Zur Ästhetik popmusikalischer Überschreibungen
1. Eine kleine Cover-Geschichte
Cover-Versionen sind so alt wie die Popmusik selbst. Um nur ein paar Belege für diese Behauptung anzuführen: Mehr oder minder jeder popgeschichtlich informierte Hörer wird Rock around the clock kennen, diesen Megahit von Bill Haley aus den 1950er Jahren, aber der Song klingt nur, als wäre er von ihm, tatsächlich stammt das Original von den heute vergessenen Sonny Dae and his Knights. Die Beatles wiederum haben ihre ersten Platten zur Hälfte mit Covern aufgefüllt, beispielsweise mit Fassungen von frühem Rock’n‘Roll wie Twist and Shout oder Money (thats, what I want), bevor ihre eigenen Songs in einem bis heute wohl unvergleichlichen Ausmaß zum Gegenstand der kulturellen Aneignung geworden sind, alleine von Yesterday etwa existieren ca. 2500 Versionen. Und wäre etwa Joe Cocker derart berühmt geworden, wenn er Ringo Starrs gemütlichen Vortrag von With a little help from your friends nicht in Woodstock vor einigen hunderttausend Menschen in eine auch körpersprachlich sichtbar zerquälte Version übersetzt hätte? Oder wer weiß noch, dass R.E.S.P.E.C.T, mit dem Aretha Franklin seit der Kanonrevision des Magazins Rolling Stone auf Platz eins der 500 ‚greatest songs of all time‘ steht, im Original von Otis Redding stammt? Schließlich könnte man böse pointieren, um von den für die Popgeschichte formativen 60er Jahren mit einem großen Sprung in unserer Gegenwart zu landen, dass seit der Digitalisierung letztlich die gesamte Popmusik mehr oder minder aus Covern besteht, aus Samples, Sound-Files, eingebetteten Riffs, geliehenen Bass-Spuren etc.
So popkulturpessimistisch eingedunkelt möchte ich jedoch nicht argumentieren und das Phänomen ‚Cover‘ ohnehin nicht abwerten, sondern vielmehr seine produktions- wie rezeptionsästhetische Bedeutung veranschaulichen. Aber, müssen wir dafür zunächst fragen, was ist ein Cover überhaupt? Denn die eingangs genannten Beispiele muten ja recht unterschiedlich an, sie sind generisch wie generell musikhistorisch offenkundig an verschiedenen Stellen platziert. Knapp geantwortet: Unterschiedlich sind diese Beispiele, zufällig gewählt allerdings keineswegs. Implizit führen sie nämlich eine definitorische wie eine geschichtliche Vorentscheidung mit. Denn sicher, die Geschichte der abendländischen Musik lässt sich als Abfolge von Bearbeitungen erzählen: Zu Mozarts Zeiten waren Transkriptionen für andere Besetzungen eine beliebte Einnahmequelle von Komponisten, im dem Historizismus verpflichteten 19. Jahrhundert präsentierte Felix Mendelssohn-Bartholdy Werke des Barock in sogenannten ‚historischen Konzerten‘, der Jazz löste sich dann ab 1900 vom strengen Werkkonzept und wandte sich eher Interpretation und Improvisation zu, und schon in den 1920er und 1930er Jahren dominieren Vielfachaufnahmen von Hits den zunehmend prosperierenden Markt (Einen Überblick über diesen historischen Vorlauf bietet Pendzich 2008: 63-71).
Aber das sind alles historische Vorstufen, keine Cover im engeren Sinne, nicht zu schweigen davon, dass der Begriff selbst noch gar nicht existiert. Er taucht erst in den 1950er Jahren auf und meint neue Fassungen von bereits veröffentlichten Ersteinspielungen, ist also einerseits an das Medium der Popmusik wie andererseits an Weiterentwicklungen des Copyrights gebunden, die nötig werden, um auf diese neuen medialen Bedingungen zu reagieren. Genauer gesagt: Das Phänomen kann es nur deshalb geben, weil die Musiker einer Band die Stücke selbst schrieben, also Komponisten und Interpreten in Personalunion sind; außerdem ist Bedingung der Möglichkeit von Covern, dass es eine klar identifizierbare Klanggestalt gibt, ein Notentext wie in der Kunstmusik würde nicht reichen. (die Definitionsgeschichte erzählt Pendzich 2008: 56-63) Zur Ästhetik popmusikalischer Überschreibungen gehört, dass das Palimpsest gleichsam sichtbar halten soll, was einmal auf ihm geschrieben war, oder weniger vornehm gesagt: Es soll erkennbar zitiert und nicht heimlich geklaut werden.
In diesem Sinne ist Haleys Rock around the clock, mit dem ich eingestiegen bin, folglich eine Coverversion. Aber der Song ist noch mehr, ein Hinweis nämlich darauf, wie wir unseren Gegenstandsbereich definieren können, was sich mithin sinnvoll meinen lässt, wenn von Popmusik die Rede sein soll. Mit dem Poptheoretiker Diedrich Diederichsen verstehe ich Popmusik als „Zusammenhang aus Bildern, Performances (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen.“ (Diederichsen 2014: XI) Popmusik meint daher auch, aber eben nicht nur Musik, sondern gleichermaßen die produktions- wie rezeptionsästhetische Praxis, in die sie eingebunden ist. Dieser kulturgeschichtlich in seiner Verdichtung neue, die Lebenspraxis der Produzent:innen wie Rezipient:innen prägende Zusammenhang aus musikalischen, performativen, stilbezogenen, akteurszentrierten und medienbedingten Dimensionen lässt sich seit Mitte der 1950er Jahre beobachten – und Haley ist mitten dabei, als es losgeht.
Angedeutet ist damit, dass Cover-Versionen erstens fast gleichursprünglich mit der Geschichte des Pop sind und popmusikalische Überschreibungen zweitens (bzw. damit zusammenhängend) ein ertragreiches Feld für die Frage nach Formen und Funktionen des Popdiskurses bieten, dass sie Anlass geben, über die Kontur des Feldes zu reflektieren, über seine Regeln, Zugehörigkeiten und über Prozesse der Kanonisierung, De-Kanonisierung und wieder zurück. Noch einmal anders formuliert: Dass in der Popmusik mit Diederichsen Musik eben nur ein Aspekt unter vielen ist, dass die Inszenierung einer jugendkulturellen Subkultur qua Ästhetik und Performance sogar besonders zentral sind, wird an Covern besonders anschaulich, deutlicher vielleicht sogar, als wenn wir ‚nur‘ Originalversionen von Songs betrachten.
Der berühmteste Fall für eine solche Cover-getriebenen Verlaufsgeschichte ist wohl Johnny Cash mit seinen American Recordings: einer Folge von Alben, in denen sich der aus der popkulturellen Zeit gefallene und schwer von Krebs gezeichnete Country-Star mit einer auf das Wesentliche reduzierten Version seiner selbst neu erfindet, und dies vor allem über Cover-Songs, denen er qua Beglaubigung durch sein Alter, seine Lebensgeschichte wie seine Todesnähe erst die ‚richtige‘ Dignität verleiht – mit Liedern wie In my life von den Beatles etwa, in dem John Lennon einst mit gerade einmal 25 auf sein Leben zurückblickte („There are places I’ll remember/All my life, though same have changed“), oder noch berühmter mit Hurt von den Nine Inch Nails, das Cash nun als sein Testament performed: „I hurt myself today/To see if I still feel/I focus on the pain/The only thing that‘s real.“
Dieser Fall ist intrikat genug, weil Cash hier nicht nur Formen der Beglaubigung inszeniert, sondern damit auch zwei ästhetische Felder gleichzeitig bespielt, das Feld des Country wie dasjenige des Pop. Aber um Cash soll es mir im Folgenden gleichsam nur über Bande gespielt gehen, oder vielmehr nur als Vorbild. Stattdessen möchte ich mich mit einem strukturell noch komplizierteren Fall von doppelter Überschreibung beschäftigen, einem Fall von Covern zweiter Ordnung: Ich meine den Fall Gunter Gabriel.
2. Werkgeschichte I: Melodien für Malocher
Dass ausgerechnet der Fall Gabriel komplex sein soll, mag überraschen, ja das Image Gabriels ist wohl eher mit dem Gegenteil von Komplexität verbunden, musikalisch wie biographisch. Schreiten wir die wichtigen Stationen dieser Werkbiographie rasch ab, von ihren Anfängen in der historischen Tiefe der 1970er Jahre bis in unsere (auch) popmusikalische Gegenwart, um die es mir vor allem zu tun ist – die sich aber, wie alle historischen Phänomene, ohne die Ausgrabung von Tonscherben aus dem Schlamm der Vergangenheit nicht verstehen lässt. Weniger metaphorisch gesagt: Gabriel feiert früh in seiner Karriere Erfolge mit Songs über Fernfahrer (Er ist ein Kerl. Der 30 Tonner Diesel), über Gleisbauer (Intercity Linie Nummer vier) und natürlich über die Schwierigkeit, mit der notorisch knappen Kohle auszukommen (Hey Boss, ich brauch mehr Geld).
Dazu schreibt er immergrüne Schlager für Kolleginnen und Kollegen, für Juliane Werding etwa Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst oder Ich trink auf dein Wohl, Marie für Frank Zander. Situiert ist er bzw. sein Werk damit offenkundig nicht im popmusikalischen Feld, sondern vielmehr im Feld des Country. In den USA ist diese Gattung hoch angesehen, hat ihre eigenen Regeln, Stars und sogar Charts – und ist Pop. Dort passen die biographischen Legenden ihrer Akteure wie ihr Habitus zum (politischen wie kulturellen) Selbstverständnis, zur Haltung einer Nation, die immer noch tut, als würde sie gegen Westen aufbrechen und das Land in Besitz nehmen, dort wirken Stetson-Hüte und Cowboystiefel ‚natürlich‘. In Deutschland hingegen wird die Appropriation dieses Kulturguts den Geruch des Lächerlichen nicht los, die Karo-Hemden von Truck-Stop und der Hut von Tom Astor erscheinen wie eine Kostümierung und nicht nach ‚authentischem‘ Lebensstil. Hier ist Country nicht Pop, sondern Schlager.
Das stimmt für Gabriel wohl nicht, und vielleicht ist sogar nur er eine Ausnahme von der Regel. Denn Gabriel imitiert den amerikanischen Gestus nicht, sondern transformiert ihn vielmehr (zumindest im Frühwerk) in ein durch seine Biographie beglaubigtes und ziemlich hiesiges Programm für diejenigen, mit Dietmar Dath gesagt, „die keine Erbschaften zu erwarten haben und vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, wenn sie einer bezahlen will. Zu Zeiten, da diese Menschen blauäugiger, aber auch einen Zahn klassenbewusster waren als heute, hat Gabriel gar Agitatorenverse hergestellt“ (Dath 2004). Melodien für Malocher eben, wie Anja Rützel unüberbietbar bündig konstatiert hat. (2017)
Es folgen viele Fehltritte, ästhetische (Komm unter meine Decke) und noch mehr biographische, vier Scheidungen, Gewalt gegen Frauen, dafür öffentlich angezählt von Alice Schwarzer in einer Alfred-Biolek-Sendung (Gabriel/Flesch 2009: 25), dazu eine krachende Pleite mit den legendär ruinösen Bauherrenmodellen, und kaum ist er durch 500 Wohnzimmerkonzerte für jeweils 1000 Euro wieder schuldenfrei, vergisst er Steuern zu bezahlen, und der Kreislauf geht von vorne los. Das mag nach Boulevard klingen, aber es ist mehr als das. Denn einerseits wird der „niederlagengegerbte Unterhaltungsmusiker“ (Reents 2009) zur Spottgestalt, andererseits ist damit strukturell die Bedingung der Möglichkeit seiner späten Auferstehung gegeben – eine werkbiographische Auferstehung, die die Niederlagen des Lebens nun als Beglaubigungsressource nutzen kann. Diese späte Imagekorrektur also nimmt Gabriel durch den Rekurs auf das ‚Modell Johnny Cash‘ vor, eine referenzielle Hinwendung, die letztlich von Beginn an in seinem Werk angelegt war. Schon 1973 dichtet er Cashs Wanted Man (das eigentlich von Bob Dylan stammt, aber das weiß Gabriel damals nicht) in Ich werd gesucht in Bremerhaven um, und aus dem Vers „Wanted man in Buffalo“ wird „ich werde gesucht in Wuppertal“. Etwas später wandelt er Cashs Man in Black zum Mann hinterm Pflug und One piece at a time adaptiert er zu Ein Stückchen pro Tag, zur Geschichte über einen armen Bandarbeiter im Auto-Werk, der jeden Tag ein Teil in der Butterbrotdose aus der Fabrik schmuggelt: „Und irgendwann, dann bin ich auch am Ziel /Und meine Nachbarn steh‘n staunend da /Wenn ich stolz durch meine Straße fahr‘ /Mit meinem neuen Luxus-Automobil.“ Country, hat Gabriel dazu viel später gesagt, ist eben „Geschichtenmusik. Deshalb musst du sie deutsch singen.“ (Posener 2010)
Nun jedoch, als die Phase des Spätwerks anbricht, verdichtet sich der Bezug bzw. wird strukturell dominant, und zwar in zwei aufeinander folgenden Stufen, die durch zwei verschiedene Formen des Coverns charakterisiert sind. Zunächst nimmt Gabriel im Jahr 2003 ein komplettes Album mit eingedeutschten Versionen von Cash-Songs auf, und zwar nicht irgendwo, sondern im Cash Cabin Studio in Hendersonville, Tennessee, und sogar produziert vom Sohn der Ikone, John Carter Cash (Gabriel singt Cash – Das Tennessee-Projekt, 2003). Johnny Cash selbst wiederum ist vor Ort und begrüßt Gabriel in einer Weise (wenn wir die biographische Legende glauben wollen), die symbolisch schwer überbietbar ist, eine Mischung aus Segnung und Staffelstabübergabe: Ein schwarzer 500er Mercedes fährt vor, Cash auf dem Beifahrersitz, er öffnet die Tür, Gabriel fasst ergriffen die Hand des Idols und stammelt ein paar Worte, dann steigt der sterbensnahe Cash aus und, erinnert sich Gabriels mitangereiste Tochter Liesamarie: „Er zog sich am Türholm hoch, ein wahrer Kraftakt für einen Menschen, den seine körperliche Stärke verlassen hatte, doch er wollte wenigstens für einen kurzen Moment mit uns auf Augenhöhe sein. Johnny Cash umarmte meinen Daddy mit seinem rechten Arm, während er sich mit der zitternden linken Hand an der Wagentür festhielt. Sein blaues Jeanshemd hatte ihm in besseren Tagen bestimmt einmal gepasst, die leichte schwarze Stoffhose ebenso, nun wirkte es, als müsse er die viel zu großen Sachen seines älteren Bruders auftragen, so wie damals, als er ein kleiner Junge gewesen war.“ (Gabriel/Flesch 2009: 240f.) Zwei Wochen später sollte Cash tot sein.
Diese Weihehandlung durch den Godfather of Country ist inszenierungspraxeologisch sicher bedeutsam, aber wie lassen sich die Coverversionen beschreiben? Hilfreich zur Kategorisierung des adaptierenden Verfahrens scheint mir in diesem Fall (wie generell) Genettes Modell transtextueller Beziehungen, das zwar nicht für popmusikalische Phänomene gedacht ist, sich aber auf sie übertragen lässt – den Begriff des Palimpsestes habe ich ja vorhin schon erwähnt. Aus dieser Perspektive lässt sich hier eine Form der Hypertextualität oder besser Hypermedialität beobachten, eine intertextuelle oder intermediale Verbindung also zwischen dem vorhergehenden Text oder Song (Hypotext) und dem aktuellen Text oder Song (Hypertext). Die beiden Grundtypen solcher Beziehungen sind Nachahmung und Transformation, wobei nachahmen im Sinne Genettes meint, den Stil in einen anderen Text zu übertragen, und transformieren, den Hypertext nach dem Modell des Hypotextes herzustellen. (Genette 1993: 9f.) Auf unser Beispiel gewendet: Gabriel verbindet offenkundig beide Verfahren auf spezifische Weise, insofern er durch die Übersetzung einen anderen Text schafft (und auch wieder nicht) und gleichzeitig das Modell Cash transponiert.
3. Werkgeschichte II: Sohn aus dem Volk
Das klingt schon komplex genug, aber mit der nächsten Platte wird es strukturell noch einmal deutlich intrikater. Sechs Jahre braucht Gabriel nach den Tennessee-Sessions, bis er ein neues Album vorlegt. Dort knüpft er wiederum an Cash an, aber nun nicht mehr (oder nicht mehr vorrangig), indem er Cashs Songs covered, sondern vielmehr durch die Adaption von Form und Funktion, mit der Cash selbst gecovered hat. Diesen poetologischen Move artikuliert gleich der Paratext des Albums in wünschenswerter Klarheit: Sohn aus dem Volk, lautet der Titel, ergänzt um die Gattungsangabe German Recordings. Aufgerufen ist damit einerseits die biographische Legende des ‚Volksmusikers‘, eines ‚Folksingers‘ im Wortsinn, der weiß, wovon er singt, weil er es selbst erlebt hat, zudem soll die Referenz auf Cashs Werkbiographie und seine bereits erwähnten American Recordings unübersehbar sein. Dazu ist die Schrift offenkundig direkt bei Cashs Spätwerk geborgt, ebenso das topische Schwarz und die Konzentration auf Gabriels Gesicht, etwas überblendet, weil jede Falte zu sehen sein soll, als sichtbare Zeichen eines Lebens, das zwar nicht auf sicheren Schienen gelaufen ist, aber allemal interessant war.
Dieses paratextuell ausgeflaggte Programm wird dann in der Tracklist konsequent ausgeführt, d.h. strukturanalog organisiert zu den American Recordings: So bringt Gabriel neue Songs aus eigener Feder, gleich zum Auftakt des Albums etwa Ich geb den Rest für dich, der die legendenhafte Selbsterzählung des Sängers weiterspinnt. „Ich war nicht immer ein Vorbild/Ich war nicht immer der Held/Ich war ganz sicher kein Braver/Hab so manchen Menschen verprellt/Ich war oft launisch und fertig/Die Welt war mir scheißegal/Doch ich hab dafür geblutet/Und meinen Preis gezahlt“, heißt es dort, und das Video zum Song übersetzt das Cover des Albums in bewegte Bilder, bildästhetisch eine Transposition der Cash-Videos wie der legendären ‚Verfilmung‘ von Hurt. Zudem covered er einmal Cash direkt, wie wir es aus den Tennessee-Sessions kennen, aus Before my time wird Vor meiner Zeit, mit Versen wie: „Und durch das dunkle Gestern noch /Seh‘ ich jetzt und hier /Dass Fleisch und Blut nach Liebe ruft /Genau wie jetzt bei mir“. Hier rücken Gegenwart und Vergangenheit zusammen in ein überzeitlich gültiges Bild der Liebe.
Die Songs von Gabriel werden wohl nie den Nobilitierungsgestus einer Veröffentlichung als Buch erleben, um zu demonstrieren, dass die Texte für sich stehen können, d.h. eine Poetizität aufweisen, die sich ohne die performative Aktualisierung behaupten kann. Sie ‚leben‘ vielmehr in besonders ausgeprägter Weise davon, dass Gabriels Stimme ihnen Bedeutung verleiht. Und gerade die Stimme ist es ja, die Individuelles in den reichlich technischen Medienverbund Pop bringt, gerade weil sie nicht perfekt ist und durch das Mikrofon alle kleinen Fehler und Abweichungen vom ‚richtigen‘ Ton hörbar werden, ihre Verschleifungen, Rauheiten, intonatorischen Unsicherheiten, die in der Kunstmusik ein Problem wären, im Pop aber das Besondere ausmachen; Diederichsen bezeichnet die Stimme deswegen übrigens mit Roland Barthes als das punctum der Popmusik (2014: XX). Der junge Bob Dylan ist einmal gefragt worden, ob er sich eher als Sänger oder Poet sehe, und hat geantwortet: „I see myself more as a Song and a Dance Man.“ Gabriel dürfte den Tänzer streichen, ansonsten aber zustimmen.
Neben eigenen Songs und der erwartbaren Cash-Transposition stehen weitere Coverversionen, die deutlich überraschender sind, weil sie auf ganz unterschiedliche generische Kontexte zugreifen: ein Cover etwa von Ideals Blaue Augen, ein ‚Klassiker‘ der Neue Deutsche Welle, die freilich schon längst nicht mehr neu, sondern ziemlich historisch ist und nun von ihrer etwas hysterischen Jugendlichkeit zu Alterslässigkeit reifen darf. Popgeschichtlich aktueller ist die Version von Peter Foxx Haus am See, und dessen idyllische Vision eines träumenden Verlierers kommt durch den Sänger Gabriel im Finale seines bewegten Lebens gewissermaßen erst zu sich. Ebenso gut legt die eine englische und eine deutsche Hälfte verbindende Fassung von David Bowies Heroes (Helden, eingespielt mit TheBossHoss) amtliche Biographie und biographische Legende übereinander. Und die 2Fragen der Elektropop-Band Klee bekommen durch Gabriels Interpretation eine existenzielle Dringlichkeit, die das Original nicht haben kann: „Und wenn ich dich zwei Fragen fragen würde / wär das/ woran glaubst du? Und wofür lebst du?“
Das Album bringt also eine Reihe von Cover-Versionen, aber wichtiger ist der konzeptuelle Rahmen, in den sie eingebettet sind: Die Form des Albums als Gesamtwerk lässt sich insgesamt als Transformation des Verhältnisses verstehen, das Cash zu seinen Referenzobjekten hat – ein Cover zweiter Ordnung mithin. Bei diesem Cover zweiter Ordnung geht es offenkundig weniger um die Einzeltextreferenz und mehr um den Gestus, gecovered bzw. transformiert werden ein Programm und ein Habitus. Konkreter gesagt: Gabriel borgt sich von Cash die biographische Rückwendung, die den Charakter eines vorgezogenen (und nicht nur musikalischen) Testaments annimmt. Indem er die Songs anderer Künstler:innen durch Stil und Stimme zu seinen macht, liefert er gleichsam eine vertonte Autobiographie. Die Cover sind also fremd und eigen zugleich, strukturell wie inhaltlich, und damit auf spezifische Weise ‚authentisch‘. In einem Interview anlässlich des Albums hat Gabriel auf die Frage, wie viel Authentizität sich mit seinem volksnahen Image vertrage, entschieden geantwortet: „Lobenswert viel. Authentische Typen sind synchron mit dem, was sie darstellen und wie sie handeln.“ (Loesl/Gabriel 2009)
Gabriel darf oder muss das sogar sagen, weil zur Behauptung von Authentizität ja die Identität von Innen und Außen, von Selbst und Selbstausdruck gehört. Aus kunsttheoretischer Perspektive müssen wir gegen diese Identitätsbehauptung allerdings einwenden, dass sie weder Entität noch ‚wahrer‘ Zustand ist, sondern vielmehr der Effekt einer Inszenierung, der aus dem Zusammenspiel tatsächlicher Körperlichkeit und „ikonischen Visuals“ entsteht, zwei Zeichensysteme kommen hier gewissermaßen zusammen. Insofern sind die Protagonisten der Popmusik, noch einmal mit Diederichsen argumentiert, „weder reine Darsteller noch reine Sprech-Akteure, die in eigener Sache als reale Personen sprechen. Es ist konstitutiv für alle Popmusik, dass in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht. Das ist eine entscheidende Spielregel. An der Ideologie des Authentizitismus – der das Nicht-Darstellen, Nicht-Lügen zum maßgeblichen Kriterium für gute Pop-Musik erhebt – wie an seinem zutiefst verwandten Gegenteil, Rock-Theater, scheitert Pop-Musik […] regelmäßig.“ (Diederichsen 2014: XXIV) Anders gesagt: Pop ist nie mehr bei sich, als wenn er zugleich existentiell und künstlich ist, und Gabriel hat mittels des transformierenden Verfahrens offenkundig das Feld gewechselt und ist in diesem Sinne Pop im emphatischen Sinn geworden. Konkret gemacht: Ich geb den Rest für dich habe ich oben schon anzitiert, dort heißt es dann weiter: „Ich bin alles andere als heilig/Doch ehrlich bin ich schon/Und ich schwör dir ab jetzt/Bleib ich bei dir/Und bin immer da für dich“ – dieses Versprechen ist nur im Sinnzusammenhang des Liedes wahr, jenseits der Textgrenze gilt es nicht. Der Boulevard weiß ein anderes Lied zu singen.
4. Werkgeschichte III: Von teenage Angst zu ‚My Way‘
Ist das Album Sohn aus dem Volk folglich wesentlich mehr als die Summe seiner Teile, so ragt ein Song dennoch heraus, er ist Schluss- wie Kernstück gleichermaßen: Ich bin ein Nichts. Gabriel covert mit diesem Finale ja nicht nur irgendwen und irgendwas, sondern die Ikonen der alternativen Popkultur und ihren erfolgreichsten Song, Creep von Radiohead. Zu dieser Band um Sänger Thom Yorke und Gitarrist Johnny Greenwood nur so viel: Wie vielleicht keine andere Band versteht es Radiohead seit Jahrzehnten, kommerziellen Erfolg mit avantgardistischen Verfahren zu verbinden, also massenpopulär und an die popkulturell Eingeweihten, die happy few, zugleich adressiert zu sein. Creep stammt aus der Frühphase der Bandgeschichte, ja mehr noch, der Song wurde im Jahr 1992 als erste Single der Band veröffentlicht und erschien im Folgejahr dann auf dem Debütalbum Pablo Honey. Hohe Chartpositionen erreichte es nicht, erst mit der Wiederveröffentlichung ein Jahr später begann die Entwicklung zum ‚Klassiker‘ der alternativen Jugendkultur, bei youtube ist das Video mittlerweile mehr als eine Milliarde Mal aufgerufen worden, über die Gründe für diesen Erfolg lässt sich nur spekulieren.
Konstatieren lässt sich in jedem Fall, dass die Melodie zwingend ist, wobei eine Ironie der Covergeschichte ist, dass ausgerechnet dieser Song nur ein Original mit Vorzeichen ist: denn Harmoniefolge und Melodiebogen erinnern derart stark an The Air that I breathe von Albert Hammond und Mike Hazlewood, dass die beiden seit einem außergerichtlich beigelegten Streit als Co-Autoren geführt werden. Gabriel covert hier also gewissermaßen ein Plagiat, aber dieser Spur will ich nicht weiter folgen, weil sie für die referenzielle Faktur nicht wesentlich ist. Die Melodie ist eingängig, dazu gehört das Spiel mit den Amplituden, d.h. mit Laut-Leise-Differenzen zum popmusikalischen Stil der Zeit, die Pixies oder Nirvana bauen ihre Poetologie auf einem ähnlichen Grundprinzip auf. Darüber hinaus scheint mir der doppelte Schlag auf der Gitarre von Greenwood ein spannungsförderndes Moment, das die folgende ‚Entladung‘ erst so erleichternd macht. Der Text wiederum bietet eine Projektionsfläche, die derart topisch ist, dass sich fast jeder (wohl vornehmlich männliche) jugendliche Hörer angesprochen fühlen bzw. sich mit der Sprechinstanz identifizieren kann. Thom Yorke hat zwar später einmal angedeutet, dass das Setting auf eine eigene Erfahrung zurückgeht, aber diese autobiographische Information ändert nichts an der fast schon anthropologischen Allgemeinheit der Geschichte. Präsentiert wird uns eine reichlich typische boy-meets-girl-Story, die Angebetete ist rein und schön wie ein Engel, der Sprecher fühlt sich dagegen minderwertig und himmelt sie nur aus der Ferne an, larmoyant und voller Teenage Angst.
Mehr Jugendkultur geht also kaum, musik- wie bandgeschichtlich, ein Song über frühe (vergebliche) Liebe, Unsicherheit der Jugend, vom Anfang des Lebens erzählt. Gabriel dreht diese Perspektive um, in der Selbstschau wie der Struktur radikal, erzählt wird nicht vom Anfang, sondern vom Ende her, nicht von erster Liebe, sondern von letzten Dingen, nicht vom Übergang ins Erwachsenenalter, sondern dem Übergang zu Tod und Vergessen.
Um diese Version nun auf meine Überlegungen zu beziehen: Gabriel covered hier gleichzeitig Radiohead und Johnny Cash, Creep wie die American Recordings, das eine direkt, das andere konzeptionell. Und wenn man so will, läuft eine Art drittes Cover, eine dritte Referenz wie ein Unterstrom mit, und zwar auf Frank Sinatras My way. Diese drei Bezüge also verbindet Gabriel, d.h. er transformiert sie in einen Song, der seine Herkunft nicht verleugnet, aber eine eigenständige Signatur erkennen lässt, durch Inversion (Radiohead), biographische Ausweitung (Cash) und habituelle Aufrichtigkeit (Sinatra). Mit der Anverwandlung von Sinatras Lebensbilanz angefangen: Während Sinatras Ich, das wir mit seinem Sänger identifizieren sollen, reichlich selbstgefällig daherkommt („I did what I had to do“), fällt der Rückblick bei Gabriel schonungslos gegen sich selbst aus, jede Überheblichkeit hat er sich ausgetrieben, nüchtern hält er sich sein Versagen vor. Und während Cash vor allem das Ende in Düsternis taucht, die Verluste aufzählt und das Gefühl betont, ein Letzter zu sein („What have I become?/My sweetest friend/Everyone I know goes away/In the end“), geht es seinem Wiedergänger um die Abrechnung mit dem gleichermaßen gelebten wie vertanen Leben in toto. Die Umkehrung von Radioheads sozusagen naturgemäß die Idee der Zukunft wie die Utopie der Liebe mitführende Perspektive in die Rückblende in die eigene Unterwelt habe ich ja schon angedeutet.
Aus dieser referenziell hochgradig aufgeladenen Konzeption heraus nimmt der Song die amtliche Biographie als Ausgangspunkt („mit 67 Jahren und 24 Tagen“), um eine Art Dialog mit sich selbst zu inszenieren, ein Wechselspiel aus variierenden Fragen in der Strophe und der gleichlautenden Antwort im Refrain, aus Fragen, die keine Geschichte erzählen, sondern ein Set von möglichen Sinnstiftungen durchspielen und sie allesamt verwerfen. So ist er am Modell Familie gescheitert, „Hand voll Kinder Hand voll Frauen, verletzt und abgehauen“, näher können sich der empirische Gabriel und seine Sprechinstanz nicht sein. „Was muss man schaffen / was muss man machen“, wenn Liebe und Kinder nicht sinnstiftend sind, fragt Gabriels durch ein langes, wildes Leben tiefergelegte Stimme ratlos, und der Refrain antwortet unerbittlich: „Du bist ein Nichts /Du bist ein Niemand / Ein winziges Detail.“ Auch in Sicht auf Politik und Geschichte ist er nur ein winziges Detail, hat er keine tragende Rolle gespielt oder sich überhaupt dafür interessiert, „Wo war ich 68 / und wo beim Mauerfall?“, fragt er rhetorisch, und die Antwort ist klar, die Ereignisse brauchten ihn nicht. Poetisch gelungen scheint mir übrigens, wie Gabriel die große und die kleine Geschichte zusammenbringt, den großen Durchbruch der deutsch-deutschen ‚Wende‘ mit dem eigenen Ende kontrastiert, indem er beides auf einer Isotopie-Ebene ansiedelt: die Mauer hier, der Grabstein dort, „Eine in Stein gehauene Zahl“. Die dritte Strophe steigert den Modus der Selbstanklage noch einmal. In den bedrohlich-dräuenden Sound drängt sich eine dramatische Trompete, und der Song schwing sich fast schon zu sakralen Höhen auf, eine Tonlage, die schon bei Cash angelegt ist, wenn er sich mit „this crown of thorns“ in Szene setzt. Gabriel wiederum fragt, was der Auftrag seines Lebens gewesen sein könnte, und bittet eine numinose Instanz, etwas von ihm überdauern zu lassen.
Ob der durchaus belesene Gabriel den französischen Philosophen Michel Foucault kennt, weiß ich nicht. Aber das ist auch nicht wichtig. So oder so bleibt der Song ja nicht bei der bitteren Diagnose eines verfehlten Lebens stehen, sondern gibt eine Antwort auf die Frage, wie es diesem sehr speziellen Ich gelingen kann, nicht zu verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, um eine berühmte Formulierung von Foucault zu borgen. Von Gottfried Benn stammt die gleichermaßen bescheidene wie arrogante Selbsteinschätzung, dass ihm in seiner Werkbiographie nicht mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte gelungen seien. Nun hätte Gabriel vermutlich gelacht, wenn man ihn mit Benn zusammenbringt, ‚hömma, das ist doch Quatsch‘, höre ich ihn poltern, und Gedichte für Malocher hat der elitäre Benn nun wirklich nicht geschrieben. Aber der kunstemphatische Gestus ist durchaus verwandt. Was ist also Gabriels Vermächtnis, was bleibt, außer einer in Stein gehauenen Zahl? Kinder gezeugt zu haben, spielt dabei offensichtlich keine Rolle, sehr wohl aber eine andere Form des Schöpfertums, wenn das religiöse Wort hier verwendet werden darf. Noch einmal, was also bleibt? Wir dürfen die Antwort, die das Lied gewordene Testament Ich bin ein Nichts ausdrücklich gibt, unbedingt ernst nehmen: ein paar Lieder. Und das ist nicht nichts.
Literatur
Dath, Dietmar (2004): Den lockt man nicht mehr in den Wald. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.2004.
Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik. Kön.
Gabriel, Gunter. Mit Oliver Flesch (2009). Wer einmal tief im Keller saß. Erinnerungen eines Rebellen. Hamburg 2009.
Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M.
Loesl, Michael (2009): Der Geber Gunter Gabriel [Interview]. [Internetquelle: https://www.grandguitars.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=7756&token=7495af1d6a06c5b731b63d9b9f8562fb317d27c8 (letzter Zugriff: 2.9.2024)]
Pendzich, Marc (2008): Von der Cover-Version zum Hit-Recycling. Historische, ökonomische und rechtliche Aspekte eines zentralen Phänomens der Pop- und Rockmusik. Münster.
Posener, Alan (2010): Deutscher Country – veralbert und verschlagert. In: Die Welt, 15.2.2010.
Reents, Edo (200): Der Schmerzengel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2009.
Rützel, Anja (2017): Melodien für Malocher. Zum Tode Gunter Gabriels. In: Der Spiegel, 22.6.2017.