Muster
von Viola Hofmann
17.8.2020

Künstliche Ausdrucksüberschüsse

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 65-68]

Mit Andrea Hamiltons Installation wurde aus dem Sonderausstellungsraum der Wiener Sezession im Herbst 2018 eine riesige begehbare, scheinbar mit Karopapier ausgeschlagene Schachtel. Das Allover-Design des monströsen Glenchecks, das auf Wänden und Fussboden aufgezogen war, stellte die Wahrnehmungsgewohnheiten auf den Kopf: Dingornament und Körper befanden sich in einem völlig ungewohnten Verhältnis. Man fühlte sich im Setting dieser künstlichen Umwelt körperlich ziemlich geschrumpft. Im Mittelpunkt der Ausstellung »68. Pop und Protest« im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg steht eine ähnliche Rauminstallation, die aber ursprünglich profanen Zwecken diente, die »Spiegel«-Kantine von Verner Panton. Auch außerhalb musealer Räme, in der Street und Urban Art, tauchen seit einiger Zeit geometrische Abstraktionen auf. Die Grafikerin Maya Hayuk etwa verwandelt mit ihren gigantischen, bunten Mustern öde urbane Räume. Die oft wie verpixelt wirkenden Farbgeflechte verleihen Mauern und Wänden eine neue Textur und verändern die Stimmung im Raumgefüge.

In der Kleidermode operiert man ebenfalls wieder exzessiv mit Karos und anderen Mustern. Geometrisch oder amorph tapeziert wird nicht der architektonische Raum, in dem sich der Körper bewegt, sondern sein direkter vestimentärer Überzug. Die Herbst/Winter-Kollektion »Erdem x H&M« 2017/2018 etwa irritiert beständig den taxierenden Blick auf die Körperoberflächen. Das Dessin verwischt Formen und Konturen der gemusterten Gegenstände oder akzentuiert sie neu. Durch Blurring- oder Trompe L’œilEffekte entstehen neue Übergänge zwischen Raum, Objekt/Körper und Positionierung. Software macht es einfach, vielfältigste Variationen zu entwerfen: Das finnische Design-Haus Marimekko fusioniert seine klassischen ikonischen Muster seit etwa einem Jahr mit dem Microsoft Surface. Die modernistisch kühle High-Tech-Anmutung des Tablet Cassis wird, ähnlich wie mit dem samtigen Tastaturelement, durch fröhlich daherkommende Cover affektiv gebrochen. Muster, z.B. stilisiert gekleckste Blumen, die wahlweise durch fein ausgeführte Striche verästelt werden, oder durch scheinbar breiten Pinselschwung erzeugte Ornamente verleihen dem Gerät Bedeutung – oder umgekehrt.

Wie Objekte aussehen, ist das Ergebnis eines wechselseitigen Prozesses, einer praxisgelenkten Entscheidungsfindung, die mit verschiedenen Kontingenzordnungen und Routinen verquickt ist. Harvey Molotch beschreibt das in »Where Stuff comes from« u.a. am Beispiel des Toasters: Zu den unterschiedlichen Voraussetzungen zählen energetische Möglichkeiten (Elektrizität), technische Möglichkeiten (Automatik), eine Bedienoberfläche, Zutaten (ein Brot in passender Form), spezielle Auffassungen von der Art der Brotzubereitung bzw. des Frühstücks, von Messern, Tellern, Marmelade etc. Man könnte so weiter machen und schier unendliche materielle und gedankliche Verkettungen aufzeigen. Das Design des Toasters erscheint in diesem Netz als Materialisierung einer vielschichtigen, reflektierten, kulturellen Praxis. 

Das Design von Dingen unterliegt aber nicht nur dem techniksoziologischen Dispositiv. Der Toaster in Farbe und mit Muster ist ein anderer als der in silbernem Blech (wobei Lüftungsschlitze oder stabilisierende Profilierungen selbst musterförmig angelegt sind). Dank ihrer Materialien, Farben und Dessins erzeugen Gegenstände Atmosphären, die den menschlichen Wahrnehmungsapparat aktivieren. Besonders das Dessin, die Musterung eines Produktes, vermag das visuelle, aber auch haptische Vermögen anzuregen. Die Kognitionswissenschaften beschreiben die menschliche Affinität zu Mustern und die Fähigkeit der Mustererkennung und -unterscheidung als wichtige Stufe soziogenetischer Entwicklung. Sie dient der Komplexitätsreduktion; die Mustersuche geht demzufolge aus lebenssicherndem Verhalten hervor. Mustererzeugung wird generell als Teil menschlicher, entwerfender und informationeller Intelligenz angesehen; sie beinhaltet die Möglichkeiten stabiler Koordination durch Wiederholung bei gleichzeitiger Offenheit für immer neue Zusammensetzungen. Die Fähigkeit, in Mustern zu denken, gilt schließlich als Voraussetzung zu Schrift- und Rechenordnungen. 

Aus Perspektive semiotisch auslegender Kulturwissenschaften ist es üblich, die Oberflächen von Konsumprodukten als warenästhetische Textoberflächen zu interpretieren. Durch die gezielte Gestaltung von Oberflächen lassen sich Dinge überschreiben und erzählen. Mit den kulturellen Erzählungen sind allerdings meistens die dem eigentlichen Objekt eher ferneren medialen Oberflächen gemeint, die werbenden Prints, Screens und Streams. Was ist jedoch mit den konkreten Mustern, die sich auf Objekten ausbreiten, mäandern, schlängeln, pixeln, aufploppen, sich schichten, überlappen, sich hineinätzen, ein- und ausbrennen? Muster an Dingen sind schließlich keine zufälligen Epiphänomene, sie werden geplant, angelegt und stellen sich als Ausdrucksprojektionen zur Disposition. Es handelt sich auch hier um künstliche Ausdrucksüberschüsse. Muster erweitern die Grenzen von Objekten, machen sie vieldeutiger, als sie ohnehin schon sind. 

Besonders dank neuer Computertechnologien und Designtools lässt sich mit den Möglichkeiten der Mustergestaltung und des Mustereinsatzes ständig weiter experimentieren. Wegen der digitalen Technologie kann das Designen von Mustern zunächst de-materialisiert erprobt werden, ohne einen konkreten, zu musternden Gegenstand im Sinn zu haben. Durch Rechenprozesse lassen sich Dessins mustergetreu auf jeden beliebigen Gegenstand übertragen. Selbst im Medium Film wird auf Grundlage ausgefeilter 3D-Animationstechniken mit computergestützten oder gar analogen 2D-Muster-Elementen gespielt. Es entstehen spannende Schichtungen aus 3D und 2D, wie etwa bei David O’Reilly oder in Nikita Diakurs ausgezeichnetem Kurzfilm »Ugly« aus dem Jahr 2018. 

Die Synthese von Technologie, Produktion und Konsum, handwerklichen Techniken und neuen ästhetischen Interessen führt zu einer allgegenwärtigen Präsenz von Mustern. William Gibson formuliert in seiner Bilanz der Kollektionen des Modedesigners Paul Smith den Eindruck, man würde eines riesigen, ständig wechselnden Trödelmarktes ansichtig, auf dem alle Artefakte aller Nationen und Kulturen permanent die Codes wechselten. Dieses Bild lässt sich gut auf das Gesamtphänomen übertragen und mit Diana Newall und Christina Unwin in leicht nuancierter Fassung so wiedergeben: In der gegenwärtig beobachtbaren Popularisierung und Globalisierung des Musterdesigns sind Politik und Vergnügen vereint. Es besteht ein Nebeneinander und Miteinander von historischen Mustern, Retrodesigns und neuen Ornamenten, es wird zitiert, gesampelt, ironisiert und aktiviert. Viele Muster besitzen eine indigene, lokale und interkulturelle Historie, sie haben große Wanderungen durch Raum und Zeit durchlaufen und sind weiter auf dem Weg ohne angebbares Ziel. Musterfindungen pendeln zwischen radikaler Absage, Vergangenheitsnostalgie, Folklore und Exotik, wobei sie zugleich die drängenden Problemlagen ihrer Zeit thematisieren. Aktuell spielen Zukunftsnostalgie, Next Generation, Nachhaltigkeit, Globalisierung und Re-Lokalisierung eine bedeutende Rolle. Besonders die Pop- und Populärkultur bietet einen Resonanz- und Referenzraum für Koordination, Wiederholung und Offenheit. Die sie durchfließenden Muster wirken transaktiv, weil sie den Erfahrungsaustausch fördern und die Überprüfung von Sehgewohnheiten fordern. Es wäre interessant und produktiv, wenn sie mehr als ein anderes Sprechen und weniger als verzierendes Surplus begriffen würden. 

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