›Pop‹ goes ›Fine-Dining‹
von Torsten Hahn
30.8.2021

Übersetzungsketten und Oberflächen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 44-49]

Spätestens seit der 2019er Ausgabe des »Gault & Millau« ist ›Pop‹ in das Reich der Kochmützen eingewandert. Statt mit den bis zu drei Kochmützen sowie einer Benotung nach dem Modus des französischen Schulsystems kann ein Restaurant fortan alternativ durch die Kategorie »pop« ausgezeichnet werden. Die traditionelle Bewertung entfällt dann. Auch visuell unterscheidet sich die neue Kategorie deutlich von den ehrwürdigen Kochmützen: Die drei roten Buchstaben werden leicht schräg aufsteigend in einem gelben, auf der längeren Seite liegenden Rechteck präsentiert. Auf dem Buchumschlag geht die Bedeutung von »pop« in einer die Zunge in Bewegung bringenden Alliteration auf (die trotzdem kaum als gelungene Beschreibung durchgehen dürfte): »locker und lecker«. Im Buch wird die Formel zuerst in »[u]nkonventionelle Konzepte außerhalb des klassischen Restaurantformats« übersetzt, bis es einige Seiten später wieder »[l]ocker & lecker« heißt. 

In ihrer ersten Variante ist diese Begriffsexplikation offenbar ein Versuch, Einfachheit in möglichst lässiger Form zu loben. Dass ein zentrales Organ der Gastronomiekritik auf ›lecker‹ zur Beschreibung von Kulinarik zurückgreift, dürfte sich dem Ziel verdanken, neue Leser anzusprechen, von deren Vermögen oder Willen zur sprachlichen Differenzierung man nicht unbedingt überzeugt ist. Der Anschluss an eine elaborierte Semantik von ›Pop‹ misslingt darum.

Die zweite Variante der Begriffsausfaltung richtet sich auf Konzepte, welche die traditionelle örtliche Formatierung von ›Restaurant‹ übersteigen und verwandeln. Dies kann durch ein Spiel mit der angedeuteten Überschreitung der Grenze zur ›imbissförmigen‹ gastronomischen Kommunikation, durch die Unterbringung an einem interessanten Ort, der gewöhnlich keine kulinarischen Exzesse verspricht, oder durch die Automation von Funktionsabläufen geschehen. Ersteres zeigt sich z.B. in der Einstufung des »Pig Bull« in Köln als ›pop‹, bei dem hervorgehoben wird, dass es entgegen dem Schein »mehr Bistro als Imbiss« biete, zweiteres etwa in der Auszeichnung von »Garage du Pont« (Potsdam), einem Lokal in einer denkmalgeschützten Tankstelle, letzteres in der Aufnahme des Berliner »Data Kitchen« in die ›pop‹-Gastronomie.

Der Begriff bzw. die Einordnung des Restaurants in die Kategorie ›pop‹ prämiert also das Aufbrechen traditioneller oder ›normaler‹ Strukturen. Der Leser kann sich sofort zu Beginn des Bewertungsteils überzeugen, dass das auf dem Umschlag gegebene Versprechen, viele neue Orte aufzunehmen, eingehalten wird. Gleich die erste Restaurantkritik des Bands präsentiert ein als ›pop‹ klassifiziertes Restaurant, das »Justus K« in Aachen. Dank der neuen Kategorie kommen insgesamt 70 zusätzliche Adressen hinzu. Dabei sollen selbstverständlich auch der Bewertungsstil sowie die Kriterien von ›pop‹ idealtypisch vorgeführt werden. Die Beschreibung führt von den Läden der Nachbarschaft, als da wären Shisha-Handel, Hähnchen-Grill, Handy-Laden sowie eine Galerie in noch experimentellem Stadium, zum Lokal selbst. Hervorgehoben wird dessen Ästhetik, die Beton und Klinker in Szene setzt. Von dort führt der Text zu den Köchen und zum Service, dann zum Essen. Bis zum letzten Punkt, den Gerichten, dominiert das Interesse am Unkonventionellen bzw. dem, was aus der Perspektive des »Gault & Millau« darunter fällt, etwa Kleidung (Kopfbedeckungen der Köche wie »Seeräubertuch« und »Skaterkappe«) oder unkonventioneller Stil (einigermaßen hektische Bewegungen des Service, die merkwürdigerweise nicht zur Beschleunigung führen). Das Essen selbst ist weniger bis kaum auffällig: Es gibt Gillardeau-Austern und Sashimi sowie Nori-Algen, die allerdings »moosig-waldig« schmecken, was durch die Verbindung von Meer und Erde zugleich den auffälligsten Teller ergibt.

Die Kategorie ›pop‹ hebt augenscheinlich primär den Rahmen hervor, in dem etwas präsentiert wird. Dies reicht von der Nachbarschaft des Restaurants über dessen Architektur und Raumgestaltung bis zum Service. Bei der Beschreibung der Gerichte bleibt hingegen unklar, warum sie ›pop‹ sein sollen bzw. was in ihrem Fall Differenz generiert. Die Kategorie zeigt an, dass ein Restaurant lässiges, nicht-formelles Verhalten ermöglicht oder prämiert – wobei dieses ›irgendwie‹ aus der direkten Umwelt abgeleitet wird. Zugleich muss die Küche, um für die Bewertung in Frage zu kommen, Überdurchschnittliches in allgemeinverständlicher, d.h. wohl: ›leckerer‹ Form an den Gast bringen.

Eine solche Begriffsverwendung ist selbstverständlich möglich, geht allerdings zu Lasten des Pop-Begriffs: Dessen Bedeutung verflacht und wird beliebig, bis hin zur Austauschbarkeit mit ›locker und lecker‹. Dies befindet sich nah am Nullpunkt des Bedeutungspotenzials des Konzepts. Im Kontext ›Kulinarik‹ mangelt es offenkundig an einem starken Pop-Begriff. Dies dem Restaurantführer vorzuwerfen, wäre sicherlich unangebracht; vielleicht ermöglicht aber ein wenig mehr ›Theorie‹ ebenfalls die Rekrutierung neuer Leser. 

Die Möglichkeit zum Entwurf eines starken Pop-Begriffs bietet das theoretische Umkreisen von ›Pop-Kulinarik‹ bzw. ›Pop-Gastronomie‹. Dies kann, im besten Fall, nicht nur den oben skizzierten Mangel beheben, sondern auch, zumindest möglicher- oder idealerweise, zu einem neuen oder erweiterten Verständnis von ›Pop‹ beitragen. Dafür kann man, so ein erster Vorschlag, zunächst einmal an das anschließen, was den »Gault & Millau« interessiert, wenn er Restaurants als ›pop‹ klassifiziert: die Rahmungen der Gerichte, oder, wenn man so will: das Ornament des Essens im Sinne des (scheinbaren) Beiwerks. Dies sollte von der direkten Umwelt, also der Nachbarschaft, bis zum Geschirr reichen.

Der Begriff ›Pop‹ wird im Rahmen von Kulinarik interessant, so ein erster Vorschlag, wenn er die Übersetzung des Populären, das sich zunächst einmal wenig um Distinktionsgewinn schert, sondern sich durch Verbreitung, niedrige Zugangsschranken usw. auszeichnet, in Avantgarde-Küche beschreibbar macht. In diesem Zusammenhang gilt es, die Spur der Transformation aufzunehmen und ihr durch die Vermittlungen, die Stufen des ›Stoffwechsels‹, zu folgen. Diese Umwandlungen können rein materieller Natur sein, aber auch unerwartete Verbindungen von Zeichen und Dingen, Form und Gehalt sowie deren Austausch betreffen. 

Zur Beschreibung braucht es Theorie bzw. Begriffe, die diese Verbindungen sichtbar machen. Ausgehen lässt sich bei der Suche nach solchen Begriffen z.B. vom Konzept der »Übersetzung (translation)«, das Bruno Latour in »Die Hoffnung der Pandora« (1999) entwirft. Dabei ist entscheidend, den »Übersetzungsketten« zu folgen, die dafür sorgen, dass der Graben zwischen »Kontext« und »Inhalt« überbrückt wird. Gleiches gilt für die Welt der Zeichen und die der Dinge. Selbstverständlich bleibt es dabei nicht aus, dass diese Konzepte zwecks Steigerung der Passgenauigkeit zur Kulinarik erweitert oder verengt werden.

Einen über solche Ketten verlaufenden ›Stoffwechsel‹ kann der Gast z.B. im Restaurant »Bo Innovation« (Hongkong) verfolgen. Die Gerichte werden mit einer Erläuterung der Herkunft ihrer Elemente präsentiert: Die Köche verwenden Zutaten, die jene Aromen nach vorne bringen, die der Gast in den engen Straßen des Distrikts Wan Chais, also der Umwelt des Restaurants, die er zuvor durchquerte, zwangsläufig kennengelernt hat. Dies betrifft z.B. den Bambusschnaps »Chu Yeh Ching Chiew«, der keineswegs zu den hochpreisigen Spirituosen zählt – ganz im Gegenteil. Dessen prägnanter Geruch verbindet durch einen feinstofflichen Faden Straße und Teller und sorgt so für ›Übersetzung‹. Gleiches gilt für die teils kitschigen plastischen Details des Geschirrs, wie schwarze Drachen. Diese sind Medien, durch die die Übersetzung des Populären läuft und zugleich selbst bereits übersetzte Formsprache.

In diesem Sinn gilt es, Bezirke der Übersetzung bzw. die Medien, die selbst Teil der Kette sind, zu bestimmen. Dies wird m.E. der Transformation des Populären in ›Pop‹ im ›Fine Dining‹ gerecht – im Gegensatz zu den Kochshows und Sendungen, in denen es hauptsächlich darum geht, sich als Chef möglichst laut und mackerhaft hart oder volksnah bis an die Grenze des Populistischen zu präsentieren (indem man etwa stets seine Verachtung für Form und Distinktion gefragt oder ungefragt mitteilt, was vermutlich für Sympathien der Zuschauer sorgen soll, die ›einen von uns‹ dort ausmachen, wo man ihn nicht erwartet hätte). Dies mag zwar populäres Fernsehen sein, trägt aber nichts zur Übersetzung, zur Theorie oder zum ›Pop‹ der Kulinarik bei. Daher muss es hier an dieser Stelle auch nicht weiter interessieren. 

In der (gelingenden) Übersetzung werden die populären Elemente ›aufgehoben‹, d.h. sie verschwinden nicht. Zugleich sind sie eingebunden und sorgen nicht für Diskordanz im Gericht – was bei dem Bambusschnaps durchaus möglich wäre. Sie werden im Zuge ihrer Aufhebung aber ästhetisiert und, obwohl Schnaps nun einmal Schnaps ist, verändert: Die Transformation verwandelt Elemente des Populären in ›Pop‹-Stoff. Dieses Verfahren der Übersetzung begegnet einem inzwischen häufiger; es gelingt ebenso wenig zwangsläufig, wie es notwendig eine positive Kritik nach sich ziehen muss. Aber das Verfahren ist Ausdruck eines Ernstnehmens von Rahmen und Ornament, das an deren bereits vollzogene theoretische Aufwertung Anschluss schafft: Der Rahmen ist nichts dem ›eigentlichen‹ Gegenstand Äußerliches und das Ornament kein diesen bloß zierender Zusatz. Im Gegenteil: Die Übersetzung führt vor, wie das Ornament den ›eigentlichen‹ Gegenstand oder der ›Substanz‹ erst Struktur gibt. Übersetzung bedeutet Einfaltung des Rahmens und damit die Überbrückung der Kluft, die das ›Innen‹ vom ›Außen‹ trennt.

Die Frage nach dem Ornament führt auch zum zweiten konzeptuellen Vorschlag bzw. zur zweiten Verschiebung oder Korrektur einer Asymmetrie, wie sie der Pop-Begriff im Kontext ›Essen und Kulinarik‹ eventuell leisten kann. Denn nach wie vor ist der Vorwurf, den Roland Barthesʼ Rede von »Ornamentale[r] Küche« aufgerufen hat, in Debatten und Diskursen um Kulinarik und ›Fine Dining‹ präsent, wenn auch in einer an die Gegenwart angepassten Form. Barthes bezeichnet in seiner Untersuchung und Kritik der »Mythen des Alltags« (1957) in der Zeitschrift »Elle« abgebildete Gerichte als ›ornamental‹. Sie seien bloße manieristische Fantasien, denen keine Realität entsprechen solle, reines Dekor, ein kleinbürgerlicher Traum vom »Chic«, verpackt in Rezeptform. Der Clou ist, dass diese Rezepte nicht zum Kochen führen sollen, es bleibe bei der »Betrachtung«. Die »Ornamentierung« der Speisen bedeutet die Verwandlung von Essen in substanzlose »Oberflächen« bzw. in unstoffliche »Arabesken« – es geht nur um das Auge, was schließlich zu kleinbürgerlichem Kitsch führt.

Diese Kritik an »entfesselte[n] Verzierungen«, die die Sache selbst, nämlich die wahrhaft ›gute Küche‹ und ihre Gerichte, ersetzen, ist als Medienkritik nach wie vor präsent. Sie wird geäußert, wenn es um die gegenwärtig verbreitete Vorliebe geht, jeden Teller vor dem Konsum abzufotografieren – womit dieser, so die Kritik, seine primäre Funktion schon erfüllt habe. Solche Kritik findet sich u.a. in einem kurzen Artikel am Beginn der 2019er Ausgabe des »Gault & Millau« (was, mit Blick auf die neue Vorliebe für ›pop‹ und die Kriterien der Kategorie, merkwürdig erscheint). Befürchtet wird, dass die ›ornamentalen‹ Qualitäten eines Gerichts, nach denen Instagram-Aficionados suchen, dessen ›realen‹ Vorzügen, also Geschmack, Dichte und Textur, abträglich seien. Der kleinbürgerliche Geschmack ist in dieser Transformation der ornamentalen Küche nun selbst zum Produzenten der gehaltlosen Abziehbilder geworden. Diesem Bedürfnis kommen offenbar, glaubt man dem kleinen Artikel, Köche entgegen, die den Wunsch, Fotografien von primär visuell attraktivem Fantasie-Essen zu verbreiten, bedienen und ihre Küche entsprechend umstellen. Unter der Überschrift »Das Auge isst mit« wird so die Gefahr, die dies für die neue Küche bedeutet, beschworen. Wie begründet diese Sorge ist, mag dahingestellt bleiben; dass sie u.a. mit der Kritik an der Pinzette als Kochbesteck einhergeht, verwundert zumindest und legt nahe, dass sich auch in dieser Sorge primär ein spezifischer Geschmack ausdrückt und Definitionsmacht ausgehandelt oder hinterfragt bzw. reklamiert wird. 

Wenn die Kategorie ›Pop‹ die Aufwertung des Rahmens und des Ornaments bedeutet, ist sie auch geeignet, die Dekonstruktion der Unterscheidung von Sache und Zeichen bzw. visueller Oberfläche und geschmacklicher Tiefe anzuzeigen. In Frage steht auch hier die Möglichkeit der ›Übersetzung‹ und der Transformation sowie und damit einhergehend die nach der Tiefe der Oberfläche, also dem, was ›Pop‹ direkt bezeichnet. Beispielhaft hierfür ist ein Hongkonger Restaurant (um den lokalen Bezug zu erhalten) namens »Tate«, in dem Vicky Lau die Oberfläche zum gleichberechtigten Inhalt der kulinarischen Kommunikation macht. Lau, die ›Graphic Communication‹ in New York studiert hat, bevor sie zum ›Chef‹ wurde, schafft mit ihren Gerichten eine Art von Kommunikation, in der die Form der Äußerung ebenso wesentlich ist wie die Botschaft. Kulinarische Dichte und grafische Kunst ergänzen sich auf dem Teller bzw. gehen ineinander über: Das erste ›Amuse‹ (des 2019er Frühlingsmenüs) führt vor, wie das Zusammenspiel von ›Außen‹ und ›Innen‹ funktioniert – zugleich stellt es Laus Gespür für das ironische ›Passen‹ gegenstrebiger Fügungen unter Beweis. In der Mitte des Tellers befinden sich die Häppchen, die visuell Andy Warhols »Flowers«-Serie, die wohl als ikonisch bezeichnet werden darf, zitieren oder, wenn man so will, als Intertext aufrufen. Je weiter es auf die Ränder zugeht, verwandelt sich der gläserne Teller dann in Gold, was einen Aureole-Effekt hat. Dieses ästhetische (›Aisthesis‹ sollte hier auf alle Fälle mitgedacht werden) Verfahren entspricht dem Ansatz, Kochen als, wie es auf der Homepage heißt, »canvas to explore creativity because of the added dimensions of taste and smell« zu verstehen. Es ist diese Idee der erweiterten Leinwand, welche die Gleichberechtigung des immateriell Visuellen sowie des Stofflichen schafft und so dem ›Ornament‹ Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Beide vorgestellten Varianten, das Verhältnis von ›Pop‹ und ›Kulinarik zu definieren, sind selbstverständlich nur erste Vorschläge. Im Zentrum solcher Versuche, zu bestimmen, was ›Pop‹ als Kulinarik bedeuten kann, könnte stehen, Theorie und Merkmale des Pop-Begriffs (hier waren dies im Wesentlichen die des Ornaments und der Oberfläche) zusammenzudenken und an den Gegenstand sowie die Spezifik der gastronomischen Gegenstände anzupassen: Theorie als die der Übersetzung und Transformation – und als Merkmale von ›Pop‹ im Wesentlichen die des Ornaments und der Oberfläche. Darüber hinaus wurde eine Möglichkeit zur Beschreibung des ›Kulinarik-Pop‹ in der Übersetzung des Populären gesucht, mit dem er nicht mehr vollständig identisch ist, aus dem er aber hervorgeht und dessen Merkmale nicht abgestreift, sondern aufgehoben werden. Ob dies nun anschlussfähig ist oder nicht – wichtig ist, jene begriffliche Lücke zu füllen, welche die Begriffsverwendung im 2019er »Gault & Millau« nicht schafft oder verantwortet, aber anzeigt. 

 

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