Screenshots
von Annekathrin Kohout
24.8.2020

Knipserfotografie des Internets

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 83-95]

Neben [cmd]+[c] und [cmd]+[v] (Copy & Paste) zählt [cmd]+[shift]+[4] zu den wichtigsten und folgenreichsten Tastenkombinationen: der Auslöser des Computerdisplays als Kamera. Per Tastendruck macht man, zumindest beim MacBook, Screenshots. Aber selbstredend können mit sämtlichen Computern – ob Laptops oder Smartphones – Bildschirmfotos erstellt werden. Obwohl der Screenshot ein neuer fotografischer Bildtyp ist, wurde er jedoch bisher kaum gewürdigt, vielleicht weil man ihn nicht in einer Traditionslinie mit der Fotografie und ihren Gebrauchsweisen sieht. Allerdings gehört er genau dort hin. Er übernimmt sogar klassische Funktionen der analogen und digitalen Fotografie – gerade dort, wo diese mittlerweile ungenügend geworden sind: beim Fotografieren all dessen, was auf Displays, meistens im Internet, gesehen und erlebt wird. Beim Ablichten des Bildschirms mit den handelsüblichen Kameras entsteht erstens das allseits und bereits von Fotografien des Fernsehers bekannte Interferenzmuster. Zweitens wird immer häufiger mit dem gleichen Gerät fotografiert, mit dem man sich auch über Displays im Internet aufhält; logischerweise ist es nicht möglich, mit der Smartphonekamera das Smartphone zu fotografieren (außer mithilfe eines Spiegels).

Wenn stimmt, was ich behaupte, müssten die gängigen Fototheorien auf Screenshots angewendet werden können. Philippe Dubois hat sie in seiner viel rezipierten Arbeit »Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv« von 1998 auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit hin sortiert; dabei ist eine (tendenziell chronologische) Triade entstanden: Erstens wurde die Fotografie als »Spiegel des Wirklichen«, zweitens als »Transformation des Wirklichen« und drittens als »Spur des Wirklichen« angesehen. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit der Fotografie interessierten sich Theoretiker besonders für die »Spiegel«-Frage: Inwiefern ist das Bild dem Abgebildeten ähnlich? Als Gegenreaktion erkannte man in der Fotografie eine »Transformation des Wirklichen«. Statt als reiner, neutraler Abdruck gilt sie nun als ein Werkzeug, das immer schon interpretierend wirkt. Schließlich folgte der Diskurs über die Fotografie als »Spur des Wirklichen«: Die Einzigartigkeit der Fotografie bestehe darin, dass trotz des Wissens um die Möglichkeit ihrer Täuschung der Wirklichkeits-Effekt als Gefühl nicht weicht. Bis heute prägt diese vermeintliche Glaubwürdigkeit die Betrachtung von Fotografien – obwohl man selbst tagtäglich mithilfe von Apps oder Computerprogrammen Bilder bearbeitet, verschönert, verfälscht. 

All diese Theorien zur Fotografie lassen sich hervorragend auf den Screenshot beziehen, allerdings unter der Voraussetzung, den Wirklichkeitsbegriff ein klein wenig auszudehnen. Anstatt von ›Wirklichkeit‹ würde ich lieber von ›Umwelt‹ sprechen, zu der all das zählt, was uns visuell umgibt: sei es der Schreibtisch vor und das Bücherregal hinter mir, vorbeigehende Personen auf der Straße, die ich durch das Fenster sehe, oder die Timeline auf dem Computerbildschirm links bzw. dem Smartphone-Display rechts von mir, auf der ich vorbeigehende Personen in einem Livestream sehe.

Zwar ließe sich dieser Begriffserweiterung schnell widersprechen, weil die Umwelt, die man durch das Display sieht, bereits medial vermittelt ist, der Screenshot also höchstens ein ›Spiegel der Wirklichkeit‹ zweiter Ordnung sein kann – sprich, einer Wirklichkeit, die schon in ein zweidimensionales, gerahmtes Bild eingefasst ist. Andererseits ist der Screenshot dadurch auch ein genaues Abbild dessen, was man de facto sieht – anders als dies die analoge Fotografie jemals sein konnte. Immerhin sind Bild und Abgebildetes im Augenblick der Entstehung des Screenshots identisch: Betätigt man [cmd]+[shift]+[4] und wählt den zu fotografierenden Bereich mit gedrückter rechter Maustaste oder dem Touchpad aus, dann wird zunächst einmal lediglich ein Bild bestimmt; lässt man die Taste bzw. das Touchpad los, verdoppelt sich der ausgewählte Bereich. Das entstandene Bild wird automatisch in einem vorher bestimmten Ordner bzw. auf dem ›Schreibtisch‹ abgelegt. Würde ich das Bild öffnen und neben den Bereich legen, der fotografiert wurde, sähe ich zweimal dasselbe.

Da nicht erst eine räumliche Wahrnehmung auf eine Fläche reduziert werden muss, ähnelt der Screenshot dem Abfotografierten mehr als die Fotografie dem Fotografierten oder ich selbst meinem Spiegelbild. Man kann um die Timeline nicht herumlaufen, sich eine Perspektive aussuchen, scharf und unscharf stellen etc. Deshalb kann der Screenshot umso mehr als ›Spur des Wirklichen‹ angesehen werden. Der ursprüngliche Gedanke hinter dieser Theorie war, dass die Fotografie indexikalisch ist: Die Umwelt hat sich physikalisch in das Foto eingeschrieben, weil das Bild erst durch das Eintreffen des Lichts auf die lichtempfindliche Platte/den Film entstanden ist. Beim Screenshot gehen aus der gleichen Situation polarisierten Lichts zwei Bilder hervor: Das, das gesehen wird, und das, das fotografiert wird. Diese Überlegungen haben durch die digitale Fotografie freilich an Relevanz verloren, gibt es doch keine Lichtträger mehr und hat das gedruckte Bild physikalisch überhaupt nichts mit der Ausgangssituation zu tun; das gleiche gilt für einen ausgedruckten Screenshot. Einwenden lässt sich aber, dass Bilder immer weniger ausgedruckt werden, der Screenshot insofern als analoge Fotografie der Bildschirmwirklichkeit beschrieben werden kann.

Nicht nur wegen seiner ›Wirklichkeitstreue‹ (so sprach man über den Charakter der analogen Fotografie) ist der Screenshot eng mit der Funktion des Dokumentierens assoziiert. Während die Fotografie seit ihrer Entstehung auch mit Könnerschaft und Kunsthaftigkeit in Verbindung gebracht wurde und sich dadurch Ansprüche an ein ›gutes Bild‹ etablieren konnten, kam der Screenshot anfangs fast ausschließlich in der Fehlerdokumentation zu Einsatz. Auch die damit einhergehende Ästhetik (der lange nicht sehr benutzerfreundliche Aufbau des Desktops) widersetzte sich künstlerischen oder gestalterischen Anwendungen und damit einem der Fotografie ähnlichem Gebrauch, zumal erst seit einigen Jahren allgemeiner bekannt ist, mit welchen Tastenkombinationen Screenshots hergestellt werden können (bis dahin wurden sie vermutlich weitestgehend von Computerprofis genutzt).

Zum persönlichen Gebrauch wurden Screenshots in größerem Umfang erst im Zuge der Entstehung Sozialer Medien verwendet. Erste private Bildschirmfotos wurden etwa von überraschenden oder lustigen Dialogen erstellt – bis heute sind Chatverläufe ein überaus beliebtes Screenshot-Motiv. Mittlerweile wird über den Computer-Display mehr denn je eine Welt gesehen, die vergleichbar unbeständig, vergänglich, live ist wie jene, die uns im realen Raum umgibt. Immer mehr Einträge haben ein Ablaufdatum – besonders Storys auf Instagram, Facebook und Snapchat. Vieles wird live übertragen und ist insofern nicht weniger momenthaft, augenblicklich, wie eine Situation außerhalb des Bildschirms. In dieser Bildschirm-Welt übernimmt der Screenshot deshalb auch die wichtigste Funktion, die einst der Fotografie zukam: Erinnerung.

Wer im Alltag permanent von Displays umgeben ist und sich pausenlos im Internet aufhält, neigt wohl auch dazu, tagtäglich unzählige Screenshots anzufertigen: um sich Bilder, Videos, Gespräche, Situationen zu merken, die man gesehen, gelesen, erlebt hat. Fotografiert werden Bilder, die man witzig findet, vielleicht weiterschicken oder für das eigene Profil verwenden will. Screenshots sind aber nicht nur Erinnerungsfotos, sondern auch digitale Notizen. Mit Screenshots wurden nie nur Bilder, sondern auch Texte fotografiert – die dadurch visuell eingeebnet werden. Mit dem neuen Mac-Betriebssystem, macOS Mojave, wurden die Bedingungen zur Erstellung von digitalen Notizen zudem erheblich verbessert: Der Screenshot kann unmittelbar nach Erstellung bearbeitet und mit Kommentaren versehen werden; beim Smartphone ist das schon länger möglich.

Wie vielen geht es so wie mir? Man erinnert sich an ein Bild, das man auf Instagram gesehen hat, weiß, auf welchem Profil es sich befand und ungefähr zu welcher Zeit es eingestellt wurde, sucht aber vergeblich danach, denn es ist weg. Wahrscheinlich gelöscht, vielleicht zensiert. Dann ärgert man sich, dass man aus Vergesslichkeit oder Faulheit keinen Screenshot davon gemacht hat! Man wünscht sich, es würde Kontaktbörsen geben, bei denen man sich darüber austauschen könnte, wer von einem bestimmten Bild oder einer Website oder dem Zustand eines Instagramprofils ein Bildschirmfoto gemacht hat. Ja, eine Börse, bei der zum Beispiel – im Glücksfall – Screenshots von Miley Cyrus’ Instagramprofil aus den Jahren 2013 bis 2018 erhältlich sind. Denn im Juni letzten Jahres löschte Cyrus alle Bilder ihres Profils schlagartig und ohne Vorankündigung. Die Dringlichkeit einer solchen Börse nimmt zu, vergegenwärtigt man sich, dass es sich beim Löschen ganzer Profile mittlerweile um einen üblichen Marketinggag handelt – als Ankündigung eines Image-Wechsels!

Wie muss man sich erst die Redaktion einer heutigen Klatschzeitschrift vorstellen? Die Räumlichkeiten sind ja aus Film und Fernsehserien vertraut: ein Großraumbüro, Schreibtische, darauf Computer oder Laptops. Natürlich gibt es den obligatorischen und mit einer milchigen Glaswand abgegrenzten Konferenzraum, wo repräsentative Kunstwerke aufgehängt sind, die thematisch passen. Zum Beispiel Siebdrucke von Andy Warhol, weil es ja in der Klatschpresse darum geht, für 15 Minuten Ruhm zu erzeugen und ihn dann pünktlich wieder zu beenden. In der Redaktion einer heutigen Klatschzeitschrift stelle ich mir aber v.a. buckelige Mitarbeiterinnen mit Rückenschmerzen vor, weil sie nämlich nicht mehr geradeaus auf ihren PC, sondern leicht hinab in ihr Smartphone schauen; den rechten Daumen halten sie dicht über dem Display, immer zum Drücken und Wischen bereit. Auf Instagram, Facebook, Snapchat folgen sie ausschließlich Prominenten, alten wie neuen. Sie sehen sich deren Storys an, eine nach der anderen. Heidi Klum, die gerade einen Heiratsantrag von Tom Kaulitz erhält und bejaht. Nochmal zurück, neu ansehen, perfekten Screenshot machen; der wird später den dazugehörigen Artikel im Online-Bereich anteasern. 

Der Screenshot – das ist die Knipserfotografie des Internets, die Streetphotography der Livestreammedien. Wie wenig bisher erkannt wurde, dass die Erstellung von Screenshots die vielleicht wichtigste fotografische Praxis der Gegenwart ist, zeigt sich besonders daran, dass sich daraus noch kein eigenes künstlerisches Genre entwickelt, also noch keine Ästhetisierung stattgefunden hat. Eine gewisse Ausnahme stellt höchstens die sogenannte In-Game-Photography dar. Dabei handelt es sich um Screenshots von Computer- oder Onlinespielen; meist sind es Portraits der Avatare (die einzig bekannte Arbeit im Kunstkontext stammt von Eva und Franco Mattes, die 2006 Portraits von Second Life-Avataren mit Screenshots gemacht und auf Leinwand gedruckt haben) oder Landschaftsaufnahmen. Bisweilen hat sich in den Spiel-Communities sogar eine Form virtuellen Tourismus etabliert, bei dem es weniger darum geht zu spielen, als einfach schöne Screenshots zu machen. Dass Screenshots innerhalb der Game-Community als Fotografien anerkannt sind, liegt an der Tatsache, dass die virtuelle Realität eines Spiels geschlossener ist und deswegen überhaupt als Realität wahrgenommen wird. Das World Wide Web ist hingegen offenbar noch schwieriger als Realität zu begreifen, obwohl sich dort mittlerweile unser Alltag abspielt, eingekauft wird, soziale Kontakte hergestellt und gepflegt werden, wichtige Unterhaltungen stattfinden etc. Screenshots zu machen und ihnen den Status von Fotografien zu verleihen, bedeutet auch, das Internet als Alltagswirklichkeit und Lebensrealität anzuerkennen. [cmd]+[shift]+[4] muss jetzt nur noch abgelöst werden von einer eigenen Taste auf der Standardtastatur. 

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