Das Hässliche als Beleg
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 81-84]
Am 16.11.2019 strahlte die BBC ein Interview mit Prinz Andrew aus, das der Journalist Charlie Proctor in einem vielzitierten Tweet als »Flugzeug, das in einen Öltanker stürzt und einen Tsunami auslöst, der eine nukleare Explosion verursacht« charakterisierte. In der BBC-Sendung wurde Andrew mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an der damals 17-jährigen Virginia Roberts (heute: Virginia Guiffre) konfrontiert. Die hatte in einem zuvor aufgezeichneten, aber erst am 02.12.2019 von der BBC ausgestrahlten Interview berichtet, der Prinz habe 2001 bei einem gemeinsamen Nachtclubbesuch in ekelerregender Weise stark geschwitzt. Andrew versuchte daraufhin, den Vorwurf durch den Einwand zu entkräften, dass er bei seinem Einsatz im Falkland-Krieg 1982 eine »Überdosis Adrenalin« erlitten habe, die es ihm unmöglich mache, überhaupt zu schwitzen. Das Krankheitsbild wurde später u.a. von dem Dermatologen Mark Lupin als »unplausibel« zurückgewiesen, zudem tauchten Bilder aus dem Jahr 2000 auf, die Prinz Andrew in einem verschwitzen Hemd zeigten.
Mitten in der beschaulichen Adventszeit entfaltete sich so ein Reality-TV-Drama in zwei Akten, das über alle Zutaten eines veritablen Sex-Skandals verfügt: ein mächtiger Mann, eine junge Frau, ein Akt hinter verschlossenen Türen. Aussage steht gegen Aussage. Solch eine Konstellation ist gerade für Verhandlungen nach dem Sexualstrafrecht typisch. Häufig wissen nur die beteiligten Parteien, was ›wirklich‹ passiert ist – wobei deren Einschätzungen der Realität weit divergieren können.
Im vorliegenden Fall weichen nicht nur die Erinnerungen, sondern auch das Erinnerungsvermögen der Mitwirkenden stark voneinander ab. Der männliche Beschuldigte gibt zu verstehen, sich schlicht nicht mehr an die Spezifika eines beinahe zwanzig Jahre zurückliegenden Beischlafs erinnern zu können. Dagegen besteht die vormalige »Sexsklavin« (»Spiegel«) darauf, dass sich das Gesicht des Mannes, der sich über ihr wälzte, unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt habe. An dieser Stelle des TV-Interviews kann sie die Tränen nicht länger zurückhalten.
Schweiß und Tränen: zwei Körperflüssigkeiten, die im Prozess der öffentlichen Urteilsfindung den Charakter von Beweismitteln annehmen. Während der Prinz seinen Leib als hermetisches Behältnis beschwört, dem weder abjekte Begierden noch unangemessene Säfte entweichen können, sind Guiffres Tränen das Signum einer Weiblichkeit, die ihre eigenen Körpergrenzen durch Verflüssigung überwindet – ein in jeder Hinsicht undichtes Gefäß.
Medienstrategisch liegt die größte Herausforderung ihrer Zeugenschaft darin, den im Zuge von #metoo nicht nur von männlicher Seite häufig vorgebrachten Vorwurf der ›Buyer’s Remorse‹ zu entkräften. Dieser besagt, dass Vergewaltigungsvorwürfe oft (oder sogar meistens) im Nachhinein aus ›Kaufreue‹ zum Zwecke der Selbstentlastung konstruiert würden: Eine ursprünglich konsensuell begangene Handlung werde von den Frauen rückwirkend zu einer unfreiwilligen erklärt, weil sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden waren.
Wie bei der auch immer wieder aufflammenden Diskussion um die jeglicher sexueller Anbahnung inhärenten Transgressivität und wie bei der Klage über den »Untergang des Flirts« scheint für viele Beteiligte Glaubwürdigkeit nur um den Preis der Ausmerzung aller Zwei- oder Mehrdeutigkeiten hergestellt werden zu können. Guiffre bedient sich dabei eines Musters, das auch bei den Aussagen gegen den ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein zur Anwendung kommt: Die Männer werden als physisch dermaßen abstoßend geschildert, dass die Vorstellung, ihnen aus freien Stücken auf intime Weise nahe zu kommen, absurd erscheinen muss. So verwendet Guiffre in ihrem TV-Interview häufig die Adjektive »horrible« und »disgusting«. Und eine Zeugin sagte im Prozess gegen Weinstein aus: »His body was hairy, it had moles on his rolls, a disgusting looking penis.« Anschließend wurde der Jury zur Wahrheitsfindung sogar ein Nacktfoto Weinsteins vorgelegt.
Damit bedienen die Frauen sich eines Kunstgriffs, der ein misogynes Stereotyp in ein der #metoo-Bewegung dienstbares verwandeln soll: die weitverbreitete Haltung, dass ›unattraktive‹ Frauen nicht vergewaltigt werden könnten oder zumindest nicht, ohne dies erheblich zu provozieren. Die ›Horrible Men‹ erfüllen eine ganz ähnliche Funktion: Indem die Täter ausführlich als abstoßend und ekelhaft geschildert werden – und die Medienbilder diese Annahme mit entsprechend gewählten unvorteilhaften Aufnahmen noch unterstützen –, werden die Frauen nachhaltig von jedem Verdacht befreit, möglicherweise freiwillig mit ihnen geschlafen zu haben. Dadurch werden einflussreiche und wohlhabende Männer – Prinz Andrew galt einst als ›begehrtester Junggeselle der Welt‹ – zu Unberührbaren stilisiert, die sich Sex nur gewaltsam holen können.
Abgelöst von der konkreten Situation besitzt die Feststellung zweier unvereinbarer Haltungen zum gemeinsam Erlebten weitreichende Folgen: Heterosexueller penetrativer Sex wird in diesen Erzählungen als ein Vorgang dargestellt, der sich für Mann und Frau nicht nur technisch unterscheide, sondern für beide auch grundsätzlich Verschiedenes bedeute. Während Sex für Männer nichts weiter als eine körperliche Betätigung mit austauschbaren Partnerinnen darstelle, rühre derselbe Akt bei der Frau am Kern ihres Selbstseins. Auf diese Art und Weise wird eine essentialistische Argumentationsweise gestützt, die moralische Positionen nicht sprachlich-kognitiv, sondern körperlich-sinnlich begründet. Das affektive Betroffensein wird zur Demarkationslinie zwischen Mann und Frau, Machtplus und Machtminus sowie – immerhin handelt es sich um justiziable Vorwürfe – zwischen Gut und Böse, Schuld und Unschuld.
Die Hingabe, die darauf verwendet wird, die erlittenen sexuellen Akte als für die Frau entwürdigend, abstoßend und ekelerregend zu schildern, aktualisiert jene Frage, die schon in den 1970er und 1980er Jahren die feministische Bewegung spaltete: Können Frauen sich zu heterosexuellem Sex überhaupt verhalten, ohne ihr Selbstverständnis als Feministinnen zu gefährden? Ist das weibliche Begehren kolonialisiert von männlichen Vorlieben? Austragungsort des argumentativen Kampfes war das Schlachtfeld der Pornografie, die nicht wenige als Misogynie in Reinform begriffen: Frauen erschienen als passive Gefäße und Oberflächen für ungezügeltes ›Pounding‹ und Abspritzen der Männer.
In Sachen #metoo kommt es gerade zu einer Neuauflage der ›unheimlichen Allianz‹ zwischen der politischen Rechten und feministisch motivierten Pornografie-Gegner*innen, die das Genre komplett verbieten wollten. Der Ruf nach mehr Prozessen und Verurteilungen erinnert derzeit an den Zweite-Welle-Feminismus von Andrea Dworkin und Catharine MacKinnon, die Zensur und staatliche Eingriffe als Mittel gegen sexuelle Gewalt an Frauen forderten. Gegen die Verbotsversuche wurden auf der anderen Seite Argumente ins Feld geführt, die nach der ›Agency‹ von Frauen, also ihrer Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, fragten und sich gegen essentialistische Festschreibungen von weiblicher und männlicher Sexualität richteten.
Entsprechende Dekonstruktionen der Meistererzählung der ›Old White Men‹ sind die wohl größte Errungenschaft des Post-#metoo-Zeitalters. Die Frage, welche Rolle Sex für den Erfolg der Bewegung spielte, mag dabei auf den ersten Blick zynisch erscheinen. Schließlich wurde das Hashtag gebraucht, um Frauen eine Plattform zu bieten, frei von Scham und Einschüchterung über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu berichten. Trotzdem lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das große öffentliche Interesse, auf das ihre Erzählungen stießen, einer medialen Sex-Sells-Logik folgte, die Berichten über andere Unterdrückungsakte bis heute weit weniger Raum zugesteht.
Damit stoßen an dieser Stelle zwei problematische Tendenzen in unheilvoller Weise aufeinander: Zum einen sind Frauen in den Medien allgemein, insbesondere in sog. seriösen Nachrichtenformaten, immer noch erheblich unterrepräsentiert. Tauchen sie dennoch in der Berichterstattung auf, dann überproportional häufig als Opfer sexueller Gewalt. Deshalb tragen solche Berichte – ob gewollt oder ungewollt – dazu bei, dies als die angestammte Rolle der Frau zu normalisieren.
Die Selbstverständlichkeit aber, mit der etwa bei der Oscar-Verleihung im Februar 2020 die fehlende Nominierung weiblicher Filmschaffender in der Kategorie ›Beste Regie‹ mit #metoo verknüpft wurde, zeigt zum einen, dass es längst um mehr geht, als sich Gehör zu verschaffen, nämlich um die zentrale Forderung der Umverteilung von Macht, Ruhm und Geld. Und zweitens: dass jede Form der Benachteiligung von Frauen auch als Akt sexuellen Missbrauchs verstanden werden kann – und sei es nur durch freie Assoziation.