Popularität als Kriterium und Ziel politischen Agenda-Settings
von Niels Werber
6.9.2021

Was »den Menschen« wirklich wichtig ist

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 60-64]

Am 27. Mai 2019 führt die Moderatorin Ann-Kathrin Büüsker im Deutschlandfunk ein Gespräch mit Paul Ziemiak, dem Generalsekretär der CDU. Die Ergebnisse der Europawahl vom Tag zuvor sind bekannt, die CDU hat deutliche Verluste hinzunehmen, und der Generalsekretär wird danach gefragt, was die Partei gegen die schwindende Wählergunst zu unternehmen gedenke. Ziemiak gibt zur Antwort, seine Partei habe ihre ureigenen Themen zu wenig ins Gespräch zu bringen vermocht; das müsse sich ändern: »Wir müssen vor allem zusehen, dass unsere Themen auch in der Gesellschaft diskutiert werden. Wir haben sehr viel über das wichtige Thema Klimaschutz und Umweltschutz gesprochen. Das ist korrekt. Aber es muss auch um die Frage gehen der Sicherheitspolitik, die Frage der äußeren und inneren Sicherheit, und wir dürfen die Frage von Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik nicht vernachlässigen, auch wenn das in diesem Wahlkampf keine Rolle gespielt hat.«

Interessant ist nicht diese absolut erwartbare Antwort, sondern die Anschlussfrage der Redakteurin: »Wieso müssen Sie dafür sorgen, dass Ihre Themen diskutiert werden, wenn die Menschen aber ganz andere Themen diskutieren, ihnen andere Themen wichtig sind? Dann könnten Sie sich auch einfach auf die Themen konzentrieren, die den Menschen wichtig sind.« Warum, so lautet die Frage der Moderatorin, sollte die CDU darauf insistieren, dass in der Gesellschaft über die Politikfelder Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik, über Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik diskutiert wird, wenn doch ganz offenkundig »andere Themen wichtig sind«, nämlich, so konkretisiert Büüsker, Klima- und Umweltschutz, wie »wir« ja »jeden Freitag«, dem Tag der »Friday for Future«-Proteste, sehen könnten.

Die Fragestellung insinuiert, die CDU solle sich doch besser »auf die Themen konzentrieren, die den Menschen wichtig sind«, statt weiter davon auszugehen, Themen in die Öffentlichkeit tragen zu müssen, die »den Menschen« zurzeit oder womöglich grundsätzlich egal sind. Wer bisher angenommen haben mag, dass Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wichtig genug seien, um von einer Partei zu einem Thema gemacht zu werden, wird jetzt eines Besseren belehrt: »Wieso müssen Sie dafür sorgen, dass Ihre Themen diskutiert werden?« Ja, wieso eigentlich? Warum macht eine Partei nicht einfach die »Themen«, »die den Menschen wichtig sind«, zu ihrer eigenen Sache?

Diese Frage zeigt eine diskursive Verschiebung an, die sich auf breiter Front im Verhältnis von Eliten und »den Menschen« beobachten lässt. Die Frage kehrt die Beweislast um: Noch vor kurzer Zeit mussten sich gerade Vertreter neu gegründeter Parteien dem Vorwurf stellen, sie hätten zu zentralen Politikfeldern nichts zu sagen und ihren Wahlkampf auf ein einziges Thema verengt, etwa dem Kampf gegen den Euro, gegen die Flüchtlingspolitik der großen Koalition, gegen die Hartz IV-Gesetze oder gegen internationale Handelsabkommen. Fachpolitiker konnten sich auf ihre Kernkompetenzen zurückziehen und mit Erfolg Respekt dafür einfordern, dass sie in ihre Ressorts gut eingearbeitet sind. Ziemiak, der ja das ein oder andere Fach studiert hat, könnte gewiss über das Steuerrecht und Sozialleistungen detailliert Auskunft geben, aber all dies würde ja Themen berühren, die »den Menschen« nicht wichtig sind und daher in den Geruch des Elitären kommen. Die Themen, die Ziemiak anführt, sind eben seine Themen, während »die Menschen aber ganz andere Themen diskutieren«. Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik – wer will sich dazu denn schon etwas anhören vom Generalsekretär der CDU?

Es scheint nunmehr legitimationsbedürftig zu sein oder zu werden, wenn eine Partei bestimmte Politikfelder für gesellschaftlich und politisch bedeutend hält und ihrem grundgesetzlichen Auftrag (GG Art. 21.1) nachzukommen sucht, »bei der politischen Willensbildung des Volkes« mitzuwirken. Politische Willensbildung ist in der Tat ein Auftrag an die Parteien. Grundgesetzkommentare sprechen hier von einer Vermittlungs- und Reduktionsleistung der Parteien, unterscheidbare Programme zu formulieren und für den Wähler identifizierbar zu machen. Der »Volkswille« wird von den Parteien nicht einfach aufgenommen und über die Parlamente in den Staat transportiert, sondern von ihnen »mitgeformt«, so etwa Dieter Grimm. Parteien repräsentieren den Willen des Volkes nicht nur, sondern nehmen gerade im Wahlkampf und in Wahlprogrammen bildenden Einfluss auf diesen Willen. Der Vorschlag, auf die »politische Willensbildung des Volkes« über das ganze Spektrum der Themen (man denke an die zahlreichen sachlich spezialisierten Ausschüsse und Unterausschüsse des Bundestages und an die Ministerien) zu verzichten, um stattdessen allein aufzugreifen, was »den Menschen wichtig« zu sein scheint, ist ein vollkommenes Novum.

Die Liste der Themen, die der Generalsekretär anführt, wird nun als »Ihre Themen« deklariert, Themen einer Partei, die all die vielen Menschen nicht mehr erreicht, weil ihnen »andere Themen wichtig sind«. Die Fragen der Moderatorin werden von einer asymmetrischen Opposition strukturiert, die an ein rhetorisches Schema populistischer Parteien (das Volk/die Elite) erinnert: »Ihre Themen«, das sind die Themen einer CDU, die »die Menschen« nicht mehr repräsentiert. Auf der anderen Seite der Differenz stehen »die Themen, die den Menschen wichtig sind«, aber von der CDU und vielleicht auch von anderen Parteien nicht repräsentiert werden, weshalb »jeden Freitag Schülerinnen und Schüler und inzwischen auch viele Erwachsene« auf die Straße gingen. Ziemiak muss sich rechtfertigen, warum er seine Partei nicht auf »die Themen konzentriert, die den Menschen wichtig sind«. Man hätte hier anmerken müssen, dass es heikel wäre, die gleiche Frage dem Spitzenkandidaten der AfD zu stellen, der sicher zufrieden replizieren würde, dass seine Partei ja genau dies tue, während die ›Systemparteien‹ nur ihrer elitären Agenda folgten, die die wahren Wünsche des ›Volkes‹ ignoriere und glücklicherweise im ›Volk‹ immer weniger auf Zustimmung stoße. Oder könnte man ernsthaft behaupten, die ausländerfeindlichen und lautstarken Kundgebungen der PEGIDA würden nicht von »Menschen« besucht, die ein »Thema« »wichtig« finden? 

Paul Ziemiak stellt leider nicht klar, dass es ihm keineswegs darum gehen könne, seine Partei auf das auszurichten, was die Leute ohnehin umtreibt, statt mühselig für die eigene Agenda zu werben. Er fragt auch nicht, woher die Moderatorin denn mit dieser Sicherheit wissen könne, was »den Menschen« wirklich wichtig sei. Auch dies ist bemerkenswert, denn hierin besteht offenbar Einigkeit zwischen der fragenden Journalistin und dem antwortenden Generalsekretär.

Es ist erstaunlich, aber die politische Relevanz von Themen und die hohe Beachtung für Themen werden gleichgesetzt: »Wichtig für die Menschen« ist, was populär ist und was bei vielen Beachtung findet. Die Stichworte im Interview sind das Rezo-Video, »Fridays for Future«, das »Image der GroKo«. Ihre Popularität erhalten diese Themen aber nicht durch ihre Sachdimension, die im Interview auch keine Rolle spielt, sondern durch die millionenfache Resonanz in der medialen Berichterstattung und in den Sozialen Medien. Nicht die Kritik an der CDU und die zahlreichen Argumente, die Rezo anführt, sind entscheidend für die Thematisierung des Videos, sondern die am Tag des Gesprächs hohe Zahl von mehr als zwölf Millionen Abrufen. Das Interview belegt das von beiden Gesprächspartnern unterstellte Desinteresse der Wählerinnen und Wähler für Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik mit keiner einzigen Umfrage, auch die Popularität von Rezo oder von »Fridays for Future« wird nicht eigens anhand von Zahlen belegt, doch geht das Gespräch unverkennbar davon aus, dass sich dies eben voraussetzen lässt. Das Populäre ist an die Stelle eines breiten Konsens darüber getreten, dass auch nicht populäre Themen relevant sein können und den Parteien wie den Wählern Informationspflichten auferlegen. Nunmehr gilt allen das Populäre als relevant, weil es sich gewissermaßen durch die schieren Zahlen selbst legitimiert – und dies so überzeugend, dass es Paul Ziemiak nicht einfällt, eine politische Programmatik, die sich allein an Umfragewerten orientiert, als populistisch zurückzuweisen.

Im Populären sprechen die Zahlen für sich: Millionen haben das Rezo-Video, oder doch einige Ausschnitte, gesehen; Hunderttausende haben Greta Thunbergs Porträt auf dem Cover des »Time Magazine« zur Kenntnis genommen, ihre Tweets geliked und retweetet; und Millionen können in den Massenmedien nahezu täglich hören oder lesen, dass die Koalition aus CDU und SPD schlecht regiere, langweilig sei, scheitern werde oder doch ihre Leistungen nicht kommuniziere und die Bodenhaftung verliere. Dass das bloße Abrufen eines Videos, der Retweet eines Tweets, das Hören eines Radiobeitrags oder das Lesen eines Zeitungskommentars per se weder sachliche Zustimmung noch Ablehnung bedeutet, sondern zunächst einmal nicht anderes beweist als die Beachtung eines Beitrags, spielt hier keine Rolle. Es ist die schiere Popularität im Sinne großer Zahlen, die es erlaubt, die Agenda der CDU (»Ihre Themen«) von »den Themen der Menschen« zu unterscheiden. 

Eine Partei, die kein eigenes Agenda-Setting betriebe, sondern die sich »einfach auf die Themen konzentrieren [würde], die den Menschen wichtig sind«, wäre eine Partei, die sich allein an der Popularität orientierte: 1. an der Popularität von Themen und 2. an ihrer eigenen Popularität, die sie dadurch gewinnt, dass sie diese populären Themen aufgreift und so um Zustimmung wirbt. Eine solche Partei benötigt kein Programm, das ja der geschmeidigen Anpassung der aktuellen Agenda an die Popularitätskonjunkturen von Themen im Weg stünde. Eine solche Partei muss vielmehr flexibel oder opportunistisch auf Beachtungserfolge reagieren, um von sich behaupten zu können, sie greife genau jene Themen auf, die den Menschen wichtig sind. Sie wäre okkasionalistisch zu nennen, und sie müsste sich von Normen und Entscheidungen, die sie in ihrem Handeln binden könnten, lossagen, damit sie ihr Ohr immer dort haben könnte, wo das Volk in besonders populärer Weise seinen Willen artikuliert. Die automatisierten Beachtungsmessungen der digitalen Plattformen und die gute alte Sonntagsfrage können dann wöchentlich daraufhin ausgewertet werden, inwieweit dies gelungen oder misslungen ist und mit welchem wichtigen Thema die Partei in der nächsten Woche ihre Popularität steigern könnte. Eine Partei, die derart in der digitalen Beachtungsökonomie angekommen wäre und das Populäre um der Popularität willen auf die Agenda setzte, wäre eine populistische Partei. 

Die Hilflosigkeit, mit der der Politiker auf die Frage der Redakteurin reagiert hat, scheint mir daher auch etwas Beruhigendes zu haben. Selbst in der Krise glaubt man noch an die traditionellen Kernkompetenzen einer Volkspartei. Das ist konservativ. Populistisch wäre es, den Vorschlag anzunehmen und genau mit den Themen Wahlkampf zu machen, »die den Menschen wichtig sind«. In den USA hat dieses Rezept bereits zum Erfolg geführt. Den deutschen Parteien wäre in dieser Frage mehr Widerständigkeit gegen die Ausrichtung am Populären zu wünschen, selbst wenn die Souveränität im Umgang mit Sozialen Medien von dieser populistischen Ausrichtung profitieren würde, wie ebenfalls das Beispiel Donald Trump belegen kann.

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