Ausland. Zur Politik der Fremde
von Thomas Hecken
22.6.2020

›Heimische‹ Kultur, Ethnopuralismus, Multikulturalismus, Völkerrecht, ›Fernstenliebe‹, Disneyland

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 128-145]

Nach der Aufteilung der Welt in Staaten besitzen die meisten einen Pass, der sie als Angehörige einer Nation ausweist. Passieren sie die Grenze, befinden sie sich im Ausland, sagt man. Mit warmen, vertrauten (›innen‹) und kalten, fremden (›außen‹) Anteilen führt diese Metaphorik zu jener Erklärung der Kultur zurück, die ihren natürlichen, lokalen Kern betont. Angesichts der recht häufig willkürlich gezogenen Grenzen und vor allem angesichts der mittlerweile oft vollkommen künstlichen Machart kultureller Produkte kommt einem diese Unterscheidung generell nur noch wenig sinnvoll vor. Dennoch oder gerade deshalb unternehmen verschiedene Akteure einiges, um die alte Metaphorik mit neuer Bedeutung zu erfüllen. Diese Bestrebungen und Handlungen weisen viele Verbindungen zu Fragen des ›Volks‹, der Standardisierung und der Popkultur auf. Deshalb kann ›Ausland‹ ein wichtiges Thema nicht nur für »Foreign Affairs«, sondern auch für eine Pop-Zeitschrift sein. Es geht dann um Kulturimperialismus, Drohnen, Geheimdienste, Auslandseinsätze, exotische Gerichte, Hollywood-Thriller, Appropriation, Disneyland, Völkerrecht, Sezession …

Ausland, Kosmopolitismus und Popkultur

Gegenstände der Popkultur besitzen seit ungefähr 50 Jahren einen besonderen Status, zumal auf dem europäischen Festland. Zwar stammen sie oft aus dem Ausland, sind aber gar nicht mehr fremd, obwohl häufig gleich erkennbar ist (im Gegensatz zu Waren, deren Herkunft man auf verborgenen kleinen Etiketten extra nachlesen muss), dass sie nicht der heimischen Produktion entspringen. Dennoch sind sie einfach Teil des Alltags, sei es jetzt im Supermarkt, im Straßenbild, an den Wänden der eigenen Wohnung oder auf dem Smartphone.

Das war in Deutschland für die Generation derjenigen, deren Geburt in die Zeit vor 1940 fiel, noch anders. Deren Klagen über ›diese amerikanische Musik‹ oder ›diese schrecklichen Beatlesfrisuren‹ speisten sich zumeist aus dem Gefühl tiefer Abneigung und starker Fremdheit. Wie wenig das aber mit Abstammung und unhintergehbarer Kultur zu tun hat, zeigte sich sofort an den Reaktionen vieler Jugendlicher, die gar keine Schwierigkeiten besaßen, sich für die neuen Klänge, Stile und Waren zu begeistern, obwohl sie doch in dieselbe Nation hineingeboren waren wie ihre Eltern und deren Erziehung unterlagen. Wie wenig Kultur als bindende Tradition und notwendiger Grund vorauszusetzen ist, beweist auch der Umstand, dass die jugendliche Begeisterung in vielen Fällen nicht auf einer Vertrautheit mit den Entstehungsbedingungen der Produkte und Posen beruhte. Was in Memphis, New York, Detroit, Kingston, Notting Hill oder Brighton in bestimmten Vierteln oder Straßen passierte, war ihnen oft genauso unbekannt wie ihren Eltern. Die Differenzierung nach Orten und Gebieten blieb ihnen zumeist verborgen, blieb ihnen fremd, interessierte sie auch kaum, es reichte die Angabe, dass es aus den USA, Großbritannien oder Brasilien kam. Hierin unterschieden sie sich nicht von ihren Eltern, auch wenn sie im Gegensatz zu ihnen in den fernen Ländern kein feindliches oder latent bedrohliches Ausland sahen. Um eine exotische Attraktion handelte es sich aber auch nicht, schließlich stellten die aus fremden Regionen oder Ländern stammenden Dinge für die Jugendlichen rasch einen Teil der eigenen Lebenswelt oder gar des eigenen Körpers dar, wurden gebraucht, nicht angestaunt oder als Ausstellungsstück separiert.

Für manche der frühen Kulturtheorien ist das noch unvorstellbar gewesen. Für sie wird das Leben der Menschen von den Mächten unter und über ihnen bestimmt, von Boden und Wetter. »Die Beschaffenheit ihres Körpers und ihrer Lebensweise, alle Freuden und Geschäfte« seien von Land und Klima geprägt, schreibt Herder Ende des 18. Jahrhunderts in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Der »ganze Gesichtskreis ihrer Seele ist klimatisch. Raubt man ihnen ihr Land, so hat man ihnen alles geraubt.«

Offenkundig besitzen diese Sätze im Zeitalter von Großstädten, Bahnhöfen, Flugzeugen, Gewächshäusern, Autos, Heizungen, Shopping-Centren und Internet keine große Bedeutung mehr. Trotzdem hat sich die Überzeugung von der ›organischen‹, ›angestammten‹ Kultur sehr gut gehalten. Dies liegt vor allem am zweiten Teil des Arguments. Nicht nur der Verlust des heimischen, schon von den Vorfahren eingenommenen Bodens wirkt sich nach Herders Anschauung schlecht aus, auch seine rationale, radikale, rasche Umgestaltung. »Alle Nationen, die in den Wäldern und nach der Weise ihrer Väter leben, sind mutig und stark, sie werden alt und grünen wie ihre Bäume; auf dem gebaueten Lande, dem feuchten Schatten entzogen, schwinden sie traurig dahin: Seele und Mut ist in ihren Wäldern geblieben.«

Zivilisationskritische Urteile dieser Art besitzen gerade heute, zur Hochzeit des Künstlichen, des Unnatürlichen, für das ›Pop‹ als Signum kulturell besonders stark einsteht, einige Überzeugungskraft. Ein ›Zurück zur Natur‹ im Sinne eines ›Zurück in die Wälder‹ oder andere Umwelten der jeweiligen Vorfahren propagieren allerdings selbst radikale ökologische Verfechter nur selten. Größere Wirksamkeit und Durchschlagskraft erhält das zweite Argument Herders darum durch seine weiteren Ausführungen. Schädlich wirkt sich für Herder nämlich auch aus, wenn die Nation kein ›natürlicher Stamm‹ – ein homogenes »Volk« mit »Einem Nationalcharakter« –, sondern ein Staat ist, zu dessen Territorium unterschiedlich beschaffenes Land gehört. Solch »unnatürliche Vergrößerung der Staaten« gehe immer mit einer »wilden Vermischung der Menschen-Gattungen« einher, »ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegen einander«.

Für Leute, die solche Anschauungen teilen, muss der großen Mehrzahl der gegenwärtigen Staaten also ein ›Innen‹ fehlen. Es wäre aus ihrer Sicht viel besser, wenn es mehr Ausland gäbe, dann existierte auch ein ›natürliches‹ Inland. Dies gilt umso mehr, als die meisten modernen Staaten nicht nur unterschiedliche Regionen mehr oder minder zwangsweise zusammenschließen, sondern in diesen zudem überall seit längerer Zeit eine radikale Umgestaltung der einst vorgefundenen Natur stattfindet. Folgerichtig sind von den Gegnern ›wilder Vermischungen‹ die großen Metropolen als wichtigster Motor und Ausdruck dieser ›unnatürlichen‹ Prozesse identifiziert worden, weil in ihnen der einst vorgefundene Boden am wenigsten wiederzuerkennen sei und diejenigen lebten, die sich am stärksten von »Einem Nationalcharakter« entfernt hätten.

Oswald Spengler hat vor einem Jahrhundert dieser unter Konservativen, aber auch anderen politischen Gruppierungen weit verbreiteten Anschauung – bekanntlich wird die NSDAP sie in den 1930er Jahren zu ihrer größten Wirkung bringen – mit seiner Abhandlung »Der Untergang des Abendlandes« eine kanonische Fassung verliehen. Statt eines »formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes« sieht er abseits der »Provinz« nun die Vertreter des zivilisierten, heimatlosen »Kosmopolitismus« am Werk: »ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar«.

Neben Phänomenen wie (erstens) der ›naturalistischen‹, unmoralischen Ausrichtung auf sexuelle Reize, (zweitens) der rationalen Kritik und Beseitigung bedeutender religiöser, adeliger, staatlicher »hoher Form« und (drittens) der Ersetzung von »Kultur« durch »Sport« (»panem et circenses«) sowie durch spezialisierte Kennerschaft (»lʼart pour lʼart«) rückt Spengler die »Diktatur des Geldes« in den Mittelpunkt seiner kritischen Betrachtungen. Mit deutlich antisemitischer Stoßrichtung benennt er das Geld nicht nur als »anorganische, abstrakte Größe, von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst«, sondern auch als Widersacher des »Bluts«, worunter er als Nietzsche-Epigone jene Macht des »Lebens« und der »Rasse« versteht, die sich letztlich durchsetzen und die »Zivilisation« überwinden werde. Noch sei es aber nicht so weit, noch mache sich die »Hochfinanz« den »Boden«, »jede Art von Handwerk« und die Industrie zur »Beute«: »Auch die Industrie ist noch erdverbunden wie das Bauerntum. Sie hat ihren Standort und ihre dem Boden entströmenden Quellen der Stoffe. Nur die Hochfinanz ist ganz frei, ganz ungreifbar.«

Es überrascht nicht, dass im Deutschland der Gegenwart solche Anschauungen zu Teilen bei führenden Funktionären der AfD wiederzufinden sind. Auf der einen Seite steht bei ihnen (negativ) die »globalisierte Klasse« der »neuen Elite«, die »fast ausschließlich in Großstädten« lebe, auf der anderen Seite (positiv) die mit ihrem »Heimatland« verbundenen »vielen sogenannten einfachen Leute« sowie die »bürgerliche Mittelschicht« (Alexander Gauland in der »FAZ« v. 6.8.2018). Überraschend ist jedoch, dass diese Thesen heutzutage auch von vielen Feuilletonisten und einigen Wissenschaftlern (die 2018 und 2019 folgerichtig Anwärter oder Gewinner feuilletonistischer Sachbuchpreise gewesen sind) vertreten werden. Zwar tragen sie ihre Thesen nicht im anklagenden Ton der Neuen Rechten vor, sehen in ihnen sehr wohl aber eine zutreffende Begründung für den Erfolg des ›Rechtspopulismus‹. Zugegeben, vollkommen erstaunlich ist diese hauptsächlich feuilletonistische Ersetzung des alten Marxʼschen Klassenantagonismus (Kapitalisten, die zum Zwecke der Profitmaximierung konsequenterweise nicht bloß nationale Arbeitskräfte und Standorte als Anlagesphäre in den Blick nehmen, vs. Lohnabhängige, die im besten Falle sich international solidarisieren) durch die ›Kosmopolitismus‹-Version auch wieder nicht, schließlich kommt sie der vorherrschenden liberalen Lesart wesentlich näher und ersetzt die sozioökonomische durch eine kulturalisierte Bestimmung. Verwunderlich erscheint sie dennoch, weil sie sich de facto bemüht, die jahrhundertealte konservative Weltanschauung nun als wirklich begründet hinzustellen, als handle es sich nicht mehr um eine ideologische Verzerrung, sondern um eine richtige Analyse gegenwärtiger Verhältnisse (Verhältnisse, die man ›lediglich‹ anders bewertet als die Neue Rechte).

Nach wie vor bleibt die Diagnose in ihrer Gesamtheit jedoch falsch. Man sieht es allein daran, dass sie mit keinem Wort jenen Kosmopolitismus erwähnt, der durch die Ausbreitung der Popkultur bewirkt und keineswegs nur von einer ›Elite‹ der Finanzmarktakteure, EU- oder UN-Bürokraten und Austauschstudenten betrieben wird. Zwar gelangen heute viel mehr in Kontinentaleuropa produzierte Pop-Artefakte auf den Markt und können sogar auf dem Festland regelmäßig große Erfolge erzielen, dies ändert aber nichts an der strikt internationalen Orientierung der überwiegenden Zahl der Pop-Konsumenten. Sie geht soweit, dass sie häufig, vor allem in der Musik, nicht einmal an die heimische Sprache gebunden ist (bloß in der Anfangszeit der Beatlemania hielt man es noch für geboten, englische Stücke mit einem deutschen Text zu versehen).

Zum Kosmopolitismus darf man dies schlagen, weil mittlerweile bei vielen Konsumenten eine durch Filme, TV-Sendungen, Paratexte, Vlogs und Tourismus gewachsene, zumindest vage oder stereotype Auffassung entstanden ist, dass die verschiedenen Produkte und Moden unterschiedlichen Orten entstammen, die für ihre Entstehung wichtig und in ihrer Vielfalt bewahrenswert seien. Diese Auffassung ist zwar nicht mehr gebunden an genaue Vorstellungen (wie etwa bei Herder), weshalb diese Orte derart prägend (gewesen) seien, sie bindet aber dennoch ›ursprünglich‹ eine bestimmte ›Kultur‹ an eine bestimmte Region und nicht zwangsläufig an eine bestimmte Nation.

Zum Teil überschneidet sich diese Haltung mit der des Ethnopluralismus, die ebenfalls ›Kultur‹ verortet. Die grundsätzliche Abwehr der vorübergehenden Einreise oder der Immigration von Menschen aus anderen Nationen wird fast immer mit dem Argument begründet, diese entstammten einer anderen ›Volkskultur‹ und sollten in ihren Grenzen verbleiben; eine ›Vermischung‹ wäre der ›eigenen Volkskultur‹ abträglich. Anhänger des Ethnopluralismus geben vor zu meinen, eine ›Vermischung‹ wäre für beide ›Volkskulturen‹ schlecht, nicht nur für die ›eigene‹, es wäre also gut, wenn auch jene an ›ihrem angestammten Platz‹ verbliebe. Nicht einmal jene Appropriation, die Dominanz über das Angeeignete bewahrt, schätzen sie grundsätzlich. Diese Zurückweisung geschieht ungeachtet einer Trennung in ›populäre‹ und ›hohe‹ Kultur; aus Sicht der ›Volkskultur‹-Anhänger überwölbt auch die andere ›Volkskultur‹ solche Unterschiede. Die als ›gemeinsam‹ erachtete ›Volkskultur‹ lässt in ihrem Sprachgebrauch die Differenz von ›hoher‹ und ›niederer‹ Kultur (zumindest vorübergehend) verschwinden.

Bei manchen Verfechtern des Multikulturalismus verhält es sich in letzterer Hinsicht gleich. Das Multikulturelle erkennen sie z.B. nicht in der Existenz einer ›hohen‹ und einer ›populären‹ Kultur innerhalb einer Region oder eines Staates. Vollkommen im Unterschied zu den Ethnopluralisten bejahen sie aber die Existenz der ›Angehörigen‹, Güter und Ausdrucksformen unterschiedlicher ›Volkskulturen‹ innerhalb einer Nation und auch ihrer föderalen, städtischen oder dörflichen Einheiten. Was für die Ethnopluralisten im Ausland verbleiben muss, darf oder soll für sie Teil des Inlands sein; die Überzeugung, dass die Entfernung einer ›Kultur‹ von ihrem ›ursprünglichen Boden‹ sie verkümmern ließe, teilen sie demnach nicht.

Der multikulturellen Argumentation verwandt ist die These, dass international, mitunter sogar global vertriebene Produkte der kommerziellen ›Populärkultur‹ lokal auf unterschiedliche Weise im Sinne einer jeweiligen örtlichen Kultur angeeignet würden.  Den Unterschied macht auch hier die jeweilige (nicht unbedingt nationale) lokal situierte ›Volkskultur‹. Wie die Multikulturalisten sind die Anhänger dieser These keine Freunde des ›Kulturimperialismus‹, zumal desjenigen US-amerikanischer, kommerzieller Provenienz. Wie die Multikulturalisten sehen sie in solchem ›Kulturimperialismus‹ Hollywoods und der angloamerikanischen Popmusik keinen unterstützenswerten Versuch, den Ethnopluralismus zu bekämpfen. Die Gefahr der Monokultur sehen sie aber in geringerem Maße als die Multikulturalisten gegeben, weil sie von der originellen Kraft ›lokaler Kulturen‹ überzeugt sind. Der besondere Ort ist also für sie die ausschlaggebende Komponente kulturell spezifischer Aneignung ›fremder‹ Produkte, ungeachtet konfessioneller, sozialer, geschmacklicher Differenzen und der Unterschiede von Sex, Gender, Bildung, sozialer Herkunft.

Auch die angesprochenen Pop-Kosmopoliten halten es häufig prinzipiell so. Sie legen aber den Akzent weniger auf ›lokale Aneignungen‹ als auf ›Vermischungen‹. Diese Vermischungen einstmals auch geografisch geschiedener ›Kulturen‹ und Stile können für sie an den unterschiedlichsten Orten stattfinden, ohne dass für sie der jeweilige Ort konstitutiv für einen Teil der Mischverhältnisse sein muss. Ihr oft vorhandener Respekt vor der ›ursprünglichen, lokalen Kultur‹ Jamaikas, Chicagos, Liverpools etc. (die sie – nicht selten irrigerweise – zumindest latent als ›rein‹ erachten) geht nicht so weit, dass sie diese nur bewahren wollten. Viele Mischungen, Adaptionen, Appropriationen sind ihnen darum recht, gleichgültig, ob diese nun aus Stockholm, Frankfurt oder Seattle stammen; meistens ist den zahlreichen Pop-Konsumenten der Produktionsort völlig unbekannt.

Multikulturell eingestellt sind sie insofern, als sie an ihren Wohnorten Auftritte ausländischer Künstler und den Vertrieb von Kulturprodukten aus anderen Ländern sehr schätzen. Im Gegensatz zu den Multikulturalisten sind aber nicht alle Pop-Konsumenten geneigt, die Repräsentanten ›ferner Kulturen‹ in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft willkommen zu heißen; für einige reicht es, sie zu Hause auf dem Bildschirm zu sehen oder über Spotify zu hören; zu diesem Teil der Pop-Fans besitzen die Ethnopluralisten der Neuen Rechten folglich einige Zugangsmöglichkeiten. Dieser Zugang ist aber darum begrenzt, weil fast alle Pop-Konsumenten kosmopolitisch ausgerichtet sind und nicht auf dem ›Eigenen‹ und ›Eigentlichen‹ beharren: Den Aufenthalt an fernen Orten mit ›anderer‹, aber eben nicht konstitutiv ›fremder Kultur‹ schätzen sie prinzipiell sehr, Billigflüge ermöglichen ihnen zumindest Stippvisiten.

Diese Form des Tourismus belegt sogleich, dass es sich um eine neue Spielart des Kosmopolitismus handelt. Die Anerkennung solcher Kosmopoliten braucht sich häufig nicht auf radikale Unterschiede zu beziehen, sondern bloß auf kleine Differenzen. Die Parkhäuser, Bahnhöfe, Flughäfen, U-Bahnen, Hotels, die man im Ausland vorfindet, weichen zumeist von denen im Inland nur geringfügig ab. Dies setzt sich bei Diskotheken, Multiplex-Kinos, Supermärkten und Geschäften von Modeketten gerne fort. Wenn man möchte, muss man sich bei McDonaldʼs, Vapiano und KFC auch beim Essen nicht an eine neue Umgebung gewöhnen.

Andere Gemeinsamkeiten vertiefen die örtliche Ähnlichkeit, etwa im Falle traditionellerer Pop-Stilverbünde (Rock, Techno, Hip-Hop) oder der neueren Instagram-Popkultur, die Verbindungen zwischen Luxus-Brandnames, Sport/Fitness-Outfits, Gesten (etwa das V-Zeichen oder bei Selfies gelernte Gesichtsausdrücke) und angedeuteten Tanz-Moves aus dem Pop-Bereich etabliert. In zahlreichen Reise-Vlogs auf YouTube wäre der Unterschied zwischen In- und Ausland darum nicht zu erkennen, wenn nicht gelegentlich alte Bauten und lokale Speisen diesen Unterschied markierten. Sie bilden den Beweis, eine Reise über Grenzen hinweg unternommen zu haben. Besonders die Küche wird hier benutzt, um deutlich zu machen, dass man sich in einem anderen Land befindet. Ob es sich bei den ausgiebig gezeigten Esswaren um regionale oder um nationale Besonderheiten handelt, bleibt nicht selten unklar, sie haben einfach die Funktion, eine gewisse Fremdheit zu beweisen. Der Eindruck, ganz woanders zu sein, kann sich so zweifellos nicht einstellen.

Außenpolitik und populäre Kultur

Der Eindruck, ganz woanders zu sein, kann sich für Touristen im Ausland kaum einstellen, weil sie dort von möglicherweise anderen politischen und ökonomischen Abläufen selten erfasst werden oder von ihnen unfreiwillig Kenntnis erlangen. Da das selbst angeeignete Wissen darüber zumeist minimal ausfällt, kann der Eindruck vom Ausland beinahe beliebig zwischen dem vollkommener Vertrautheit und dem totaler Fremdheit pendeln. Dem Touristen vor Ort bleiben politische und ökonomische Unterschiede im Regelfall verborgen, darum bewegt er sich dort recht unbefangen. Als suchte er einen Ausgleich dafür, ist er oftmals gewillt, nationale Charakteristika in Anschlag zu bringen, und hält deshalb gerne Ausschau nach kleinen Ereignissen und Anzeichen, die ihn in seinem Bild des ›typisch Italienischen‹ etc. bestätigen, ungeachtet vieler anderer gegenläufiger Tendenzen. Darin zeigt sich eindrucksvoll die Überlegenheit jener populären Kultur, die auf ›volkskulturelle‹ bzw.  nationale Eigenheiten setzt, gegenüber den internationalen Stilgemeinschaften der Popkultur, denen man im Ausland wenig Aufmerksamkeit zu widmen gewillt ist.

Verstärkt wird die Betonung nationaler Besonderheiten aber auch durch jene Populärkultur, die sich in aktuellen Aufmerksamkeitsdaten bemisst. Parteipolitiker und ihre Kommentatoren in viel beachteten Medien übersetzen ihren Ansichten zuwiderlaufende Wahl- und Regierungsentscheidungen im Ausland auch dann in dramatische Schlagzeilen, wenn es um andere liberalkapitalistische, verbündete Nationen geht. Dann stehen ihrer Meinung nach z.B. die USA oder England kurz vor dem Kollaps oder der Diktatur, dann gelten deren Entscheidungen oder Vorschläge, Verträge zu kündigen oder etwas größere, aber keineswegs umstürzende politische Änderungen vorzunehmen, mitunter als Ausdruck nationaler ›Besonderheit‹ oder geradezu ›Verrücktheit‹. Sie werden nicht als halbwegs begründete Meinungen und Handlungen wahrgenommen, die man zwar nicht teilt, aber denen man argumentative Substanz zugesteht; vielmehr versucht man, sie als irrationalen Ausdruck angeblich tiefliegender nationaler Eigenheiten darzustellen. Auf diese Art und Weise wird auch der eigentlich Verbündete zumindest momentan wieder zum unverständlichen, bedrohlichen Ausland.

Verbündete bleiben ohnehin insofern stets Ausland, als deren Bürger und Institutionen ausgeforscht und abgehört werden (dürfen); in der digitalen Sphäre erstreckt sich das bekanntlich auf alle Daten (natürlich kontrollieren die Dienste nicht alle erfassten Mails, Posts, Kontenbewegungen, Gespräche Satz für Satz, sondern setzen zuvor Filter ein). In einem Verfahren überprüft das deutsche Verfassungsgericht, ob dies mit den Grundrechten vereinbar ist (das Urteil soll im März 2020 erfolgen [Anmerkung 22.6.2020: Das Urteil liegt inzwischen vor: Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 2835/17]). Dem zuständigen Berichterstatter beim Bundesverfassungsgericht wird die Äußerung zugeschrieben, es handle sich um eine »absurde Vorstellung«, dass »Ausländer im Ausland Freiwild« seien. Freilich würde ein deutscher Beschluss, dass die heimische Exekutive nicht nur im Inland entsprechende Grundrechte beachten müsste, ausländische Staaten nicht binden können, ihrerseits so zu verfahren.

Dennoch zeigt sich an solchen Verhandlungen, dass die Konzeption unveräußerlicher Menschenrechte dazu drängt, die Grenzen des Inlands zu übersteigen. Wenn es um die Beziehungen zwischen Staaten geht, ist dies bereits der Fall. Im Public International Law (deutsch: Völkerrecht) gilt der Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten keineswegs mehr uneingeschränkt. Dies geht bis zu Versuchen, die militärische Anwendung von Gewalt in Fällen, die der UN-Sicherheitsrat nicht autorisiert hat, als menschenrechtlich geboten zu legitimieren (Hauptbeispiel: der NATO-Angriff gegen Jugoslawien/Serbien). Die Abkehr vom unbedingten Interventionsgebot ist sinnvoll – sonst müsste selbst eine organisierte, brutale Verfolgung großer Bevölkerungsteile innerhalb der Grenzen eines Staates als ›innere Angelegenheit‹ hingenommen werden –, in der Praxis hat dies aber dazu geführt, dass die Berufung auf Menschenrechte recht selektiv erfolgt, wenn kriegstaugliche Staaten Handlungen ausländischer Mächte aus politischen oder ökonomischen Interessen durchkreuzen wollen. Mittlerweile ist es so fast zur Regel geworden, dass ›humanitäre Interventionen‹ mit dem Verweis auf Vergehen gerechtfertigt werden sollen, die ohne größere Konsequenzen an anderer Stelle der Welt und oftmals sogar von Verbündeten ebenfalls begangen werden.

Mitunter begehen Staaten, die als emphatische Verfechter der Menschenrechte auftreten, selbst Gräueltaten, allerdings achten sie dabei darauf, dass sie nicht im Inland geschehen, sondern lassen z.B. Foltermaßnahmen im Ausland durchführen (vor illegalen Verschleppungen von Personen, die sich auf ausländischem Territorium befinden, schrecken sie jedoch nicht zurück). Kein Filmgenre ist darum so realistisch wie der Agententhriller, in dem Macht und Skrupellosigkeit der Geheimdienste und spezieller militärischer Einheiten zum festen dramaturgischen Bestand gehören. Selbst wenn diese Macht kritisch geschildert wird, bleibt die Kritik aber zumeist folgenlos, weil die einzelnen Helden, die gegen solche Dienste kämpfen, ähnlich verwerfliche Methoden anwenden.

Dass solche Kritik fester Bestandteil eines Unterhaltungsgenres sein kann, zeigt deutlich an, in welch geringem Maße mit ihr politische Konsequenzen verbunden werden. Sie darf deshalb auch als Anzeichen dafür gesehen werden, dass Kritik an Auslandseinsätzen nur dann auf Erfolg hoffen darf, wenn sie sich weniger an den Mitteln als an der Erfolglosigkeit dieser Vorhaben entzündet. Von einer ›Fernstenliebe‹, die Konservative in den 1970er Jahren befürchteten, kann gegenwärtig keine Rede sein. Auch die parteiischeren Ansätze von sozialistischer Seite, in jeder ausländischen ›Befreiungsbewegung‹ eine unterstützenswerte Kraft zu entdecken, wenn sie nur gegen die USA kämpfte, sind angesichts des Alltags in den Ländern, in denen solche Guerilleros erfolgreich waren, diskreditiert oder verblasst. Der noch viel weitergehende Versuch, die Gräueltaten, die im Ausland von den ›imperialistischen‹ Truppen begangen werden, dafür zu nutzen, das Grauen mit ganz anderer Zielsetzung auch im Inland zu verbreiten – »Bring the war home!« lautete ein entsprechender Schlachtruf linksradikaler Kräfte in den USA nach 1968 –, findet darum erst recht keine Resonanz mehr.

Ein wichtiger Grund für die auch und gerade im Deutschland der Gegenwart relativ große Unpopularität des Einsatzes kriegerischer Gewalt dürfte deshalb darin liegen, dass diese Praxis oftmals lediglich weitere, umfassendere Zerstörungen hervorgebracht hat (in den letzten Jahren etwa im Irak und in Libyen). Als anderer wichtiger Grund muss wahrscheinlich die Reserve gegenüber politischen Äußerungen in Rechnung gestellt werden, die bedeutende Verpflichtungen oder Interessen im Ausland reklamieren. Dass man ›Verantwortung übernehmen‹ müsse, ›unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt‹ werde, der ›Freihandel‹ von der ›Exportnation‹ in ›globalisierten Zeiten‹ gleich am besten auf der ganzen Welt militärisch zu schützen sei – diese Sätze verfangen aus ganz unterschiedlichen Motiven und weltanschaulichen Überzeugungen beim Wahlpublikum gegenwärtig nur in eingeschränktem Maße, obwohl sie zu den bedeutenden Maximen vieler hoher Vertreter der Exekutive und der ›Leitmedien‹ zählen. Desinteresse gegenüber Geschehnissen im Ausland, Selbstgenügsamkeit, Zweifel an den positiven Effekten militärischer Aktionen und divergierende Einschätzungen zu ihrer politischen oder ökonomischen Relevanz dürften zu den Hauptgründen gehören, die zu dieser Skepsis beitragen.

Nicht der letzte Grund dafür ist höchstwahrscheinlich, dass der ›US-Kulturimperialismus‹ seinen Siegeszug auch in den größten militärischen Mächten Asiens und Osteuropas angetreten hat, nicht bloß in den NATO-Staaten. Das ›feindliche Ausland‹ verliert ein gehöriges Stück seiner Fremdheit und des damit verbundenen Anscheins an Gefährlichkeit, wenn sich dort in den Städten, Malls und Clubs, die über Instagram und YouTube täglich sichtbar werden, das gewohnte Panorama von Gucci bis Techno, von Selfie bis Online-Shopping zeigt. Der Alltag in Russland und besonders in China hat auf dem Gebiet der Popkultur und des modischen Konsums in den letzten beiden Jahrzehnten aus Sicht ›westlicher‹ Bürger darum stark an jener kulturellen Differenz eingebüßt, die für eine aggressive Außenpolitik gut zur Legitimation und Mobilisierung taugt. Diese Popkultur besitzt bislang zwar nicht die Kraft, eine große Zahl an Leuten davon abzubringen, nach ›volkskulturellen‹ Unterschieden bzw. Essenzen zu suchen und daraufhin erwartungsgemäß zu finden, sie verfügt aber immerhin über einige Wirkung, wenn es darum geht, das Bild bedrohlicher ›Andersartigkeit‹ zu zerstreuen. Es ist allerdings zu vermuten, dass selbst diese Wirkung in Zeiten größerer Krisen und heraufbeschworener Konflikte rasch nachlassen würde.

Schluss

Ein letzter, schlagender Beweis für die geringe Bedeutung der Popkultur in politischer Hinsicht ist in aktuellen Bemühungen zu sehen, einen eigenen Staat auf dem Wege der Sezession zu gründen. Anhänger der Abspaltung sehen die gemeinsame Kultur typischerweise nicht in popkulturellen Übereinstimmungen, sondern in kleinen Gemeinsamkeiten, die noch vor oder hinter den Konstitutionsbedingungen und Legitimationen der bereits etablierten Staaten liegen. Sie versuchen demnach – wie etwa ein größerer Teil der Katalanen in Spanien –, das Ausland zu vergrößern, indem sie ein weiteres Inland schaffen wollen. Andere Perspektiven, die nicht zuletzt von einer internationalen Pop- und Konsumkultur eröffnet werden, sind ihnen darum weitgehend fremd und müssen von ihnen auch unbeachtet bleiben, sonst geriete ihre Rhetorik des ›Eigentlichen‹ in Gefahr.

Sieht man sich nach Alternativen um, fällt neben anarchistischen Hausbesetzungen und kleinen, hedonistischen Stätten, die beide unter dem Signum der ›temporary autonomous zone‹ stehen, als großer, verwirklichter Entwurf bloß Disneyland ins Auge. Zwar betritt man Disneyland durch die Idealversion der US-amerikanischen »Main Street«, stößt aber anschließend auf Orte, die den Comics des Gründers, Grimms Märchen und technoiden Fantasien entstammen, man trifft auf konventionelle europäisch-folkloristische Stätten ebenso wie auf Anleihen bei queeren Privatuniversen (Neuschwanstein), sodass weder ein Kompendium nationaler Charakteristika noch die Vision einer supranationalen Kultur-Union entsteht.

Verstärkt als Alternativentwurf sichtbar geworden ist Disneyland aber erst durch seine Vervielfältigung. Die Errichtung ähnlicher Disneylands – nach Anaheim (Kalifornien) und Florida im japanischen Urayasu (»Tokyo Disney Resort«), in Hongkong und nahe Paris – macht deutlich, dass es sich keineswegs um eine US-amerikanische Besonderheit handelt. Von einer großflächigen ›kulturellen Katastrophe‹ – wie es als Vertreterin der alten Kunst Ariane Mnouchkine im Zuge der Eröffnung Disneylands in Frankreich tat (»Tchernobyl culturel«) – kann dennoch nicht gesprochen werden, dafür ist Disneyland zu klein, zu begrenzt.

Diese Begrenzung rührt nicht nur daher, dass vor dem Zugang ins Disneyland wenn auch keine Unterscheidung nach Inländer/Ausländer, so doch ein sehr hoher Eintrittspreis steht. Wichtiger ist aber, dass von Disneyland kein größerer (anti-)kultureller Impuls ausgeht. Zwar ist die Merchandising-Kette sehr gut etabliert und finden sich Teile des ›Lands‹ auf vielen Tassen, Decken, Kappen wieder, die Verbindungen summieren sich jedoch nicht zu jener Kraft, die der Popkultur entspringt und sich im Alltag auch und gerade in Körperformen, Designobjekten, Gesten, Haltungen beweist. Mit der lokalen, architektonischen Verwirklichung hat Disneyland zwar den anderen popkulturellen Stilen eine wichtige Dimension voraus, bewirkt aber nicht einmal in seinem eigenen Raum jene Modellierung bei Frisuren, Bewegungen, Kleidung, Attitüden, die für Popstile international charakteristisch ist. Darum bleibt auch Disneyland bislang nur auf dem Papier ein Projekt, das der Unterscheidung von Inland und Ausland, eigener und fremder Kultur in der täglichen Praxis in größerem Maße Bedeutung entzieht.

 

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