Re-Inszenierte Fotografie im Lockdown
von Isabel Hartwig
31.1.2021

Frida allein zu Haus

Ist die Kunstgeschichte systemrelevant? Auf diese Frage finden die Nutzer*innen des Social Web seit einigen Monaten ganz eigene Antworten: Mit zahlreichen Fotografien und Memen transportieren sie die Kunst aus den geschlossenen Museen und Galerien in die privaten Wohnzimmer, auf Smartphone- und Laptopbildschirme. Dabei sticht eine Gruppe durch ihre Größe, Vielseitigkeit und oftmals aufwendige Gestaltung besonders hervor: fotografische Re-Inszenierungen kunsthistorischer Werke.[1] Diese haben sich bereits seit den frühen 2010er Jahren zu einem äußerst populären Bildgenre im Social Web entwickelt,[2] das von Hobbyfotograf*innen und Künstler*innen gleichermaßen vorangetrieben wird,[3] im Zuge der Corona-Pandemie aber eine bislang unvergleichliche Konjunktur erlebt. Je nach Kontext weisen die Fotografien unterschiedliche Gestaltungen und Funktionen auf. 

Die Auftaktfotografie dieses Beitrags zeigt eine Re-Inszenierung von Frida Kahlos Selbstporträt „Ich und mein Papagei“ (1941), die Alana Archer im April 2020 auf ihrem Instagram-Profil veröffentlichte. Das Vorbild zeigt die mexikanische Künstlerin als Halbfigur im Viertelprofil vor braunem Hintergrund; ihr Blick begegnet dem der Betrachter*innen. Das dunkle Haar ist hochgesteckt, Wangen und Lippen sind rot geschminkt. Sie trägt eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln und einen violettfarbenen Rock. Ihre Arme verschränkt sie im Schoß, an der rechten Hand sind drei Ringe zu erkennen sowie eine Zigarette, die sie zwischen Zeige- und Mittelfinger hält. Auf ihren Schultern und ihren Unterarmen haben vier Papageien platzgenommen, die in unterschiedliche Richtungen schauen. Ihr buntes Gefieder weist eine je unterschiedliche Färbung auf, während der Bildtitel („mein Papagei“) darauf hindeutet, dass es sich um ein und denselben Vogel handelt. Von Kahlo ist bekannt, dass sie mehrere Haustiere besaß, darunter auch Papageien, die ihr Gesellschaft leisteten, besonders in Zeiten gesundheitlicher Einschränkungen, die die Künstlerin an ihr Haus bzw. Bett banden.

Trotz dieser speziellen Umstände liegt eine Analogie zur Lockdown-Situation zumindest nicht fern. So übernimmt Archer die grundsätzliche Anlage des Gemäldes, setzt sich selbst, in zeitgemäßem weißen T-Shirt, an die Position Kahlos und transportiert die Darstellung auf diese Weise ins 21. Jahrhundert. Die Papageien werden durch typische Gehilfen des häuslichen Alltags ersetzt: verschiedene Putzmittel in grünen Verpackungen. Dazu passt auch, dass die Zigarette durch ein Fieberthermometer ausgetauscht wird – das Genussmittel weicht einem medizinischen Instrument, das die Pandemie notwendig macht. Somit werden durch Archers Nachstellung bereits zwei Funktionen der re-inszenierten Fotografie im Lockdown deutlich: die Präsentation kunsthistorischen Wissens durch eine sinnige Adaption sowie die Aufwertung des eintönigen Alltags durch eine schillernde Ikone der Kunst.

Fotografien dieser Art tauchten im Kontext der Coronakrise erstmals auf dem niederländischen Instagram-Account @tussenkunstenquarantaine („zwischen Kunst und Quarantäne“) auf, der im März 2020 von Anneloes Officier ins Leben gerufen wurde. Hier regt sie dazu an, ein Kunstwerk der Wahl fotografisch nachzustellen und das Ergebnis auf Instagram mit einer Verlinkung zu ihrem Kanal hochzuladen. Nach Officiers eigener Aussage handelte es sich ursprünglich um eine private Initiative ihrer Wohngemeinschaft zum Zwecke der Ablenkung im Home-Office.[4] So zeigt der erste Beitrag auf Instagram auch den Screenshot eines WhatsApp-Gesprächs zwischen Officier und ihrer Mitbewohnerin. Diese schreibt:

„Können wir uns etwas Schönes für die Heimarbeiter einfallen lassen / Ich bin nach dem ersten Tag schon durchgedreht / Ich kann nicht verstehen, was die Leute an der Arbeit von zu Hause aus chillig finden / Ein Spiel, ein Witz, eine Challenge, ein Treffen / irgendwas …“[5] Daraufhin antwortet Officier: „Hahaha / Ich bin für eine Challenge / Stell ein berühmtes Gemälde mit mindestens 3 Objekten aus dem Haus nach / Und dann raten wir, welches es ist“.

Schließlich gründete sie den Instagram-Kanal, verbunden mit einer Anleitung für die Re-Inszenierungen, die mit drei Haushaltsobjekten und ohne Einsatz von Bildbearbeitungsprogrammen erfolgen sollen: „1. Choose artwork / 2. Use 3 household items / 3. Tag @tussenkunstenquarantaine / 🚫photoshop“.[6] Diese Beschränkungen ermöglichen eine niedrigschwellige Teilnahme, fordern aber auch die Kreativität der Fotograf*innen heraus. Als Beispiel lud Officier selbst eine erste Fotografie hoch, die Jan Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ (um 1665) nachstellt. Der berühmte Ohrring ist hier durch eine Knoblauchknolle ersetzt, der Turban besteht aus einem Handtuch und anstelle des Umhangs bedeckt ein Tischset ihre Schulter. Zunächst beteiligten sich primär Familienmitglieder und Freund*innen der Wohngemeinschaft, der Kreis weitete sich aber rasant aus:[7] Ein halbes Jahr später wies der Kanal über 270.000 Follower*innen auf und das Hashtag #tussenkunstenquarantaine versammelte rund 65.000 Beiträge. Mittlerweile kann Officier nur eine sehr begrenzte Auswahl der eingereichten Fotografien auf ihrem Account präsentieren.

In Anlehnung an @tussenkunstenquarantaine hat sich – neben zahlreichen privaten und kleineren Projekten – eine weitere große Initiative im Social Web etabliert: die russische Facebook-Gruppe Изоизоляция | Izoizolyacia („Kunstisolation“). Diese wurde Ende März 2020 von einer Freundesgruppe ins Leben gerufen, um fotografische Re-Inszenierungen miteinander zu teilen, und verzeichnete ein halbes Jahr später die unglaubliche Zahl von über einer halben Million Mitglieder.[8] Die Regeln für die Einreichungen sind hier strenger formuliert: Die Fotografien sollen während der Pandemie und ohne Zuhilfenahme von Bildbearbeitungsprogrammen produziert worden sein.[9] Dabei sind nur Nachstellungen von Gemälden und Skulpturen erwünscht, nicht von Filmstills, Fotografien, Comics, Covern oder Postkarten. Diese widersprechen womöglich dem ,klassischen‘ Kunstverständnis der Betreiber*innen oder schmälern den Reiz eines medialen Kontrasts zur fotografischen Nachstellung. Zudem sollen die Werke von Künstler*innen eines gewissen Bekanntheitsgrades stammen, der etwa mit der entsprechenden Wikipedia-Seite nachgewiesen werden kann. Schließlich soll von bereits häufig nachgestellten Werken abgesehen werden, um vermutlich den Unterhaltungswert bzw. Überraschungseffekt aufrechtzuerhalten. 

Zusätzlich geben die Betreiber*innen Tipps für eine erfolgreiche Nachstellung, wobei Erfolg hier in Likes, Reposts und positiven Kommentaren gemessen wird. Dafür sei es ratsam, ,berühmte‘ Werke mit wiedererkennbaren Details auszuwählen sowie Humor und Einfallsreichtum zu beweisen: „Versuchen Sie nicht nur, ein Bild zu kopieren, sondern ein Original oder eine lustige Performance zu kreieren, und noch besser – beides.“[10] So würden sich zeitgemäße Interpretationen mit ungewöhnlichen Kombinationen auszahlen, etwa durch das „Ersetzen von Objekten aus einem Bild durch Objekte aus unserem Leben (auch wenn sie in ihrer Funktionalität nicht übereinstimmen).“[11] Auch requisitenreiche Nachstellungen, die einen großen Aufwand bezeugen, würden positiv auffallen. In der Tat weisen die eingereichten Fotografien einen überdurchschnittlichen Detailreichtum, Genauigkeit in der Nachstellung, aufwendige Verfahren sowie ausführliche Erklärungen zur eigenen Motivation oder Vorgehensweise auf, die bis zur Präsentation von Making-of-Videos reichen. Anders als bei @tussenkunstenquarantaine geht es hier weniger darum, mit begrenzten Mitteln ein wiedererkennbares Werk zu produzieren, sondern vielmehr um eine möglichst genaue, geschickte oder aufwendige Nachstellung. Ein Beispiel liefert die Fotografie von Jenny Sh, die Michail Wrubels „Schwanenprinzessin“ (1900) mit opulenten Bahnen aus Stoff, Zellophan und Silberpapier nachstellt, wie sie in einem ausführlichen Text oberhalb der Fotografie erläutert. Dafür erhielt sie innerhalb einer Woche über 17.000 Likes. 

Wenige Tage nachdem @tussenkunstenquarantaine online ging, griffen auch Kulturinstitutionen die Initiative auf. So veröffentlichte etwa das Amsterdamer Rijksmuseum über seine Social-Media-Kanäle einen Aufruf, der Officiers Anleitung größtenteils übernimmt. Hinzugefügt wurde ein Verweis auf die eigene Sammlung: „Looking for inspiration? Our collection is available on our website!“[12] Dem Aufruf des Rijksmuseums folgten kurze Zeit darauf weitere Museen, etwa das Metropolitan Museum of Art in New York, das um Einreichungen unter den Hashtags #MetTwinning und #MetAnywhere bat, sowie das Getty Museum in Los Angeles, das die Hashtags #gettymuseumchallenge und #gettychallenge ins Leben rief.[13] Auch diese wiesen auf ihre Sammlungen bzw. Open-Content-Programme hin und luden beispielhafte Re-Inszenierungen hoch. Da Kulturinstitutionen im Lockdown größtenteils geschlossen bleiben müssen, stellen die Aufrufe zweifelsfrei eine Möglichkeit dar, Sichtbarkeit und Relevanz zu behaupten, den Kontakt mit der Community aufrecht zu erhalten und mitunter das Interesse zukünftiger Besucher*innen zu wecken. Die ausgewählten Kunstwerke werden schließlich meist neben oder unter den Fotografien präsentiert, was ihre Verbreitung im Social Web unterstützt. Laut Annelisa Stephan vom Getty Museum hätten bis August 2020 bereits mehr als 100.000 Personen ihre Fotografien beigesteuert. Erweitere man den Blickwinkel auf andere Formen der Teilnahme – „likes, shares, and forms of more passive engagement“[14] – habe das Projekt den zweistelligen Millionenbereich erreicht, was über die gewöhnliche Reichweite solcher Kampagnen weit hinausgehe. Durch die Re-Inszenierung können die Betrachter*innen zudem einen persönlichen Zugang finden, d. h. sich intensiver mit einem Werk auseinandersetzen als in der reinen Anschauung: „Kunstwerke nachstellen heißt, sie mit den Augen zu durchdringen und ihre Komposition zu verstehen“,[15] wie Hartwig Dingfelder anlässlich eines ähnlichen Aufrufs der Kunsthalle Bremen betonte. Dennoch drängt sich eine Frage geradezu auf: Warum nehmen so viele Menschen an diesen Aufrufen teil? 

Bei Re-Inszenierungen dieser Art liegt zunächst der persönliche Selbstausdruck nahe. Die Teilnehmer*innen können durch schauspielerische Mittel wie Mimik und Gestik, aber auch Requisiten und Kostüme in nicht-alltägliche Szenen und Rollen schlüpfen. Pravina Shukla weist darauf hin, dass Verkleidungen im Speziellen jene Identitäten zum Vorschein bringen, die die alltägliche Kleidung nicht auszudrücken vermag: Ein Kostüm „signals a different self, one other than that expressed through daily dress.“[16] Schließlich hätten alle Menschen „multiple identities, and some of these are expressed only by means of a costume.“[17] Dies ist sicherlich einer der Gründe, warum viele Re-Inszenierungen Figuren zeigen, die als besonders schön oder ehrenwert gelten, etwa wenn zahlreiche Personen das geheimnisumwobene „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“ nachstellen oder Schönheitsikonen des Jugendstils und Präraffaelismus.[18] Freilich werden dabei auch Stereotype bestätigt, etwa die Rolle der liebenden Mutter, des starken Retters oder der ,exotischen‘ Muse, die sich mitunter auch den Vorwurf der Cultural Appropriation gefallen lassen müssen. Die nachgestellten Kunstwerke fungieren dabei als Masken für bestimmte Persönlichkeitsmerkmale. Zudem erlauben Kostüme auch, in fremde Rollen zu schlüpfen und auf diese Weise den – in einer Pandemie umso stärkeren – Restriktionen des Alltags zu entkommen. Die Situation vor der Kamera wird dann zur theaterähnlichen Bühne bzw. die fotografische Oberfläche zur ,vierten Wand‘. Damit können die Darsteller*innen auch – zumindest zeitweise – aus gesellschaftlichen Normen ausbrechen, meist durch subversive Strategien, die etwa Geschlechterrollen hinterfragen. Frauen können sich so an Positionen zeigen, die in der westlich geprägten Kunstgeschichte Männern vorbehalten sind, oder männliche Darsteller schlüpfen in eigentlich weiblich besetzte Figuren, um das rigide Repertoire der ,Männlichkeit‘ auszuweiten.

Schließlich können die Nachstellungen auch dem emotionalen Ausdruck dienen, etwa für Gefühle wie Einsamkeit, Angst und Ohnmacht oder auch Hoffnung, Solidarität und Verbundenheit. Dies spielt bereits bei der Auswahl des Vorbildes eine Rolle, etwa beim oft gewählten Motiv des Schreis, das Ängste zum Ausdruck bringen kann.[19] Auch die Häufung surrealer Motive kann als Sinnbild für einen als ungewohnt, skurril oder gar bedrohlich wahrgenommenen Alltag gelesen werden, etwa in den Re-Inszenierungen der Werke Hieronymus Boschs oder auch der modernen Surrealist*innen wie Salvador Dalí, René Magritte und Man Ray. 

Zum Zweiten erfüllen die Fotografien ein kreatives Interesse. Ein kunsthistorisches Werk mit – zuweilen nur drei – Haushaltsobjekten nachzustellen, erfordert gestalterisches oder handwerkliches Geschick und regt zur Erkundung bzw. Ausschöpfung der eigenen Kreativität an. Die oftmals wettbewerbsähnliche Sprache der Aufrufe verstärkt das Gefühl, sich einer Herausforderung zu stellen, und setzt zusätzliche Motivation frei. Die Online-Präsentation der eigenen Fotografie ermöglicht den Teilnehmer*innen schließlich, ihre Bemühungen und Talente einem Publikum zu zeigen. Bestenfalls werden sie für ihre Umsetzung – etwa die Genauigkeit oder Gewitztheit – öffentlich gelobt, z. B. in den Kommentarfeldern der sozialen Plattformen, über eine hohe Anzahl an Likes oder die Verbreitung der Fotografie durch die Repost-Funktion. Hier kann zudem ein Dominoeffekt beobachtet werden, wenn die fremden Re-Inszenierungen dazu anspornen, sich selbst an einer besseren oder anders gelagerten Nachstellung, mitunter des gleichen Werkes, zu versuchen. Zuweilen treten die Fotografien dabei auch in einen Paragone mit dem Werk selbst ein, um dessen Form zu verfeinern, die Inhalte zuzuspitzen oder eine noch schönere bzw. bedeutsamere Person zu zeigen als das historische Vorbild.

Bei der Auswahl der Vorbilder fällt die Häufung von Einzel- oder Doppelporträts auf, die mit dem begrenzten Personenstand eines Haushalts gut umgesetzt werden können. Hier konzentrieren sich die Bemühungen meist auf das Kostüm oder die Attribute, die oftmals dramatisch und effektvoll übersetzt werden. Zudem bedingt der Einsatz banaler Alltagsobjekte eine niedrigschwellige Do-it-yourself-Ästhetik, die den Inspirationscharakter der Fotografien erhöht und somit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie weitere Re-Inszenierungen hervorrufen.[20] Dabei weisen sie nicht selten einen Bezug zur Pandemie auf, etwa wenn Toilettenpapierrollen als Renaissance-Halskrausen und damit zur Aktualisierung der historischen Darstellung eingesetzt werden. In Laura Belcondes Nachstellung der ,einäugigen Fürstin‘ erscheint diese Wahl umso passender, da Toilettenpapier zu Beginn des Lockdowns zum ,Luxusgut‘ avancierte und hier somit als zeitgemäßes Statussymbol fungiert. Mitunter nutzen die Teilnehmer*innen die Community und Reichweite der Aufrufe auch für aktuelle politische oder gesellschaftskritische Anliegen, etwa wenn „Der verwundete Engel“ (1903) von Hugo Simbergs mit einer an Covid-19 erkrankten Person ersetzt wird und die beiden Träger*innen durch die Bildunterschrift „An ode to the ones carrying the burden“[21] gewürdigt werden.

Drittens hat die Teilnahme freilich auch eine soziale Komponente, etwa den Wunsch nach Gesellschaft. Dieser kann durch die Interaktion mit Mitbewohner*innen oder Familienmitgliedern erfüllt werden, etwa bei der gemeinsamen Auswahl eines Kunstwerks oder bei der Zusammenarbeit vor und mit der Kamera. Auffällig häufig werden auch Vorbilder gewählt, deren Motive selbst bereits Verbundenheit oder Zuneigung zum Ausdruck bringen. Nicht wenige Teilnehmer*innen binden bei den Re-Inszenierungen ihre Kinder ein, die oftmals Spielzeug wie Kuscheltiere oder Legosteine integrieren und so mitunter Szenen von großer historischer Bedeutung in die Unbedarftheit eines Kinderzimmers transportieren. Neben der Nachstellung vor der Kamera hat schließlich auch das Hochladen der Fotografie einen sozialisierenden Effekt. Durch die Aufrufe bilden sich temporäre Online-Communities aus Menschen mit ähnlichen Interessen, was durch die Interaktionsfunktionen der Plattformen unterstützt wird. Auch Fans bestimmter Werke können sich hier finden und austauschen bzw. ihre Nachstellungen vergleichen. Nancy van House beschreibt solche Phänomene als „distant closeness“,[22] die durch den künstlerischen Kontext noch verstärkt werde, wie Sarah Waldorf und Annelisa Stephan vom Getty Museum über das Projekt schreiben: „Art invites us into the experience of others and connects us with our shared past.“[23] 

Viertens kann die Teilnahme ein kulturelles Bedürfnis erfüllen, das oftmals den Wunsch einer Gruppenzugehörigkeit markiert. Dies kann sich auf Traditionen beziehen – etwa wenn sich mexikanische Frauen in Frida Kahlos Trachten zeigen – oder auf die Teilhabe an der sogenannten ,Hochkultur‘, zu der ein Großteil der nachgestellten Kunstwerke zählt. Schließlich verrät bereits die Tatsache, dass eine Person von den Aufrufen erfahren hat, dass sie die Aktivitäten von Kulturinstitutionen verfolgt. Damit offenbart sie sich als Teil einer hochkulturell interessierten bzw. gebildeten Gruppe. Eine eigene Fotografie beizusteuern, eröffnet gar die Möglichkeit, eine aktive Rolle einzunehmen und so die Gruppenzugehörigkeit zu festigen. Zudem kann Expertise bewiesen werden, etwa durch die Auswahl eines als exquisit bzw. ungewöhnlich wahrgenommenen Vorbildes oder durch die Produktion einer besonders sinnhaften Nachstellung, die kunsthistorisches Wissen demonstriert. Dieses kann auch dann unter Beweis gestellt werden, wenn das Vorbild nicht unmittelbar neben der Re-Inszenierung gezeigt wird und somit ein ,Ratespiel‘ vonnöten ist. Die gleichen Werke zu (er-)kennen fördert das Zugehörigkeitsgefühl. 

Schließlich sei betont, dass trotz aller kultureller Ambition auch der Humor eine zentrale Rolle spielt. Dieser hilft im Sinne des ,comic relief‘ dabei, die Krisensituation kurzzeitig zu vergessen. Dabei werden oft alltägliche, lockdowntypische Tätigkeiten durch die – zunächst überraschende oder unpassend erscheinende – Engführung mit einem kunsthistorisch bedeutsamen Werk aufgewertet. Zudem erlauben die Fotografien, eine entspannte, lustvolle Haltung gegenüber der ,Hochkultur‘ einzunehmen und konventionelle Erwartungen abzulegen, etwa in Bezug auf die ,richtige‘ Reaktion oder den angemessenen Umgang mit Kunst. Hier wird deutlich, dass es sich bei der Re-Inszenierung stets um eine ambivalente Geste handelt. Auf der einen Seite stellen die Auswahl und Nachstellung kunsthistorischer Werke eine Ehrerbietung an die ,Hochkultur‘ dar, die Identifikation und Teilhabe verspricht. Zum anderen zeigt sich, besonders im humorvollen Umgang, auch eine gewisse Furchtlosigkeit oder Unverfrorenheit gegenüber der Kunst. In diesem Spannungsfeld entfalten re-inszenierte Fotografien ihre Schlagfertigkeit und ihren Witz, die maßgeblich zum Erfolg im Social Web beitragen und die Relevanz der Kunstgeschichte auch in Zeiten des Lockdowns sicherstellen.

Anmerkungen

[1] Vgl. zur re-inszenierten Fotografie: Leena Crasemann, Klaus Krüger und Matthias Weiß (Hg.), Re-Inszenierte Fotografie, München 2011. Ich danke Herrn Professor Weiß für seine Anmerkungen zu meinem Text.
[2] Vgl. den Wettbewerb „Remake“ des kanadischen Kunstblogs Booooooom (2011), https://www.booooooom.com/projects/remake/, oder die Website „VanGoYourself“ (seit 2014) der Europeana, https://vangoyourself.com.
[3] Die Kategorien „Hobbyfotograf*innen“ bzw. „Amateur*innen“ im Kontrast zu „Künstler*innen“ sind im Social Web eher als fließend zu beschreiben, schließlich können sich diese Status sehr schnell wandeln. Zudem dienen Blogs oder Onlinedienste wie Instagram auch etablierten Künstler*innen als Plattform oder zukünftigen Akteur*innen als Spielwiese.
[4] Vgl. Liucija Adomaite und Denis Tymulis, „People Are Recreating Paintings In This Dutch Instagram Account And Here Are 30 Of The Best Ones“, auf: boredpanda, https://www.boredpanda.com/recreation-art-quarantine-tussenkunstenquarantaine/, Mai 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[5] Hier und im Folgenden: @tussenkunstenquarantaine, „Hoe het begon op thuiswerkdag tijdens de Corona preventieperiode (…)“, auf: Instagram, https://www.instagram.com/p/B9tonhPgaxY/, 14. März 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021 [Übers. IH].
[6] @tussenkunstenquarantaine, „For everyone at home who needs a relief. Some homemade art (…)“, auf: Instagram, https://www.instagram.com/tussenkunstenquarantaine/, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[7] Vgl. Adomaite und Tymulis 2020 [wie Anm. 4].
[8] In Anlehnung an die Facebook-Gruppe Изоизоляция | Izoizolyacia wurde im April 2020 auch eine Gruppe für die spanischsprachige Community gegründet: Quearteencasa, mit inzwischen rund 3.000 Mitgliedern, https://www.facebook.com/groups/quearteencasa/, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[9] „Right now, right here at home, hand-made.“ Hier und im Folgenden: Katerina Brudnaya-Chelyadinova, „The rules of the group in English for our foreign friends“, auf: Facebook, https://www.facebook.com/groups/izoizolyacia/permalink/2547291258853476/, 8. April 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[10] Изоизоляция, „Многие спрашивают (…)“, auf: Facebook, https://www.facebook.com/groups/izoizolyacia/permalink/2569996769916258/, 27. April 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021 [Übers. IH].
[11] Ebd.
[12] @rijksmuseum, „We love this Stay At Home Challenge! (…)“, auf: Instagram, https://www.instagram.com/p/B96sCDmiIiv/, 19. März 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[13] Unter anderem auf der Facebook-Seite des Museums: @gettymuseum, „We challenge you to recreate a work of art (…)“, auf: Facebook, https://www.facebook.com/107440850096/posts/10158231504365097?sfns=mo, 25. März 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[14]Taylor Dafoe, „A New Book Collects the Best Recreated Artworks From the #GettyChallenge – and Reflects On Why the Project Resonated So Much“, auf: Artnet News, https://news.artnet.com/art-world/getty-challenge-book-1900276, 6. August 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[15] Hartwig Dingfelder, „Kunst und Quarantäne. 77 nachgestellte Werke“, auf: Der Blog der Kunsthalle Bremen, https://blog.kunsthalle-bremen.de/post/627431324388605952/kunst-und-quarantäne-77-nachgestellte-werke, September 2020, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[16] Pravina Shukla, Costume. Performing Identities through Dress, Bloomington 2015, S. 3.
[17] Ebd., S. 5.
[18] Vgl. auch Annekathrin Kohout, „Digital ist anders. Kunstgeschichte und soziale Medien“, auf: sofrischsogut, https://sofrischsogut.com/2016/02/04/wie-die-social-media-den-kunsthistorischen-kanon-aufwirbeln-art-magazin/, 4. Februar 2016, letzter Zugriff am 22. Januar 2021.
[19] Vgl. Dafoe 2020 [wie Anm. 14].
[20] Vgl. auch Annekathrin Kohout, „Kick-Off-Images“, auf: sofrischsogut, https://sofrischsogut.files.wordpress.com/2018/05/kick_off_routledge_kohout_de.pdf, 20. Mai 2018, zuletzt aufgerufen am 15. Januar 2021.
[21] @tussenkunstenquarantaine, „An ode to the ones carrying the burden (…)“, auf: Instagram, https://www.instagram.com/p/CJ9iEkLg5_q/, 12. Januar 2021, letzter Zugriff am 15. Januar 2021.
[22] Nancy van House, „Distant Closeness. Cameraphones and Public Image Sharing“, online unter https://people.ischool.berkeley.edu/~vanhouse/photo_project/pubs/vanhouse_distant_closeness.pdf, letzter Zugriff am 22. Januar 2021.
[23] Sarah Waldorf und Annelisa Stephan, „Preface“, in: Off the Walls. Inspired Re-Creations of Iconic Artworks, Los Angeles 2020, S. 4–5, hier S. 5.

 

Isabel Hartwig ist Kunsthistorikerin. Nach ihrem Studium in Berlin, Paris und Oxford promoviert sie derzeit an der Freien Universität Berlin zur Re-Inszenierten Fotografie im Social Web. Daneben arbeitet sie als Lektorin und in einem Thinktank für Kulturpolitik.

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