Entmystifizierung ohne Entzauberung: Charisma und Jugendprotest in den 1960er Jahren und bei Fridays for Future
von Max Lill
31.5.2021

Eine Nachbetrachtung zu Bob Dylans 80. Geburtstag

An Streifzügen durch Leben und Werk Bob Dylans, brillanten wie geschwätzigen, herrschte auch anlässlich des jüngsten Jubiläums wieder kein Mangel.[1] Im Folgenden geht es um eine Würdigung anderer Art. Statt den Ausnahmestatus des Songwriters ein weiteres Mal zu illustrieren, wird der Frage nachgegangen, was fast 60 Jahre der Dylan-Verehrung über den historischen Wandel eines allgemeineren und derzeit wieder hoch aktuellen Phänomens verraten: Die charismatische Verkörperung zeitspezifischer Sensibilitäten, insbesondere der Ansprüche progressiver Jugendbewegungen.

Die Empfindungsweisen und Praxen jugendlicher Protestkulturen sind heute natürlich ganz andere als in den 1960er Jahren, in mancher Hinsicht erscheinen sie geradezu gegenläufig.[2] Die konfliktreiche Aushandlung kollektiver Bewegungsidentitäten vermittelt sich aber damals wie heute in hohem Maße über verbindende und zugleich polarisierende Symbolfiguren. Das gilt sowohl für die Binnenverhältnisse der Aktivist*innen und ihres näheren Umfeldes als auch für die Außenwahrnehmung der breiteren Öffentlichkeit, die sich ein Bild nicht nur dieses spezifischen Milieus, sondern der jeweils neuen Generation insgesamt zu machen versucht – und die dabei typischer Weise viele ihrer eigenen Probleme und Hoffnungen in verzerrender Weise auf „die Jugend von heute“ projiziert. Die sich etablierende Rede von der „Generation Greta“ deutet das, analog zur Kennzeichnung von Dylan als „Stimme einer Generation“, bereits an. So irreführend solche pauschalen Etikettierungen in beiden – auf den ersten Blick zumal schwer vergleichbaren – Fällen sein mögen, verweisen sie doch auf den herausragenden Stellenwert der Personen für die diskursive und habituelle Verdichtung vieler der von den Jugendbewegungen ausgehenden oder ihnen zugeschriebenen Impulse.

In den Reflexionen der kritischen Sozialwissenschaften, speziell den historisch-materialistisch geprägten, die vor allem mit unpersönlichen „Strukturen“, „Klassenverhältnissen“, „Transformationsprozessen“ und dergleichen befasst sind, bildet sich dieser Umstand aber nur begrenzt ab.[3] Und wo es in kulturwissenschaftlicher Perspektive heute um konkrete, nicht zuletzt ästhetische Verkörperungen im politischen Feld geht, bezieht es sich meist auf die neurechten Bewegungen, vor allem Donald Trump.[4] Hier soll die Blickrichtung einmal umgekehrt werden: Am Beispiel von Bob Dylan (und zum Ende hin kontrastierend Greta Thunberg) wird danach gefragt, worin Elemente und Probleme eines „demokratischen Charismas“ bestehen könnten.[5]

Zwischen Kultus und Selbstverständigung: Dylan als Medium historischer Erfahrung

Als öffentliches Phänomen ist Bob Dylan vor allem Medium der Selbstverständigung, kollektiv wie individuell: Ein unübersehbar weites Netz aus Artefakten der Erinnerung, Introspektion und Begegnung – gesponnen von Millionen Menschen, für die der Sänger, Poet und Popstar zum Lebensbegleiter wurde. Persönliche Erfahrungen und zeithistorische Wendungen aller Art haben sich dem Werk eingeschrieben und befragen sich wechselseitig in den uferlos zirkulierenden Songversionen, Erzählungen und Bildern. Ähnliches gilt sicher auch für andere Schwergewichte der Popmusik. Schon die schiere Dimension des sozialen Kosmos Dylan und erst recht seine existenzielle Tiefenwirkung vermitteln jedoch immer wieder zuverlässig den Eindruck, den sich selbst verstärkenden Resonanzen eines Genre-Urknalls zu lauschen.

©Tamar Magradze

Wo es aber nach Ursprung und Geburt riecht, da werden auch Kultstätten und Devotionalienstände errichtet, da vernebeln Weihrauchdämpfe die Luft. Das analytische Sezieren des Gegenstandes wird an solchen Orten nicht immer geschätzt. Nicht wenige Dylan-Fans winken bloß ab, wenn wieder neue gelehrige Bücher über den sich ohnehin entziehenden Meister auf den Markt kommen. Musik und Performance, sagen sie, sprächen für sich und ihre Bedeutung liege allein im subjektiven Auge der Betrachter*in.[6] Die hoch professionalisierte Disziplin der Dylanologie – zumal ihre lange etwas einseitig literaturwissenschaftlich ausgerichtete deutsche Sektion – war oft dem Vorwurf ausgesetzt, durch das unermüdliche Sortieren und Beschriften auch noch der kleinsten Fundstücke eine Musealisierung zu befördern, vor der Dylan selbst schon 1966 in „Visions of Johanna“ graute. Die Sorge ist, dass die systematische Erkundung aller Untiefen der Werkerfahrung, die hier immer auch Erfahrung einer seltsam vertrauten und doch ungreifbaren Person ist, die Stillstellung und damit „Entzauberung“ des Spiels der Signifikanten begünstigen könnte.[7]

Max Weber hatte das so bezeichnete Schwinden von Erfahrungen der Magie, der berauschend-sinnlichen Selbsttranszendenz und Heiligkeit vor gut einem Jahrhundert sogar zum Grundzug moderner Rationalisierung und Intellektualisierung stilisiert – und ihr die affektive Macht des nur noch selten aufbrechenden, revolutionären Charismas als schöpferisch-dynamischen und strikt personalen Herrschaftstypus gegenüberstellt.[8] Angesichts der neuerlichen Konjunktur irrational-verschwörungsgläubiger Bewegungen und populistischer Personenkulte wird Webers Charisma-Theorie wieder verstärkt diskutiert[9] – trotz stichhaltiger Grundsatzkritiken an deren Vorannahmen, systematischer Anlage und elitistisch-antiparlamentarischer Stoßrichtung (die konkret v.a. gegen das politische Erstarken der Arbeiterbewegung und räterepublikanische Bestrebungen in der Umbruchphase von 1918/19 gerichtet war).[10]

Drängender als eine weitere Neubesichtigung des Klassikers und seine Operationalisierung für die Analyse verschiedener Spielarten des zeitgenössischen Autoritarismus scheint mir die Frage nach Merkmalen und Typologien einer demokratischen Ausprägung charismatischer Beziehungen, die sich Webers Bestimmungen gerade nicht fügen. Das Thema ist nicht nur von akademischem Interesse, sondern betrifft eine Grundproblematik emanzipatorisch orientierter Politik: Dieser geht es ja immer wesentlich um Aufklärung und egalitäre Werte, also um einen Abbau privilegierter Sprecher*innenpositionen. Für die Mobilisierung kollektiver Leidenschaften und eine Bündelung ihrer Veränderungsenergien bleibt sie aber offensichtlich doch häufig auf ihre eigenen Charismatiker*innen angewiesen, womöglich auch auf ihre eigenen Formen der „Verzauberung“.

Wie also umgehen mit dem derzeit wieder viel zu beobachtenden Bedürfnis nach progressiven Heldenfiguren? Lässt sich der Mythos, die irrationale Überhöhung der Person, zurückweisen, ohne das Phänomen selbst zu entzaubern? Der Fall Dylan bietet für solche Fragen reiches Anschauungsmaterial, weil sich der Widerspruch zwischen Vitalität und Zurückweisung des Personenkults hier besonders markant und wirkmächtig zugespitzt hat.

„Don’t follow leaders“!

Dass vor allem der junge Dylan Charisma in rauen Mengen versprühte, mindestens im alltagssprachlichen Sinn von magnetischer Ausstrahlung und Inspirationskraft, darüber dürfte sich schnell Einigkeit herstellen lassen. Mit Blick auf Webers enger gefasstes und strikt hierarchisch konzipiertes Führercharisma, das persönliche Gefolgschaft aus dem Glauben an die außeralltäglichen Gaben der Person begründen soll, drängt sich dagegen Skepsis auf. „Don’t follow leaders“ rief schließlich schon 1965 der durch Elektrifizierung und Surrealismus frisch Verjüngte im „Subterranean Homesick Blues“ seiner enttäuschten Folk-Gemeinde zu – und machte sich kurz darauf für Jahre ganz aus dem Staub.

Das half zwar nur bedingt gegen die Legendenbildung, die in Abwesenheit ihres verrätselungsfreudigen Hauptprotagonisten erst recht wilde Blüten trieb. Aber immerhin ließ sich mit einem gänzlich führungsunwilligen Guru keine jener im Post-68er Milieu zahlreich aufkommenden New-Age-Sekten gründen, in denen sich häufig Muster persönlicher Jüngerschaft ausbildeten – und deren Hinterlassenschaften uns noch heute in Gestalt nicht weniger Querdenker*innen Probleme bereiten. Auch die evangelikale Phase des predigenden Dylan, der nun selbst ganz entschieden dienen und Glaubensgewissheit erlangen wollte, blieb eine Episode auf dem Höhepunkt der neokonservativen Gegenrevolution 1979-81. Jenseits solcher Zuspitzungen bewegen sich apokalyptische Szenerien und messianische Erlösungssehnsüchte, die sich bei Dylan in fast allen Schaffensphasen finden, im Schwebezustand künstlerischer Metaphorik. Abgesehen von Vorahnungen der seither real eskalierenden sozial-ökologischen Zerstörungsprozesse, verweisen sie historisch vor allem auf die Erfahrung von biographischen Brüchen und Verwerfungen sowie eine wachsende Desillusionierung angesichts der politischen Niederlagen der Neuen Linken vor dem Hintergrund des „großen Erdrutsches“ (Hobsbawm), also einer Entfesselung des sozialstaatlich gebändigten Kapitalismus im Nachgang von 1968. Wie so viele von Dylans Inkarnationen, konnten sich dabei auch die spirituellen Motive – und ihr Pendent: die nihilistischen Einschläge – je nach Bedarf selbstironisch karikieren. Zu Dogmen, sei es religiösen oder nietzscheanischen, erstarrten sie jedenfalls nicht.

Dennoch ging von den zwischen Archetyp und Trickster flackernden Performances vor allem in den 1960er Jahren ein Sog aus, der auch in klugen Köpfen so etwas wie Konversionserfahrungen, Besessenheit und – trotz aller Abwehr der Prophetenrolle – zumindest zeitweilig auch gläubige Jüngerschaft bewirken konnte.[11] In Dylans Fall machte sich das offensichtlich nicht an klaren Orientierungsangeboten fest. Vielmehr schlug der Angebetete oder wahlweise als „Judas“ geschmähte von Beginn an derart wilde Haken, dass die Gemeinde teils verwirrt, teils wütend, teils aufs Neue erleuchtet in sich mehr oder weniger feindlich gesonnene Fraktionen zerfiel: Traditionalistische oder politisierte Folkies, psychedelisch berauschte Hippies und Beatknicks oder schwärmerisch verliebte Teenager, Religiöse und Atheisten, Pazifisten und Militante – alle zelebrierten sie ihren Dylan, der ihnen ganz persönlich, wie in einem Traum, zuzuflüstern schien. Mit ihm verbanden sich erschütternde Wahrheitseffekte von größter subjektiver Evidenz. Andere, die das nicht sahen, mussten es wohl falsch verstanden haben. Vielleicht galt das sogar für diesen schroffen Typen namens Robert Zimmermann mit seiner Halloween-Maske. Immerhin zeigte der sich Mitte der 1960er Jahre gespannt, ob die Kritiker ihm wieder mal erklären würden, was zur Hölle er eigentlich sagen wollte.

Das von der Bürgerrechtsbewegung befreiungstheologisch aufgeladene Bild des gerechten Erben von Joe Hill und Woody Guthrie, das etwa Joan Baez aus nächster Nähe mitzeichnete, unter dessen Gewicht und Enttäuschungspotential sie und andere aber auch schwer zu leiden hatten, wies angesichts des Spiegelkabinetts der Bedeutungen jedenfalls von Beginn an Risse auf. Das Gravitationszentrum von Dylans Wirken lag offensichtlich weniger in bestimmten politischen Überzeugungen als in der Suche nach neuen Erfahrungsmöglichkeiten, der Vergegenwärtigung von Verdrängtem und einer Kultivierung sozialer Empathie in musikalisch-performativen Formen. „Life isn’t about finding yourself, or finding anything. Life is about creating yourself“ stellte Dylan zuletzt wieder im Interview zum Rückblick auf die „Rolling Thunder Revue“ fest. Vor allem um diese lustvolle, aber auch düster-melancholische Beweglichkeit zu bewahren, arbeitete er ständig an der Zertrümmerung aller zu seinen Ehren aufgerichteten Standbilder. Seinem eigenen Mythos begegnete er mit wachsendem Alter aber auch mehr und mehr distanziert schmunzelnd, präsentierte sich immer expliziter als bloßer Botschafter, der nur skizzenhaft aufschreibt, was ihm aus reichen Kulturtraditionen und gegenwärtigen Stimmungen ohne viel willentliche Intention zufliegt.

Tears of Rage“ erscheint am 1. Juli 1968 auf dem Debütalbum von The Band „Music from Big Pink“ – wenige Wochen nachdem die Morde an Martin Luther King Jr. und Robert F. Kennedy die politische Niederlage der Bewegung besiegelt haben. Die Lyrics des von Richard Manual komponierten und gesungenen Songs stammen aus Dylans Feder. Noch im August desselben Jahres spielt Joan Baez auf dem Album „Any Day Now“ (das ausschließlich aus Dylan-Songs besteht) die hier vorgetragene a capella-Version ein – mit bemerkenswerten Änderung im Detail, besonders in der 2. Strophe, in der aus „most ev‘rybody“ „I myself“ wird: Sie adressiert in Wut und Trauer eine Figur, die von ihr und anderen einst getragen wurde („we carried you in our arms on Independence Day“ / „we pointed you the way to go“). Der so Angerufene aber entzog sich („now you throw us all aside“), erhielt gar „falsche Instruktionen“ und verkündete eine desillusionierende Botschaft („we watched you discover no one would be true“). Die lebenslange Repräsentantin der Ideale der Bewegung trägt all dies in einer Szenerie vor, die denkbar weit entfernt ist von den Bildern der Bürgerrechtsmärsche fünf Jahre zuvor. Sie erinnert stattdessen an die hedonistische Welt des „Playboy“, in den 50er und 60er Jahren in der Atmosphäre der Kulturrevolte (u.a. mit Dylan-Interviews) groß geworden: Es ist eine Form, in der Baez‘ Pathos wie ein Fremdkörper wirkt – und in die sich später ein gewisser Donald Trump auf reaktionäre Weise wird einschreiben können.

Konfrontation mit dem Unbewussten und Selbstreflexivität in der Identifikation

Dylans Charisma vermochte bei seinen Fans zwar jene von Weber hervorgehobene Wandlung der Gesinnungsrichtung und Handlungsorientierung „von innen“ her anzustoßen. Statt die Affekte der so Bewegten aber als Teil einer unterworfenen Masse im Bann des Führerwillens zusammenzuschweißen, zersetzte dieses anti-autoritäre Charisma gerade die ideologischen Glaubenssätze und Kollektividentitäten der verschiedenen Strömungen der Neuen Linken. Dylan zwang viele ihrer Akteure durch das Explizieren bisher halb- oder unbewusster Empfindungen zur Selbstreflexion – und gerade auch zur Anerkennung von Erfahrungen des Scheiterns und der Desorientierung. Statt eine überlegene Stärke des großen Subjekts zu inszenieren, stellte er demonstrativ aus, dass seine Intuitionen und Neuerfindungen letztlich Verarbeitungsformen sozialer Erfahrungen waren, die ihm und uns zustießen und die gerade nicht beherrschbar waren.

„Drifters Escape“, ebenfalls entstanden in der Zeit unmittelbar nach Dylans Motorradunfall und Rückzug nach Woodstock und 1967 auf dem minimalistischen Album „John Wesley Harding“ veröffentlicht. Der Song lässt sich, spiegelbildlich zu „Tears of Rage“, als Zurückweisung der Urteile der enttäuschten einstigen Jüngerschaft lesen – wobei nun eine offenbar vergebungsfreudigere höhere Instanz ins Geschehen eingreift und den gebeutelten Drifter vor der Wut von Jury und Publikum, beide im Gebet abgelenkt, entkommen lässt.

Dieser Vorgang fügte sich insofern auch nicht in die psychoanalytische Sicht, wonach die identifizierende Projektion eines Größenselbst auf den Charismatiker, der vorübergehend an die Stelle des Über-Ichs tritt, dazu dient, die Identität des Subjekts angesichts innerer Zerrissenheit zu stabilisieren – um den Preis der eigenständigen Willensbildung.[12] Solche Identifikationen blieben flüchtig, lockerten Routinen und Überzeugungen und drängten dazu, untergründige Konflikte deutlicher wahrzunehmen. Das gilt auch für den grundlegenden Widerspruch zwischen den rationalistisch-androzentrischen Zügen der 68er-Bewegungen, die sich in aktivistisch-akademischen Kreisen vor allem in den 1970er Jahren etwa als Ableitungsmarxismus und K-Gruppen-Orthodoxie äußern konnten, und den oft unvermittelt danebenstehenden, anti-rationalistischen und sensualistischen Tendenzen, die sich nicht nur in allerlei Mystizismen, sondern auch in radikal-dekonstruktivistischen intellektuellen Moden zeigten. Innere Entfremdungs- und Spaltungserfahrungen konnten so zwar nicht versöhnt, aber doch besser bearbeitet werden. 

Nicht nur Dylans wechselnde performative Gestalten mussten sich mit den Jahren weniger polemisch voneinander abgrenzen, auch die zerstrittene Interpretationsgemeinde beruhigte sich allmählich. Viele ihrer Wortführer ordnen die eigenen Obsessionen inzwischen mit kritischer Distanz ein, ohne sie ganz aufzugeben. Es dominiert eine meist friedliche Koexistenz der Schulen von literarischer, biographischer, sozialhistorischer oder subjektivistischer Deutung. Auch in der breiteren medialen Debatte werden seltener die einst so verbreiteten irreführenden Behauptungen beschworen – etwa die einer authentischen Unmittelbarkeit in rein sinnlich-intuitiver Spontanität, einer genialen Schöpfung aus dem Nichts oder alternativ das Klischee des ewigen Versteckspiels bloßer Rollenwechsel. Stattdessen wird vor allem die Dialektik von Maske und Gesicht, Darstellungsform und existenzieller Erfahrung betont. Und die mitunter an geistigen Diebstahl grenzende Bastelarbeit des Song-Historikers und eklektizistischen Lesers wird hervorgehoben – in Kontinuität zur oralen Überlieferung der popularen Folk-Tradition, die mit bürgerlichen Vorstellungen geistiger Urheberschaft noch nie viel anfangen konnte.[13]

Auch wenn die anekdotische Selbstbespiegelung der Fans nach wie vor den größten publizistischen Raum einnimmt: Der Gesamtkomplex aus Musik, Texten, Performances, Publikumswirkungen und biographisch-zeitgeschichtlichem Kontext wird heute häufiger angemessen als ein Ganzes aus beweglichen, kommunizierenden Teilen beschrieben. Diese veränderte Diskussionslage kann als Ergebnis eines Lernprozesses gelesen werden. Sie zeigt zumindest im Ansatz die Potentiale einer aufgeklärten, aber nicht rationalistisch verkürzten, sondern sensibel mit Intuition und Einfühlung arbeitenden Umgangsweise mit Popkultur. Das über die Jahre geschärfte Bewusstsein für die kreative Verknüpfungsleistung und die enge Rückkopplung der Produzenten an ein leidenschaftlich rezipierendes Publikum ließe sich in diesem Sinne als kultureller Landgewinn der Ära der Pop-Musik insgesamt verstehen – trotz der Flut klischee- und nostalgiegetränkter Dokumentationen, die etwa die „arte“-Mediathek verstopfen.[14] Für eine zeitgemäße Charisma-Theorie wäre dies aufzugreifen, um Möglichkeiten und Grenzen einer Übertragbarkeit auf Figuren des im engeren Sinne politischen Feldes zu prüfen.[15] 

Pop-Stars waren seit Dylan und anderen Virtuosen der Gründergeneration keine bloß aus der Ferne anzuschmachtenden Überwesen oder autonomen Künstler mehr, sondern talentierte Sparringspartner bei der Suche nach lebenstauglichen Haltungen und Assoziationsformen – trotz aller gerade bei Dylan mitunter verletzenden Eigensinnigkeit, die sich im Anschluss an Hartmut Rosa auch als ein Element von „Unverfügbarkeit“ als Voraussetzung starker Resonanzerfahrungen beschreiben lässt.[16] Sie vermittelten Einblick in andere soziale und subjektive Welten und wendeten die in der älteren bürgerlichen Kultur als paradigmatische Kunst der Innerlichkeit konstruierte Musik ins Interaktive der Subkultur, bauten so neue Brücken zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Gerade Dylans wandlungsfähige Songs erlaubten es Generationen von Laienmusiker*innen (den Autor dieser Zeilen eingeschlossen), in unzähligen Coverversionen auch neue Nuancen der eigenen Stimme zu entdecken. Das half in der Krise und Auflösung der konformistischen Nachkriegsgesellschaften bei der Suche nach flexibleren Identitätsentwürfen, nach Differenz und Distinktion.

Schon bald wurde die ständig simulierte Neuerfindung jedoch auch zur belastenden Pflicht, um sich auf deregulierten und panoptisch ausgeleuchteten Märkten in wechselnden Kostümierungen zu behaupten.[17] Das alltagsästhetische Abgrenzungsspiel verlor damit tendenziell an Attraktivität und Tiefe. Während nachwachsende Generationen lange noch neue Wege fanden, sich wenigstens vorübergehend den gouvernementalen Machtapparaten zu entziehen, geriet Dylan, wie viele seiner Altersgenossen, mit der Wende zum neoliberalen Zeitalter in eine lange Phase der kreativen Krise, drohte zwischenzeitlich gar zum irrelevanten Schatten seiner selbst zu werden. Erst im Alter gewann er dauerhaft neue Souveränität und begann das eigene Lebenswerk und den Reichtum seiner Einflüsse mit ruhiger Hand integrierend zu kommentieren.

So sehr sich bei alledem das Transparentwerden der komplexen sozialen Beziehungsdynamiken in der personalen Verkörperung als ein entscheidendes Merkmal für einen möglichen Idealtypus demokratisch-aufgeklärten Charismas abzeichnet: Dylan steht zugleich für die schmerzliche Erfahrung der faktisch harten Grenzen und Schwierigkeiten beim Versuch, das eigene Schicksal gemeinsam und demokratisch zu gestalten. Über die Zurücknahme des fragwürdigen bürgerlichen Anspruchs auf Beherrschung und Selbstkontrolle der inneren und äußeren Natur hinaus, artikuliert sich in der Klassenmilieus, Kulturen und Generationen übergreifenden Faszination für Dylan insofern auch das Zurückgeworfensein auf sich selbst, die Erfahrung der Vereinzelung und Entfremdung von der eigenen Gesellschaftlichkeit. Was bei Dylan schon in den 1960er Jahren und bis heute – auch jenseits der Transzendenzbezüge des Werkes – mit einer Aura des Heiligen, also höchster Wertsetzungen, erstrahlt, ist weniger die einst anvisierte konkrete Utopie eines ganzheitlicheren, emanzipierten Lebens, als die rückhaltlose Aufrichtigkeit im Umgang mit dem Zerbrechen dieser diesseitigen Hoffnungen. Letztere werden als verlorene, vielleicht an einem anderen Punkt aber auch wieder mögliche Erfahrung gerade dadurch lebendig erinnert und in der Fantasie präsent gehalten, dass der historische und persönliche Verlust schonungslos eingestanden wird – ästhetisch zelebriert in den Fluchträumen einer die alltägliche Zeiterfahrung temporär und spielerisch transzendierenden Gegenwirklichkeit der Musik.[18] Dylan personifiziert daher (u.a. in seinem Verhältnis zu Joan Baez) auch symbolisch besonders scharf den Bruch zwischen politischem und kulturellem Ringen um Gegenmacht oder wenigstens eine gewisse Ellenbogenfreiheit.

„I Dreamed I Saw St. Augustine“, auch auf „John Wesley Harding“ veröffentlicht, hier in der Reunion-Version von Dylan und Baez im Duett (Mitte der 70er Jahre). Auffällig ist zunächst, dass der linke aktivistische Märtyrer, in dessen Fußstapfen Dylan hätte treten sollen (die Anspielung auf „I dreamed I saw Joe Hill last night“ ist eindeutig) ersetzt wird durch Augustinus, einen spätantiken Theologen, Zeit- und Musik-Theoretiker. Die Botschaft dieses Augustinus mit seiner schrankenlosen Stimme ist nun: Ihr habt keinen Märtyrer, den ihr euer Eigen nennen könnt. Aber ihr seid trotzdem – womöglich sogar gerade deshalb – nicht allein, denn ihr selbst seid „gifted kings and queens“ oder könntet es zumindest sein. Was Dylan vorführte, lässt sich in dieser Lesart auch als performative Variation auf die (christliche) Figur der Menschwerdung des Erlösers verstehen – nur eben ohne sich in dieser Rolle (bzw. am Kreuz) „festnageln“ zu lassen und damit doch wieder in ein fernes Himmelreich zu entschwinden (vgl. hierzu eine von Allen Ginsberg gegenüber Robert Shelton wiedergegebene Bemerkung Dylans am Fuße einer Jesus-Statue nahe dem Grab von Jack Kerouac aus den Filmaufnahmen zur Rolling Thunder Tour: „Was man für so einen wohl noch tun könne“ habe Bob spöttisch gefragt. „Es war, als ob Dylan scherzhaft mit dem furchtbaren Potential der eigenen mythologischen Bildhaftigkeit spielt, ohne Angst und bereit, sich mit all dem zu konfrontieren“, Shelton a.a.O., S. 609). In der dritten Strophe folgt allerdings die Wendung, dass St. Augustin, der Verkünder dieser Botschaft, doch sterben muss und dass der Träumende glaubt, an seinem Tod mitschuldig zu sein. Wer ist das, der hier erwacht? Vielleicht der Mensch hinter der Figur Bob Dylan, deren Kunststücke dem Erwachenden im Rückblick wie eine Kette aus Träumen erscheinen und der den Verlust einer Stimme betrauert, die tatsächlich von den Energien eines aufbegehrenden Kollektivs getragen war?

Kontrast und Parallelen zu Greta Thunbergs säkularem Charisma 

All dies spielt sich im Abseits der neuen progressiven Bewegungen mit ihren sehr viel pragmatischeren, utopieskeptischeren, dafür aber womöglich auch realitätstauglichen Grundhaltungen und Kulturen ab. Deren immer öfter weibliche Heldinnen werden kaum mehr wegen ihres flexiblen Distinktionswertes oder ihrer suggestiven Rationalitätskritik verehrt. Es kommt eher auf disziplinierte Leistungen für verschiedene kollektive Projekte der Anerkennung oder Weltenrettung, klare ethisch-moralische Grundsätze und ein vernunftbetontes Bündnis mit engagierten Wissenschaften an („unite behind the science“). Das Verhältnis von Popkultur und Politik kehrt sich dabei vermehrt um: Erstere erhofft sich Relevanz und Inspiration durch Anlehnung an politische Aktivist*innen und möglichst unzweideutige Bekenntnisse zu deren Kämpfen.[19] Wie etwa die SINUS-Jugendstudien zeigen, geht es der „Generation Greta“, spiegelbildlich zu den 68ern, eher um „Re-Grounding“: Verankerung im sozialen Nahbereich, Geborgenheit und Verlässlichkeit gegen die Exzesse der Konkurrenz und Individualisierung.[20]

Greta Thunbergs charismatische Aufladung erklärt sich, abgesehen von ihrer klugen Rhetorik und nerdigen Expertise, wesentlich auch daraus, dass sie diese Werte als über Jahre gemobbte Außenseiterin mit „pathologischer“ (d.h. wenigsten zum Teil vom Asperger-Syndrom begünstigter) Aufrichtigkeit und Konsequenz sowie tiefer emotionaler Verankerung in Familie und Naturerfahrung besonders glaubwürdig verkörpern kann. So weit sie von der Flüchtigkeit der Figuren und Erfahrungen eines Bob Dylan entfernt ist, kommt es auch bei ihr auf eine Erfahrung von Fremdheit und Unverfügbarkeit an. Auch sie kann ein radikal Anderes und bisher Verdrängtes verkörpern, das von den Fans als Offenbarung umarmt und von ihren Hatern als kränkende Zumutung aggressiv abgewehrt wird. Als einst „unsichtbares Mädchen“ tritt sie, aus einem buchstäblich sprachlosen Außen kommend, plötzlich, mithilfe der Bewegung, die sich um sie als Epizentrum und relativ ruhiges Auge des Sturms konstituiert, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Dort steht sie der herrschenden Kultur demonstrativ stirnrunzelnd-irritiert und entrüstet gegenüber. Die einst Stigmatisierte erstrahlt, bei aller diesseitigen Nüchternheit der Botschaft, so schließlich in heiligem Glanz.[21] Dabei trägt sie die physischen Merkmale des einstigen Stigmas weiter: die Verweigerung jeder modischen Form, die – bei aller Präzision der Sätze – stockende Artikulation der Stimme, die filigran-androgyne Kleinwüchsigkeit des von jahrelanger Essensverweigerung gezeichneten Körpers. Sie stellt diese Zeichen der Nicht-Zugehörigkeit demonstrativ aus und wendet sie als Personifikation der kollektiven Ermächtigung der Bewegung in eine außergewöhnliche Sprechfähigkeit. Die „Krankheit“ wird zur „Superkraft“ und die „Normalität“ erscheint entblößt als kollektiv-selbstmörderischer Irrsinn.[22] 

Und es lassen sich weitere Parallelen in Struktur und Wirkungsweise der charismatischen Beziehungen damals und heute ausmachen. Das gilt etwa für das Wechselspiel von Bühne und Hinterbühne: Das aktivistische Publikum der neuen Jugendbewegungen, das im digitalen Zeitalter selbst täglich vielfältige mediale Inszenierungen aufführt, ist sensibler geworden für die Übersetzungsleistung der öffentlichen Darstellungsakte ihrer wichtigsten Repräsentantinnen. Die Faszination speist sich, ähnlich wie in der Popkultur, auch bei Greta und AOC nicht zuletzt aus Spekulationen über das, was sich an biographischen Erfahrungen und Bewältigungspraxen hinter den Rollen und Posen der massenmedialen Bühnen verbirgt – oder sich darin ggf. vermittelt offenbart. Es geht darum auszuloten, wie stimmig Person/Lebenswelt einerseits und strategisch gestaltetes Narrativ/öffentliche Performance andererseits zueinander stehen, ohne beide Ebenen im Sinne eines naiven Authentizitätsideals einfach aufeinander zu reduzieren.[23] Das Making-off, die Home-Story und der kommentierende Bericht werden, neben der direkten Interaktion im Chat oder im Reaction-Video, zu Trägern einer weniger hierarchisch strukturierten Wechselbeziehung zwischen Charismatikerin und Followern, die ständig in „charmanter“ Weise mit der Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit spielt.[24]

Filme wie „I am Greta“[25] oder „Knock Down the House“[26] (über den Durchbruch von AOC bei den Kongressvorwahlen 2018) stellen als Behind-the-Scenes-Dokumentationen nicht nur die überzeugende Verkörperung solidarischer Werte aus. Sie zeigen im Stil entschieden parteiischer Ikonographie auch die teils bewusst organisierten, teils spontan sich einstellenden sozialen Prozesse, die der charismatischen Beziehung zugrunde liegen: Das Besondere der Person, ihre intimen Erfahrungen, Krisen und Verwandlungen, werden als Teil eines dynamischen Geschehens zwischen Familie, Bewegungsnetzwerk, Medien und Politik portraitiert.

Das führt, wenn es gut gemacht ist, gerade nicht zu einer Entzauberung. Im Gegenteil: Es kann, ähnlich wie in Scorseses Dylan-Portrait „No Direction Home“ (das allerdings deutlich weniger stringent erzählen möchte), die Wirkung sogar intensivieren. Ein aufgeklärter Reflexionsmaßstab für die empfundene „Größe“ der Person kann schließlich nur dadurch gewonnen werden, dass die besonderen Bedingungen und Beziehungsgeflechte im Umfeld der Charismatiker*in rekonstruiert werden. Erst von hier aus lässt sich nachvollziehen, welcher Mut nötig war, welche Synthetisierungen geleistet wurden, welchem Druck öffentlicher Zuschreibungen standzuhalten war. Und auch die Fehlschläge und Abstürze können so einbezogen, ein Ideal von Stärke in der Anerkennung von Verletzlichkeit und Fehlbarkeit repräsentiert werden: Greta ist als zentrale Repräsentantin von Fridays for Future (anders als zum Beispiel Luisa Neubauer) intern völlig unumstritten, zugleich aber (anders als in der charismatischen Beziehung nach Webers Modell) einer strategisch begründeten Kritik nicht enthoben (das wurde zuletzt etwa anlässlich von umstrittenen Treffen mit Merkel oder von der Leyen deutlich).

Mit einer solchen Rekonstruktion und medial vermittelten Nahbarkeit wird es zugleich möglich, nicht nur subjektive Wünsche auf die Person zu projizieren, sondern in ihr annäherungsweise das zu sehen, was sie für die Bewegung tatsächlich ist: Ein Kristallisationspunkt kollektiver Erfahrungen und Kämpfe, deren konkrete Akteure und Traditionslinien nicht als kausale Einflussfaktoren, sondern als Teil eines kreativ gestaltbaren Gesamtzusammenhangs sichtbar werden. In der Exponiertheit der Charismatikerin bündelt sich dann die bewusste gemeinsame Verwicklung in historische Ereignisse, die keiner höheren Instanz oder mysteriösen Psyche des Genies mehr angelastet werden müssen. Die öffentliche Performance wirkt katalytisch auf das mobilisierte Bewegungsnetzwerk zurück, indem sie durch öffentliche Repräsentation verbindende Leidenschaften und konkrete Veränderungsenergien aktiviert und ein Gefühl für die Macht der eigenen Gegenöffentlichkeit vermittelt. 

Damit eröffnet sich auch eine Perspektive, der von Dylan artikulierten Erfahrung der Vereinzelung entgegenzutreten und wenigstens in Ansätzen ein demokratisches Kollektiv zu konstituieren. Das gilt insbesondere dort, wo in der charismatischen Verstärkung subalterne, bisher verleugnete Stimmen hörbar werden, die sich nicht in identitärer Abgrenzung, sondern in empathischer Bezogenheit auf andere Stimmen transitorische Geltung verschaffen – wobei sich dies gerade nicht unmittelbar an einer objektivierbaren Statusposition festmachen muss: Bob Dylan und Greta Thunberg sind beide, wie die meisten Aktivist*innen von Jugendbewegungen in den westlichen Zentren, Mittelschichtskinder. Dennoch hat ihre performative Wirkung wesentlich dazu beigetragen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Erfahrungen marginalisierter Gruppen zu richten – sei es in Gestalt der afro-amerikanischen Kämpfe, von denen Dylan in den frühen 1960er Jahren sang, sei es hinsichtlich der Folgen des Klimawandels im globalen Süden (Greta markierte die Differenz auch explizit vor der UN-Vollversammlung: „You have stolen my dreams and my childhood with your empty words. And yet I‘m one of the lucky ones…“).

Demokratietheoretisch wahrt dieses Verständnis Distanz gegenüber den geläufigen radikal-demokratischen und post-strukturalistischen Populismus-Konzepten (v.a. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) mit ihrer an Carl Schmitt geschulten Überbetonung politisch-dissoziativer Gegnerschaft und ihrem Rekurs auf polare Kategorien von „Volk“ und „Eliten“ sowie Charismatiker*innen als vermeintlich „leeren“ Signifikanten.[27] Stattdessen liegt eine Bezugnahme etwa auf den republikanischen Pragmatismus von John Dewey und sein Verständnis von „Demokratie als Lebensform“ nahe. Denn hier wird die Ausweitung partizipatorischer Ansprüche auf alle gesellschaftlichen Bereiche (auch jenseits des Staates und damit tendenziell post-kapitalistisch) verbunden mit einer Betonung von Assoziation und sozialer Resonanzfähigkeit, radikalem Reformismus und Selbstveränderung durch kollektive Lernprozesse.[28]

Mit einem solchen Blick wäre die charismatische Beziehung zwar säkularisiert, gerade in ihrer Säkularisierung aber zu sich gekommen. Mit Webers Theorie hat all das wenig gemein. Es weist aber sehr wohl Bezüge zu einer der antiken Ursprungsbedeutungen des Begriffs auf: Das Wort „Charis“ bezeichnete, noch vor der frühchristlichen Bestimmung von Charisma als „göttliche Gnadengabe“ bei Apostel Paulus, nämlich nicht nur alles, worüber man sich freut, etwa die schönen Kräfte eines Lebewesens, sondern auch den horizontal-reziproken Austausch von Gabe und Gegengabe.[29]

Trotz der Lernprozesse und Demokratisierungsleistungen von Popkultur und neuen sozialen Bewegungen, tut sich die real existierende Massenöffentlichkeit mit einem solchen Blick aber nach wie vor äußerst schwer. Die polarisierten Wahrnehmungen Greta Thunbergs machen das nur allzu deutlich: Denn auch sie wird, ähnlich wie einst der junge Dylan, meist mit einem recht einfallslosen „Hype“-Vokabular beschrieben, das wahlweise jugendlich-emotionale Unmittelbarkeit, prophetischen Weltgeist oder berechnende PR-Mentalität unterstellt.[30] Die vorherrschende „Rationalität“ der Gesellschaft bleibt unter den gegebenen Bedingungen eben doch eine ausgesprochen irrationale.

 

Anmerkungen

[1] Anregend etwa Kümmel, Peter: Mit der Stimme eines Grabräubers, in: ZEIT Nr. 21/2021. Zu diesem Genre aus früherem Anlass: Lill, Max: The order is rapidly fadin‘ – Zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan, in: Sozialismus 12-2016, S. 62-67.
[2] Vgl. Lill, Max: Was bewegt die “Generation Greta”?, in: LuXemburg 1-2021, online; ders.: The whole wide world is watchin’ – Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren. Bob Dylan und The Grateful Dead, Berlin 2013, Leseprobe online.
[3] Zur langen Tradition dieser analytischen Leerstelle vgl. Rehmann, Jan: Charisma, charismatische Führung, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Berlin 1995, S. 452-465.
[4] Vgl. hierzu jüngst: Gözen, Jiré Emine: Trumps Mimikry: Das ästhetische Subjekt als Träger von politischer und kultureller Bedeutung, in: Pop-Zeitschrift, 18.1.2021.
[5] Zu den Fällen Greta Thunberg und Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) vgl. Lill, Max: Vom Stigma zur Gegenmacht. Demokratisches Charisma und politisch-kulturelle Polarisierung, in: Sozialismus 1-2020, S. 58-63.
[6] Zu den besonders breitenwirksamen Zeugnissen einer ganz auf die Bilder der Rezeptionsgemeinschaften konzentrierten Perspektive gehört der schöne Film „I’m Not There“ von Todd Haynes. Statt einer distinkten Künstlerpersönlichkeit und ihrer zeithistorischen Einbettung begegnen wir hier konsequent unseren eigenen Imaginationen von ihr. Der unter Dylans Mitwirkung entstandene, vergleichsweise skurrile „Masked and Anonymus“ weist in eine ähnliche Richtung. Und auch die zuletzt von Martin Scorsese veröffentlichte Erinnerung der „Rolling Thunder Revue“ verfolgt, wie schon das aus derselben Tour hervorgegangene Filmprojekt „Renaldo and Clara“, eher das Motiv eines fragmentarischen Spiels mit Publikumsprojektionen.
[7] Die Kritik an einem auch analytischen Zugang zu Popkultur insgesamt ist vielfach zugespitzt und verallgemeinert worden. Ein einflussreiches Beispiel für die normative Privilegierung einer affektiv-sinnlichen gegenüber auch intellektuellen Rezeptionsweisen bietet etwa Lawrence Grossberg: Zur Verortung der Populärkultur, in: Bromley, Roger/Göttlich, Udo/Winter, Carsten (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Hamburg 1999, S. 215-236.
[8] Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 654-688.
[9] Vgl. etwa: Pappas, Takis S.: Are Populist Leaders “Charismatic”? The Evidence From Europe, in: Constellations 23 (3), 2016, S. 378-390; Joosse, Paul/Willey, Robin: Gender and charismatic power, in: Theory and Society 49, 2020, S. 533-561.
[10] Klassisch zum politischen Kontext und der Nachwirkung mit Blick auf den Faschismus: Mommsen, Wolfgang: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1974 [1959], S. 416-441. Aus gramscianischer Sicht arbeitet Rehmann die hegemoniepolitische Orientierung Webers heraus und deutet das Charisma-Konzept überzeugend als ideologischen Einsatz im Projekt einer kapitalistischen Modernisierung durch „passive Revolution“ und bürgerliche Führung im Übergang zum Fordismus: Rehmann, Jan: Max Weber: Modernisierung als passive Revolution. Kontextstudien zu Politik, Philosophie und Religion im Übergang zum Fordismus, Hamburg 1998, S. 109-124. Zu den handlungstheoretischen Grundannahmen und Leerstellen vgl. kompakt: Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992, S. 56-76, sowie jüngst ausführlicher gegen das Entzauberungsnarrativ: ders.: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.
[11] Die im persönlichen Umgang unangenehmen Auswüchse, die das annehmen konnte, sind vielfach beschrieben worden. Besonders hervorzuheben sind die Erinnerungen von Suze Rotolo, Dylans großer Liebe aus den frühen New Yorker Jahren: Rotolo, Suze: Als sich die Zeiten zu ändern begannen: Erinnerungen an Greenwich Village in den Sechzigern, Parthas Verlag 2010. Ausführlich zu Dylans Wirkung in den Jugendbewegungen vgl. Lill 2013, a.a.O., S. 227-322.
[12] Zu Möglichkeiten einer dennoch nicht allein regressiven Interpretation psycho-analytischer Charisma-Theorien etwa von Freud und Erikson vgl. Downton, James V.: Rebel Leadership: Commitment and Charisma in the Revolutionary Process, New York 1973.
[13] Schon Robert Shelton hatte Dylan in seiner allerersten Konzertkritik, die zur Initialzündung der Karriere werden sollte, als „Schwamm“ beschrieben, der alles um sich herum aufzusaugen vermochte und dabei doch einen sehr persönlichen Stil kultivierte. Bis heute eines der besten Werke über Dylan: Shelton, Robert: Bob Dylan. No Direction Home – Sein Leben, seine Musik 1941-1978, Hamburg 2011 [1986]. Zur knappen Einführung vgl. außerdem: Detering, Heinrich: Bob Dylan, Frankfurt a.M. 2007. Zur Analyse der Musik und speziell der Stimme: Klein, Richard: My Name it is nothing. Bob Dylan – Nicht Kunst, nicht Pop, Berlin 2006.
[14] Hierzu einschlägig: Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik, Berlin 2014.
[15] Wie sehr dabei inzwischen auch Muster der digitalen Spielkultur wirksam sein können, die weder den Regeln älterer politischer Heldenerzählungen noch jenen der Pop-Musik des 20. Jahrhunderts folgen, zeigt am Beispiel von Yanis Varoufakis: Venus, Jochen: Das Game-Over-Game. Ein Rückblick auf Yanis Varoufakis, in: POP. Kultur und Kritik, Heft 7, Herbst 2015, S. 10-15.
[16] Demnach ist die Erfahrung eines eigenständigen Anderen, der gerade nicht instrumentell angeeignet werden kann, konstitutiv für die Herstellung einer – mit starken Wertungen und Emotionen aufgeladenen – Resonanzbeziehung. Vgl. zum Zusammenhang von politischer und ästhetischer, speziell musikalischer Resonanz: Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 362-380.
[17] Noch immer anregend dazu im Anschluss an Bourdieu: Schmidt, Robert: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen, Konstanz 2002, näher diskutiert in: Lill, Max: Populärästhetik – Subjektivität – Öffentlichkeit. Sinnliche Aneignungsweisen zwischen Fordismus und flexiblem Kapitalismus, Supplement Sozialismus 7/8-2011.
[18] Vgl. Kreuzer, Johann: Die Zeit der Prophetie. Überlegungen zu Dylan, in: Honneth, Axel/Kemper, Peter/Klein, Richard (Hg.): Bob Dylan. Ein Kongress, Frankfurt a.M. 2007, S. 70-91.
[19] Vgl. Lorenz, Julia: Klimaproteste und Popkultur. Wer braucht hier wen?, in: taz, 1.12.2019.
[20] Calmbach, Marc et al.: SINUS-Jugendstudie 2020 – Wie ticken Jugendliche? Bonn 2020. Lill 2021, a.a.O..
[21] Zum Zusammenhang von Selbststigmatisierung und Charisma vgl. Lipp, Wolfgang: Charisma – Schuld und Gnade. Soziale Konstruktion, Kulturdynamik, Handlungsdrama, in: Gebhard, Winfried/Zingerle, Arnold/Ebertz, Michael N. (Hg.): Charisma. Theorie – Religion – Politik, Berlin/New York 1993, S. 15-32.
[22] Treffend zum säkular-spirituellen Aspekt in Gretas Wirkung: Diez, Georg: Greta Thunbergs How Dare You – Angst und Endlichkeit, in: taz vom 28.09.2019. Die erste größere empirische Untersuchung zu Fridays for Future weist die Bedeutung Greta Thunbergs speziell für die Initialphase der Mobilisierung zwar nach, beschränkt sich aber auf allgemeine Hinweise auf ihre Vorbildfunktion und Personalisierungstendenzen in den Massenmedien. Die Frage nach den Bedingungen ihrer charismatischen Ausstrahlung wird dagegen gar nicht erst aufgeworfen. Vgl. Haunss, Sebastian/Sommer, Moritz (Hg.): Fridays for Future. Die Jugend gegen den Klimawandel, Bielefeld 2020. Charlotte Klonk verweist bei der Frage nach Thunbergs ikonischer Wirkung auf den Primat der inhaltlichen Botschaft gegenüber ästhetisch-symbolischen Aspekten. Das mag man insofern akzeptieren, als tatsächlich ihre „laserscharfe“ sachliche Fokussierung für die Wirkung entscheidend sein dürfte. Auch die Feststellung der Unangemessenheit stereotyper Beschreibungen etwa als „Jeanne d’Arc des 21. Jahrhunderts“ ist sicherlich berechtig (vgl. Schmidbauer, Wolfgang: Die heilige Johanna des Weltbrandes: Gedanken zu Greta Thunberg, Kursbuch 200, Hamburg 2019). Die Frage nach der konkreten Form und biographisch-narrativen Rahmung ihrer zeitgenössischen Ikonographie stellt sich aber dennoch und wäre u.a. auch auf ästhetischer Ebene zu entschlüsseln. Vgl. Klonk, Charlotte: Ikone der Klimaschutzbewegung. Symbolische Bildbedeutung Thunbergs, in: taz, 4.10.2019.
[23] Zu diesem Aspekt demokratischen Charismas anregend: Tänzler, Dirk: Politisches Charisma in der entzauberten Welt, in: Gostmann, Peter/Merz-Benz, Peter-Ulrich (Hg.): Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe, Wiesbaden 2007, S. 107-139.
[24] Zu Ansatzpunkten für ein interaktionistisch und historisch-materialistisch geprägtes Verständnis von demokratischer Führung vgl. auch: Barker, Colin/Johnson, Alan/Lavalette, Micheal: Leadership Matters. An Introduction, in: dies. (Hg.): Leadership and Social Movements, Manchester 2001, S. 1-18.
[25] Online in der ARD-Mediathek.
[26] Online bei YouTube.
[27] Vgl. zur Übersicht etwa Bescherer, Peter/Feustel, Robert: Der doppelte Populismus, in: Berliner Debatte Initial 29, 2018, S. 1-12. Zur Unangemessenheit einer Beschreibung Greta Thunbergs als Populismus vgl. Zulianello, Mattia/Ceccobelli, Diego: Don’t Call It Climate Populism. On Greta Thunberg’s Technocratic Ecocentrism, in: The Political Quarterly 2020, S. 1-9.
[28] Vgl. Joas, Hans (Hg.): Philosophie der Demokratie. Beiträge zum Werk von John Dewey, Frankfurt a.M. 2000.
[29] Vgl. Rehmann a.a.O. sowie Potts, John: A History of Charisma, New Yorck 2009, S. 12-22.
[30] Vgl. etwa die zum Teil bodenlos peinlichen Kommentierungen der „How Dare You“-Rede vor der UN in der taz vom 26.09.2019: Der Hype um Greta: Klimaheldin oder Nervensäge?.

 

Max Lill ist Sozialwissenschaftler. Er hat im Hirnkost-Verlag ein Buch über Bob Dylan und die Rolle von Musik in den Jugendbewegungen der 1960er Jahre veröffentlicht, an der Humboldt Universität Berlin zum Wandel von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen geforscht und promiviert derzeit mit einem Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema „Demokratisches Charisma“.

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