ChatGPT in der Tradition literarischer Vollerfassungsphantasien
I.
ChatGPT lädt dazu ein, wahllos Kombinationen auszuprobieren, wie etwa dieses „Stifteresque Martian Adventure“:
„Der rote Planet erstreckte sich vor den Augen des jungen Raumfahrers wie ein unendlicher Ozean. Ebenso wie die grünen Wälder und sanften Hügel seiner Heimat, so versetzte ihn der Mars in Ehrfurcht. Seine Augen glänzten vor Neugierde, als er sein Schiff auf dem staubigen Boden landete und seine Schritte auf dem fremden Planeten setzte. Die rote, staubige Oberfläche des Mars schien endlos zu sein, und der junge Raumfahrer, dessen Name Jakob lautete, war von der Ruhe und Einsamkeit des Ortes überwältigt. Es gab kein Zeichen von Leben, nur leichte, kalte Winde, die den Staub sanft über die Landschaft wehten. Jakob spürte, wie die feinen Körner zwischen seinen Fingern glitten, während er sich umsah und seine Umgebung erkundete. In der Ferne erhoben sich majestätische Berge, deren schroffe Gipfel den wolkenlosen Himmel des Mars durchstießen.“
Indem man diese und andere Aufträge an den Textgenerator abgibt, bedient man eine KI-typische Vollerfassungsphantasie, die aus mindestens zwei Elementen besteht: Die Maschine soll 1) alle denkbaren Textprodukte, für deren Herstellung Zeit, Ausbildung und Recherche notwendig gewesen wären, in Windeseile erstellen – man könnte dies das „abundistische Phantasma“ nennen. Und 2) soll sie Lösungen für sämtliche Probleme liefern, die sonst mühsam und kostspielig von Menschen ausgedacht werden müssten und Handlungsaufforderungen bieten, wie sich die Probleme in der Realität lösen lassen. Ich würde dies das „solutionistische Phantasma“ nennen, das sich auch fortsetzen lässt: Noch für die Umsetzung der Lösungshinweise können dort Lösungen gefunden werden.
Es kann zwischen beiden Phantasmen Überschneidungen geben, ja das eine kann das andere beinhalten: Wenn es alle Texte gibt, also alle möglichen Zeichenkombinationen, dann müssen die Problemlösungstexte auch ein Teil davon sein; und wenn man sagt, dass nicht nur Bedienungsanleitungen, sondern auch Textfragmente oder Poesie eine Funktion erfüllen – sei es Belehrung, Bekehrung, Abschreckung oder Weltflucht –, so können alle Texte Zwecken dienen und mithin Probleme lösen. Doch scheint bei den Phantasmen die Schwerpunktsetzung jeweils anders zu sein: Während bei Solutionisten vor allem der technische Aspekt und die Beherrschung der Realität im Blick steht, scheint bei Abundisten das Abwegige und Interessante, Unterhaltung und Genuss, im Fokus zu stehen. Bei den einen gibt es Desiderate und bei den anderen Wunschtitel.
II.
Der Abundismus kann dabei in eine Tradition kombinatorisch-enzyklopädischer Literatur gestellt werden, die sich seit dem spätmittelalterlichen Gelehrten Raimundus Lullus in der gleichsam maschinistischen Vorstellung ausdrückte, durch ewige Auswahl, Hinzufügung und Umstellung einiger Elemente könne man alle möglichen Verbindungen herstellen. Sie geht über Leibniz zu Meuthner, Bense, Heißenbüttel und dem Oulipo-Kreis, der ja versuchte, Schreibalgorithmen umzusetzen, etwa: „Schreibe einen Roman ohne den Buchstaben E“ (Perec: Anton Voyls Fortgang), oder „Schreibe ein Buch über Bücher, die du nicht geschrieben hast“ (Benabou: Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe), oder: „Schreibe Sonette, aus denen sich neue Sonette generieren lassen“ (Queneau: Hunderttausend Milliarden Gedichte).
Diese Texte haben etwas Verspieltes und Anmaßendes, das zumindest Interesse erweckt. Und nicht zuletzt – und hier lässt sich ein Bezug zum Stifter-Mars-Crossover herstellen – ist diese Kombinatorik ja dem Witz nicht fern, der seinerseits als die überraschende Verbindung des Heterogenen verstanden wird. Um das abundistische Phantasma zu versinnbildlichen, wird oft das Bild der Bibliothek herangezogen, etwa in Kurd Laßwitz’ Die Universalbibliothek (1904) oder Jorge Luis Borges’ Die Bibliothek von Babel (1941). Dabei wird auch der Gedanke vermittelt, dass sich selbst noch das persönlichste Narrativ durch eine ewige Kombinatorik generieren ließe, oder, wie Borges schreibt: „Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.“
Die Literaturwissenschaft wird heute auf einmal damit konfrontiert, dass der seit Jahrzehnten proklamierte „Tod des Autors“ wirklich stattfindet und sich Fragen nach Unmittelbarkeit, Emphase, Stil, Stimme ohne schreibendes Ich in neuer Radikalität stellen. Wäre hier von einem Verlust zu sprechen oder gar von einem Gewinn, wenn die Maschinen eben aus dem Internet lernen und sich gewissermaßen als kollektiver Gefühlshaushalt der (zumindest ins Internet tippenden) Menschheit verstehen – ähnlich wie der Schreiber bei Barthes, der ja auch nur eine Verdichtung intertextueller Ströme sein soll?
III.
Der Solutionismus kann in eine andere Traditionslinie eingeordnet werden, nämlich die eines Erfindungs- und Detektionsreichtums, der eng mit dem Konzeptbegriff verbunden ist. Spätestens seit der Renaissance ist mit der Vorstellung einer planerischen Kreativität auch mitgedacht, diese in Entwürfen und Skizzen zu fassen, um dann eine geistige Vorstellung in einem Kunstwerk zu manifestieren (disegno). Das ‚Konzept‘ steht zum einen für das ‚Zusammengefasste‘, den Begriff, als auch für das ‚Zusammengekommene‘, das concetto, das ursprünglich noch einen manieristischen Witz meinte, eben ein Produkt der Kombinatorik.
Dass sich daran aber auch eine ganze Skizzenkunde anschließen konnte, hat damit zu tun, dass gewisse Projekte bekannt gemacht werden mussten, weil sie sich eben nicht von nur einer Person umsetzen ließen. Womit man spätestens zu den „Concepten“ und „Projecten“ im Barock kommt, also Vorhaben im Rahmen eines sich etablierenden Fortschrittsdenkens. Als beispielhaft kann Johann Joachim Bechers Närrische Weisheit und weise Narrheit (1682) gelten, ein 102 Projekte versammelndes Buch, in dem er 51 Projekte vorstellt, die scheiterten, obwohl sie gut geplant klangen und 51 verwegene Ideen, die sich in die Realität umsetzen ließen.
Für den Aufschwung dieser Vorhaben waren verschiedene Gründe ausschlaggebend, etwa die wissenschaftliche Methode und technologische Errungenschaften, der Frühkolonialismus und staatliche Konkurrenz. Für die Ideengeber der weisen Narrheiten, die sich als unumsetzbare ‚Spinnereien‘ herausstellten, wurde dann abwertend das Wort des „Projektemachers“ verwendet, das noch lange fortwirkte. Unter dem Eindruck von Formalisierungsbemühungen, die etwa in wissenschaftlichen Akademien institutionalisiert wurden, die eine objektive Überprüfbarkeit von Projektvorstellungen ermöglichen sollten, gewann das ‚Projekt’ als Arbeitsorganisationseinheit immer mehr an Ansehen.
Während einerseits dahinter der Gedanke an die systematische Bewältigung von Problemen und die Standardisierung von Techniken stand, bot die Vernunft auch eine Universalsprache, die zur Lösung solcher Probleme beitragen sollte: Kant, Fichte und Herder meinten etwa, dass gute Pläne zu schreiben ausreiche, weil man die Umsetzung dann abtreten könne (Spoerhase 2018, S. 482). Dies hat sich heutzutage insofern geändert, als etwa universitäre Drittmittel an einzelne Menschen gebunden sind, aber im Großen und Ganzen sind auch wir mit einer sehr formelhaften Antragsstellung konfrontiert, die in alle Lebensbereichen Einzug gehalten hat (etwa zur Beantragung von Subventionen im Job oder im Privatleben) und eine Entgrenzung der Projektarbeit, die herkömmliche Anstellungsverhältnisse ablöst. Und auch, wenn jeder weiß, dass die Umsetzung eines Plans sich immer von dessen Konzeption unterscheiden wird, so geht man doch davon aus, dass zwischen Idee und Realisierung irgendeine Form von Ähnlichkeit besteht und es sich dabei eben nicht um leere Versprechungen handelt.
IV
Doch wieso ist dieser selbst skizzen- und damit zwangsläufig lückenhafte Abriss im Zusammenhang mit KI interessant? Aus zwei Gründen. Erstens wird mit KI-Programmen eine Textsorte aktualisiert, die man heutzutage als „Prompt“ beschreibt und die mit einem anderen Schwerpunkt seit dem Barock als „Konzept“ bezeichnet wurde. Das Prompt ist das Konzept im Befehlston formuliert. Letztlich handelt es sich um identische Texte, wobei dem einen jeweils Verben im Imperativ vorangestellt werden: „Entwerfe: Neu-Hanau in West-Indien“ oder „Plane: Die Donau mit dem Main und Rhein zu vereinigen“ oder „Stelle vor: Rheinischer Wein-Handel“ (um Beispiele von Becher zu nehmen). Und es wird ja bereits darüber gewitzelt, dass die von KI ausgehende Bedrohung für Arbeitende gar nicht so groß sei, weil dafür erst die Auftraggebenden ihre Wünsche und Befehle präzise und realistisch ausdrücken müssten – ein Problem, vor dem schon die ‚Projektemacher‘ angesichts ihrer adligen Auftraggeber standen.
Zweitens gibt es einen Raum des Virtuellen, dessen Erfüllung von jeher aussteht und der gerade deshalb so reizvoll ist, weil das Angekündigte nicht existiert. Für einen bibliophilen oder einfach katalogisierungsfreudigen Geist macht es dabei keinen Unterschied, ob die erwähnten Werke ungeschrieben oder verschollen sind, sie sind versprochen, angekündigt und, solange man nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann (und wie könnte man das?), dass es Exemplare von ihnen (noch) gibt, verborgen. Der niederländischen Gelehrte Theodor ab Almeloveen hat das 1688 mit dem Titel seiner Bibliotheca Promissa et Latens auf den Punkt gebracht. Die Aufklärer und Gelehrtenfreunde Johann Heinrich Lambert und Georg Jonathan von Holland ersonnen in einem Briefwechsel aus dem Jahr 1768 die Idee, ein Journal zu schreiben mit Rezensionen von Büchern, die es geben sollte, Hans Blumenberg berichtet davon (Blumenberg 1975, S. 614).
Solche fiktiven Bücherkataloge gibt es zuhauf: von François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel (1532) bis zu Roberto Bolaños Die Naziliteratur in Amerika (1999). Und es finden sich zahlreiche Publikationen, die eben genau dies aufzählen: Bücher, die verborgen sind, weil sie entweder versprochen und nie realisiert wurden oder weil sie verschollen bzw. vernichtet sind. Die Lücken der Latenz versuchen Bibliotheksphantasien auszufüllen. In ihnen wird erfasst, was in normalen Bibliotheken fehlt: weil kein Geld da ist, weil es zerstört wurde, weil es nie verfasst wurde, weil es Unsinn ist. Und dies gilt für alle Vorhaben, egal ob Sachbücher, philosophische Traktate oder Romane, auch wenn diese unterschiedliche Erwartungshaltungen hervorrufen.
So zählen, ich wähle wirklich nur einen kleinen Teil der Beispiele aus, Henri Lefebvre in Missing Pieces (2014 [2004]) ebenso wie Annette Pehnt, Friedemann Holder und Michael Staiger in Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher (2014) katalogartig das Fehlende auf, wobei Lefebvre noch weitergeht: Er erwähnt nicht nur „La Confusa, a comedy by Miguel de Cervantes“, also ein geplantes Buch, sondern auch „The contents of a telephone conversation between Stalin and Pasternak after the arrest of Osip Mandelstam“. Damit rückt er das fehlende Buch in die Nähe der Geheimgeschichte und hebt damit in ihm das Anekdotische hervor. ‚Anekdoton‘ ist etymologisch das ‚Nicht-Veröffentlichte‘ und (absichtlich) Unterschlagene. Dieser anekdotische Charakter des ungeschriebenen Textes gibt ihm einen subversiven Charakter, die Möglichkeit einer geschichtlichen Revision oder Neuentwicklung.
Rick Gekoski erzählt in Lost, Stolen or Shredded (2013) Geschichten zum Bücherverlust (Judith Schalansky weitet dies in Verzeichnis einiger Verluste, 2018, noch aus), während Stuart Kellys The Book of Lost Books (2010) das Verlorene als Appetitanreger nutzt, um überhaupt Schreibende, ihre Theorien und ihre Œuvres vorzustellen. Und Andreas Urs Sommer unterstellt in seinem Lexikon der imaginären philosophischen Werke (2012) erfundene Texte realen Philosophen, etwa Averroes den Kommentar über das Kommentarschreiben.
Damit sind zwei Spielarten der latenten Bücher erwähnt: der fiktive Titel in der Literatur und der in Paratexten erwähnte Titel. Es gibt mindestens noch zwei Praktiken des Umgangs mit dem Latenten: Zum einen das Nicht-Schreiben nach dem Vorbild des ‚Raffaels ohne Hände‘, des genialen Künstlers, dessen großartige Idee für ein Kunstwerk an den Anforderungen der Realität (das Publikum versteht ihn nicht, das Material steht nicht zur Verfügung) verzweifelt.
Und zuletzt gibt es auch noch eine vierte Strategie, nämlich die Konzeptkunst bzw. Konzeptliteratur, wie man sie etwa bei Edouard Levé findet, der in seinem Buch Œuvres mehrere geplante und unrealisierte Projekte aufzählte, etwa: „Ein Buch beschreibt Werke, zu denen der Autor die Idee hatte, die aber nicht verwirklicht hat.“ Als Prompt würde es lauten: „Schreibe: Ein Buch beschreibt Werke, zu denen der Autor die Idee hatte, die aber nicht verwirklicht hat.“ (Das hat Levé selbst umgesetzt und man kann bei ChatGPT natürlich jeden Namen für „der Autor“ eingeben, wobei einige Projekte dann auch halluziniert sein können.)
Dabei ruft die Konzeptkunst immer mindestens drei Fragen auf: Erstens, ob die Idee ihre Realisierung benötigt oder an sich schon kunstwürdig ist; zweitens, ob die Ausführung unendlich variierbar und damit letztlich kontingent ist; und drittens, ob sich Literatur/Kunst auf eine Formel, ein Konzept, einen zentralen Gedanken, der sich als Befehl ausdrücken lässt, reduzieren lässt (selbst wenn es gleichzeitig mehrere sich widersprechende Befehle gibt wie etwa in der Moderne).
V.
Nun besteht das Potential von ChatGPT darin, all diese Latenzen zu löschen. Denn es ist ja nicht so, dass es immer bei künstlerischen Konzepten blieb, es gab anpackende Allographen, die Texte mehr oder weniger gelungen in die Realität holten, etwa Klaus Deterding, der den Feind von E.T.A. Hoffmann ‚vollendete’, oder Raphael Graefe, der Kleists Geschichte meiner Seele ‚herausgab‘. Und auch die Unternehmungen von Klaus Scherübel, der Le Livre von Stephan Mallarmé als Buch herausbrachte, oder Thomas Manns Joseph-Tetralogie, die auf eine kurze Bemerkung Goethes, man solle die Joseph-Episode aus der Bibel ausschreiben, zurückgeht, kann man darunter fassen.
Und daraus ließen sich gewisse Folgerungen ziehen, denn dasjenige, was die latenten Werke so herausragend macht, ist das, was Benjamin das „Auratische“ nannte, eine undefinierbare Wertigkeit, die durch verschiedene Zuschreibungen an das Werk herangetragen wird. Hieraus lassen sich fünf Folgerungen ziehen:
Erstens erleben wir damit in der Diskussion um KI-Kunstwerke auch eine Neuauflage der Dichotomie von Kunstwerk und technischer Reproduzierbarkeit, also Massenware. Die KI kann zwar die Lücken der Latenz füllen, aber eben nur mit Erwartbarem, mit Wahrscheinlichem. Auch wenn sie ein Kunstwerk (etwa Beethovens Zehnte) fertigstellt und dies sehr wahrscheinlich so macht, wie es auch vom realen Künstler getan worden wäre, so ‚fühlt‘ es sich dennoch anders an. Also bestärkt die Reproduktion nur ex negativo die Erwünschtheit von Autorschaft und macht damit sichtbar, dass der Diskurs über Kunstwerke in Kategorien verharrt, die von der Realität schon lange revidiert wurden.
Zweitens wird die Frage der Bewertung von Allographien virulent, denn Listen von Ungeschriebenem müssen ja satisfaktionsfähig sein und d.h. sie müssen überhaupt erst einmal auf bereits Vorhandenem fußen. Insofern sind sie konservativ, weil sie nur den Kanon nacherzählen. (In der Fan-Fiction heißt die Vorlage auch „Canon“.) Das subversiv-anekdotische Potential des Angekündigten kommt ebenso wenig vor wie Texte von Personen, die eben aufgrund von Ausschlussmechanismen nie Teil des Kanons waren. Dies erklärt auch, wieso die Kataloge des Ungeschriebenen so wenige Frauen beinhalten.
Drittens kann man sagen, dass Allographien umso ästhetisch wertvoller werden, je weniger sie Kopie oder episierte Wissensagglomerate sind und vielmehr einen eigensinnigen Zugang wählen, also je mehr sie sich von dem Konzept emanzipieren. KI enttäuscht uns nicht und das ist ein ästhetisches Defizit. Damit wird aber so etwas wie eine ‚Handschrift‘ gesucht, die sich vor allem in Fehlern ausdrückt. In Miami Punk von Juan S. Guse ist es noch so, dass KI-generierte Romane eine Fanbase entwickeln, weil sie fehlerhaft sind. Dieses ‚Gütesiegel‘ des Schlechten findet man in KI-Produkten wie der Kunst von Roope Rainisto, der Fotografien erstellen lässt, aber nur solche auswählt, die offensichtlich fehlerhaft sind. Diese Generierungsfehler nehmen dabei die Positionen einer Freud’schen Fehlleistung auf digitaler Ebene ein, die über die Informations- und Bildwelten, mit denen das Programm gespeist wird (und damit wiederum über das, was da überhaupt erst hochgeladen und zur Verfügung gestellt wird) Auskunft geben. In einem nächsten Schritt ließe sich nun vorstellen, dieses Verhältnis umzudrehen und defizitäre menschliche Autorschaft besonders auszuzeichnen. Dies wäre eine Möglichkeit, ein neues Kriterium für Literatur, nämlich „guaranteed human-made“ zu sein, zu markieren. Über diesen Zusammenhang hat letztens Hannes Bajohr nachgedacht (Bajohr 2023).
Viertens zeigt das Beispiel von Rainisto, dass der kreative Prozess sich eben vom Verfassen von Text entfernt und eher in der Erstellung von Arrangements liegt, in der Kombinatorik und Concetti-Kunst und dann letztlich Auswahl des Hergestellten, die gewissermaßen die Verschiebung des Arbeitslebens von Produktions- zu Geistesarbeit noch radikalisiert. Annette Gilbert hat darauf hingewiesen, dass spätestens seit der Postmoderne Autorschaft eben weiter gefasst werden muss als bloßes Schreiben (Gilbert 2018, S. 415).
Und wenn fünftens die Arbeit nur noch im Konzeptionieren und Lektorieren liegt und sich menschliche Produktion irgendwann nur noch in Fehlern artikulieren kann, dann wäre gewissermaßen höchster Ausdruck menschlicher Autorschaft, wenn man an diesem Paradigma festhalten möchte, entweder der Dilettantismus oder die Verweigerung ‑ zumindest bis zur Entwicklung einer Bartleby-KI, die sich selbst als Gegenentwurf zu allen solutionistischen und abundistischen Phantasmen verstehen würde und damit die Mensch-Maschine-Schriftsteller-Hybride final zu ihrem Recht kommen lässt.
Literatur
Bajohr, Hannes: Ist das auch garantiert handgeschrieben? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.01.2023.
Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a.M. 1975.
Gilbert, Annette: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren. Paderborn 2018.
Spoerhase, Carlos: Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830. Göttingen 2018.