Hass als Event: Ein Blick auf die Gaming-Szene
von Michelle Janßen
9.9.2022

Kein Spiel

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 77-80]

Der antisemitische Angriff unweit einer Synagoge in Halle, bei dem zwei Menschen im Oktober 2019 erschossen wurden, eröffnete in Deutschland die Diskussion über eine neue Art des (Rechts-)Terrorismus. Stephan Balliet, der Attentäter, hatte sein Vorhaben im Internet angekündigt; mit einer Helmkamera übertrug er seinen Anschlag live auf einer Streaming-Plattform. Das Internet bot sich als Übertragungsort auch an, weil sich dort junge Menschen, besonders junge Männer, radikalisieren, informieren und zusammentun – um solche Taten zu planen und zu glorifizieren. Es gibt endlose Möglichkeiten, um im Internet unbeobachtet zu sein und mehr internationalen Austausch untereinander denn je. Menschen mit radikalen Sichtweisen, Hass auf Migrant*innen, Frauen, die LGBTQA+ Community, etc. finden und bestätigen sich gegenseitig. Ein großer Teil dieser Kommunikation und Vernetzung findet im Gaming-Bereich statt.

Die Tatsache, dass es besonders in der Gamer-Szene zur Radikalisierung kommt, ist spätestens nach den Anschlägen im Jahr 2019, etwa auf eine Synagoge in Kalifornien, eine Moschee in Norwegen und zwei in Neuseeland nicht mehr zu leugnen. Alle Täter waren online vernetzt und gründeten ihre Taten auf dem Hass, den sie in den Online-Communities lernten und bestärkten. Hinter ihren Gewaltverbrechen steckt derselbe Antisemitismus und Rassismus wie zuvor, nur die Methoden ändern sich. Die Attentäter inszenierten ihre Taten als reellen ›Ego-Shooter‹, nutzten Gaming-Plattformen wie Twitch, um ihren Anschlag zu streamen und richteten sich in ihren Taten und Aussagen besonders an die Gaming-Community. So hatte der Christchurch-Täter sich vor und während seiner Tat mit Parolen wie »Subscribe to Pewdiepie« immer wieder auf die Online-Persönlichkeit Pewdiepie und dessen (Gaming-)YouTube-Kanal berufen. Balliet kommentierte seine Taten wie ein Spiel; er entschuldigte sich für Fehlschüsse, setzte sich als ›Bonusmission‹ das Ziel, nicht selbst zu sterben, und teilte seinen Zuschauer*innen Taktiken mit. Fast, als wäre es nur ein ›Let’s Play‹, also eine Videoaufnahme, die zeigt, wie jemand spielt und dazu Kommentare abgibt.

Der Attentäter von Halle inszenierte seine Taten ebenfalls als Spiel – und doch handelte es sich nicht nur um eine Gleichsetzung von Spielen und realen Taten. Balliet und die anderen Täter haben nicht vergessen, wo Fiktion aufhört und Realität anfängt – sie haben lediglich eine Möglichkeit gefunden, sich online zu radikalisieren und richten sich in der Inszenierung ihrer Taten an die Community, in der sie auf Anerkennung stoßen: die Gaming-Szene.

Als Horst Seehofer Stellung zu dem Anschlag nahm, hatte er keine Ahnung, in was für eine lange, vor allem feministische Tradition er sich einordnete. »Wir müssen die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen«, sagte er. Die Aussage zog in ihrer Pauschalität einen Sturm an Spott nach sich. »Animal Crossing hat mich radikalisiert«, schrieb eine Person auf Twitter und bezog damit Seehofers Kommentar auf ein friedliches Videospiel, in dem man vor allem Blumen gießt und Obst sammelt. Zahlreiche YouTuber*innen machten Videos zum Thema, gespickt mit Witzen über den Bundesminister. In ihren Augen war der Kommentar lächerlich und bezog sich auf die alte Debatte um ›Killerspiele‹, die Anfang des Jahrhunderts geführt wurde und bei der Videospiele für gewalttätige Jugendliche verantwortlich gemacht wurden.

Es ist nicht bekannt, auf welche Games Seehofer sich wirklich bezog. Fest steht jedoch, dass er nicht Unrecht hat. Die Gaming-Szene besitzt ein gefährliches Potenzial zur Radikalisierung junger Menschen – besonders von Männern. Nicht etwa, wie oft unterstellt wird, weil bestimmte Spiele einen zwangsläufig aggressiv machten, sondern aufgrund des Umfelds und Tons der Gaming-Szene. Nicht die Spiele sind in erster Linie gefährlich, sondern viele Spieler. Der Eventcharakter liegt für sie häufig nicht darin, sich in die spektakulären Ereignisse eines Spiels hineinziehen zu lassen, sondern außerhalb. Sie lassen das Spiel Spiel sein und suchen stattdessen nach Anlässen, um sich in den Sozialen Medien ihren Vorurteilen und Verfolgungswünschen hinzugeben.

Spätestens nach ›Gamergate‹ 2014 ist klar, dass die ›Gamer-Kultur‹ große Probleme besitzt. Damals organisierte sich eine große Menge an Menschen online, um Zoë Quinn, ein*e nichtbinäre*r Spieleentwickler*in, zu stalken und zu belästigen. Zahlreiche weitere Personen, darunter die Spieleentwicklerin Brianna Wu und die feministische Medienkritikerin Anita Sarkeesian, wurden zu Opfern der Hasskampagne. ›Gamergate‹ machte jegliche Kritiker*innen zur Zielscheibe. Jennifer Jenson und Suzanne de Castell schreiben in ihrem Artikel »Gamer-Hate and the ›Problem‹ of Women« über ›Gamergate‹, dessen Hintergründe sowie die Auswirkungen, die bis heute auf den Video- und Streaming-Plattformen YouTube und Twitch sowie auf den Online-Foren und Webseiten 4chan, Reddit und Twitter zu beobachten sind: »[…] Gamergate is part of a larger, systemic problem in games industry and culture, and whose history is far longer than either […]. What is new with Gamergate and the ongoing sexism and misogyny that characterizes game cultures and industries is that nothing is new.«

Sie haben recht, »nothing is new«. Schaut man in die Kommentarspalten unter Artikeln zur Gaming-Szene und den Videos und Streams bekannter YouTuber*innen, die kritisch über das Thema sprechen, so sieht man, dass Belästigung und Bedrohung dieser Stimmen bis heute Alltag sind. Auf Reddit und 4chan werden z.B. solche deutschen Artikel übersetzt eingestellt – inklusive einer Liste aller Sozialen Medien der Autor*innen. Besonders Frauen und Nichtbinäre werden dort regelrecht zur Schau gestellt: Fotos von ihnen werden verbreitet, Adressen geteilt und Kontaktdaten gespeichert. Falls später einmal ›etwas dagegen unternommen werden soll‹. Findet man sich selbst und die eigenen Daten auf diesen Seiten wieder, muss man erkennen, wie schnell große Gruppen an Menschen bereit dazu sind, Leben zu ruinieren.

Das Ganze läuft international und wird im englischsprachigen Raum als ›Right-Wing-Pipeline‹ bezeichnet. Die Grenzen dessen, was annehmbar ist, werden immer weiter verschoben, bis auch Drohungen gegen Kritiker*innen, Doxxing (das Veröffentlichen von Adressen und Telefonnummern) und Gewalt irgendwann normal sind. Die Gaming-Szene bildet eine Ansammlung von Communities. Menschen, die innerhalb dieser kleineren Szenen bekannt werden, kritisieren selten die Community-übergreifenden, höchst problematischen Dinge, die sie in ihren Kommentarspalten und bei den Kolleg*innen beobachten können. Die Zuschauer*innen der (Gaming-)YouTuber Erik Range (»Gronkh«) und Viktor Roth (»iBlali«) sind bekannt dafür, Kritiker*innen auf Twitter aggressiv anzugreifen. Der Streamer Marcel Eris (»MontanaBlack«, ehemals »MontanaBlack88«) fällt seit Jahren immer wieder mit mehr als fragwürdigen Aussagen negativ auf. August 2019 zeigte er sich zudem bei einem Fantreffen in Buxtehude mit mehreren Mitgliedern des rechtsradikalen Biker-Clubs »Nordmänner MC« und mit Marc Steinweg, der zum Treffen einen Jogginganzug der Neonazimarke Thor Steinar trug. Dieses Treffen wurde ganz offen mit einem Bild auf Instagram dokumentiert. Ende 2019 verglich Eris in einem Stream Frauen mit Hunden. Einige Kolleg*innen sprachen sich gegen ihn aus, doch große Teile blieben still. Sie tolerieren den Streamer und seine Sprüche sowie seine Verbindungen zur rechten Szene.

Rechtsradikale Gruppen haben rasch erkannt, wie gut sich ihr Gedankengut im Gaming-Bereich ausbreiten kann, und nutzen dies konsequent aus. Die Verweigerung gegenüber progressiven Änderungen innerhalb der ›Gamer-Kultur‹ bereitete so den Nährboden für Sexismus, Rassismus und Homophobie. Wie offen die Gaming-Szene für Formen des Missbrauchs ist, kann man an dem Spiel »Rapeday« sehen, dessen Zielsetzung es war, Protagonistinnen zu verfolgen und vergewaltigen. Es wurde zum Jahresanfang 2019 von Spieleentwickler Jake Roberts angekündigt, aufgrund der harten Kritik von Feminist*innen jedoch nie veröffentlicht. Die Betreiber*innen der Spieleplattform Steam, auf der das Spiel offeriert wurde, äußerten sich allerdings nicht weiter zur »Rapeday«-Debatte oder anderen Kontroversen, die bei ihnen veröffentlichte, problematische Spiele betreffen. Auch als ein großer Teil der Community einem Entwicklerstudio mit Boykott drohte, weil der Nachfolger einer bekannten Spielereihe eine schwarze Frau als Heldin einführte, übten die meisten anderen Studios und Firmen keinerlei Solidarität. Einige Monate später machten sich einige YouTuber einen Spaß daraus, den Protofeministinnen im Spiel »Red Dead Redemption II« Gewalt anzutun. Die Beispiele, dass jemand der Verbreitung des problematischen Moralsystems hätte entgegenwirken können, es aber nicht getan hat, häufen sich.

Wie auch im Fall Halle liegt das Problem aber nicht in erster Linie darin, dass Spiele das unmittelbare Vorbild dafür liefern, gewaltsame Angriffe oder andere Übergriffe zu begehen – man darf den Spieler*innen durchaus zutrauen, zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Der Kern des Problems ist vielmehr, dass Spiele zumindest zu einem gewissen Grad Werte und Normen auszubilden helfen und damit auch, was akzeptabel ist, welche Themen wie behandelt werden und wie man auf diese reagiert. Diesen Unterschied müssten vor allem Politiker*innen nun (an)erkennen und für einen differenzierteren Umgang mit Videospielen und der Gamer-Szene nutzen. Seit Jahren betonen sie generell ihre Bedenken über das Ausmaß an Gewalt in Spielen. Die Frage danach, was das Spiel aussagen will und wozu es die Gewaltelemente gebraucht, bleibt aber für diese Diskussion unabdinglich. Wenn es in der Gamer-Szene üblich ist, sexistisch, rassistisch und homophob zu handeln, so können die Spiele komplett gewaltlos sein – Angriffe wie der in Halle werden trotzdem stattfinden. Es ist an der Zeit, die Akteure im Gaming-Bereich dafür verantwortlich zu machen, was sie normalisieren und in ihrem Umkreis tolerieren. Die Szene schützt ein System, das junge Menschen radikalisiert, statt sich deutlich von regressiven und rechtsextremen Idealen zu distanzieren.

 

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