muss ich etwas mehr tun: ich muss die Anteile des Objekts gezielt bearbeiten.

Mein größter Feind sind drei Ordnungen: Die städtische Unterscheidung in erwünscht und unerwünscht; die kulturindustrielle Legendenproduktion und schließlich die Kritik, welche nicht nur den Körper des Stars kennen will, sondern auch noch seine Legende zerrupfen. Während die ersten beiden Feinde zugleich Material für meine Operationen liefern, kann ich mit der Kritik gar nicht umgehen; denn sie zerstört mein Material und ich glaube schließlich auch, dass ich die bessere Kritik produziere: ein lebendiges, liebendes Nichteinverstandensein.

Heutige Kulturindustrie hat sich aber längst dazu entschlossen die Enthüllung des verhüllten Anteils selbst zu produzieren und zugleich die Legenden zu demontieren. Sie lebt davon, dass sie mit Scham-, Überraschungs- und Enthüllungseffekten arbeitet. Sie liefert von dem Modell, nach dem Camp-Rezipienten ihre ganz eigenen Effekte kulturindustrieller Produkte erlebten und evozierten, nunmehr ihre Standardausführung – nicht mehr um den Ernst und die Autorität von Kunst oder Begegnung zu retten, sondern um im Gegenteil auch die Momente solcher Ernsthaftigkeit auf das banale Leben zu bringen, in dem sich niemand mehr für nichts schämt und alle alles in den Tauschakten banalisieren können.

Die Sentimentalität eines Schlagers, das erklärt die von Fanny Ardent gespielte »Frau von Gegenüber« in Truffauts »La femme dʼà côté« so schön, kann durch einen einfachen Rezeptionsakt, einen Einstellungswechsel und eine günstige Situation in eine Wahrheit gerettet werden. Die Normalisierung der Peinlichkeit als Alltagsform kann nicht gerettet werden. Es wäre ein Fehler, die Universalisierung solcher Peinlichkeit zu verwechseln mit der Befreiung von den falschen Gründen Scham zu empfinden.

Um 1980 herum erschien in Deutschland eine Zeitschrift, die peinliche und vor allem Nackfotos von Zelebritäten druckte, sie nannte sich »High Society«. In der Zeitschrift konnte man die aus Filmstills und anderen Materialien zusammengesuchten nackten Momente in den Karrieren großer Film- und Musikstars, aber auch hausgemachter deutscher Fernsehsternchen finden. Dieses Material war aber begrenzt. Daher produzierte die Redaktion so genannte Fakes, bei denen man ein bekanntes Gesicht mit noch nicht sehr entwickelten Layout-Techniken auf irgendeinem aus Porno-Produktionen geklauten nackten Körper setzte.

Dies ist für mich im selben Feld das absolute Gegenteil von Camp: Zunächst ist der Körper des Stars, also die Zone, wo man meinen könnte, dass er keine Rolle mehr spielen kann, der Ort des Ernstes, der verborgenen Wahrheit der Zelebrität: ist er aber gerade nicht. Für die Camp-Rezeption ist der Körper des Stars immer schon da. Es ist gerade ihr Witz, dass ein gestylter, bekleideter, in Drag oder Verkleidung gesteckter Körper wie ein nackter Körper ist: existenziell, sexuell, tiefgründig. Ein tatsächlich nackter Körper ist genau die falsche Wahrheit, der falsche Ernst. Er ist aber das Modell, mit der heutige Kulturindustrie im Camp-Fach der Zudringlichkeit das Gegenteil von Camp herstellt. Natürlich ist das peinliche Geschäftsmodell von »High Society« längst allgemeiner Standard nicht nur schmutziger Internetseiten, sondern der ganzen Reality-Formate bis hin zu Formen der Bildenden Kunst.

Nicht mehr am Ernst des Gefühls, am üppig Überdrehten oder bizarr Tiefgründigen, sondern nur an den Performances der schlechten Laune, der Missstimmung, der Wortkargheit, des Übergewichts, der grundlosen Heiterkeit kann vielleicht auch heute noch jemand etwas retten. Wenn es Camp noch gibt, dann haben sich seine möglichen Verlaufsformen radikal geändert.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transcript Verlags.

Weitere Hinweise zur Erstveröffentlichung in der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« hier.

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