[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 48-54]
Spätestens als Carrie Bradshaw bei der Erstausstrahlung von »And just like that« im Dezember 2021 in einer beißenden Kombination ihrer alten blauen Hangisi-Manolos mit einer tanngrün schimmernden Hose zu sehen war, hätte man gewarnt sein müssen: Angesagt war für 2022 alles mit allem, und von allem zu viel. Man kaufe etwas Neues in einem der zahlreichen Retro-Register und recycle noch etwas Altes in kräftigen Farben dazu, und wenn die Farben, Muster und Stoffe nicht passen, macht das nichts, solange noch irgendwo Rüschen, Bommel und Fransen zu finden sind. Das Recycling verweist im Sinne von Umweltbewusstsein auf den Zeitgeist. Alles andere lässt sich als post-pandemischer Exzess erklären. Natürlich wurde die Post-Pandemie nur qua Willensentscheidung proklamiert, während alle vernünftigen Menschen auf die nächsten Wellen warteten. Aber die Mode hatte sich 2020/21 mit Oversize-Kleidung, Jogginghosen und herausgewachsenen Ponys tapfer auf den Einsiedel-Look eingestellt und wollte dem Übermut freien Lauf lassen. Auf den großen Schauen, auf YouTube und auf Instagram war ab Januar 2022 Opulenz und Maximalismus angesagt, und die günstigen Modehäuser haben natürlich nachgezogen. Das Sammelsurium der Stile und Eindrücke lässt sich in seiner Kontingenz am besten alphabetisch präsentieren. Die Ordnung der Buchstaben ist unerbittlich: Während unter B harte Selektionsentscheidungen fallen mussten, bedurfte es bei I einer gewissen Fantasie, und dass Y dieses Jahr kein Kopfzerbrechen bereitet, haben wir einem besonderen Modelapsus zu verdanken.
Animal Print: Es lässt sich nicht vermeiden, darauf hinzuweisen, dass dieser Look vom Trend zum Klassiker avanciert ist. Ich wage zu prognostizieren, dass er nie wieder peinlich werden wird. Das heißt, man kann sich ruhig sogar bei den Basics mit Zebra und Leo eindecken, und sie dieses Jahr vor allem mit allem kombinieren.
Bauchfrei: Vermutlich hat jede Frau in ihren Mittzwanzigern irgendwann mal beschlossen, dass dies der letzte Sommer mit brauchfreien Oberteilen sein wird. Wir Mittvierzigerinnen könnten es wie unsere gealterten »Sex and the City«-Frauen machen und High Heels für uns reklamieren, während wir flache Schuhe und Crop-Tops der jüngeren Generation überlassen. Oder wir lassen unsere Rückenleiden über die Schuhwahl bestimmen und entblößen dafür mutig den Bauch. Oder wir sprechen mal darüber, warum dies eigentlich nie Männermode war.
Cut-Outs: An jeder Ecke und jedem Ende wird durch verschiedenförmige Löcher an Stoff gespart. Auch so bekommt man einen freien Bauch (gerne seitlich), außerdem punktuell ausgeschnittene Schulterspitzen und freie Sicht auf das Brustbein. Je nach Anordnung der Cut-Outs (das habe ich aus den 90ern in Erinnerung) kann man schon mal in den falschen Ausschnitt schlüpfen, und man braucht mehrere Anläufe, um sich zu kleiden.
Dopamine Style: Dies bezeichnet eher das gesamte Paradigma, dessen Elemente hier unter anderen Buchstaben, z.B. Q, auftauchen. Laut Modemagazinen soll dieser Stil durch seine Knalligkeit und Überschwänglichkeit einfach glücklich machen, aber dann könnte man es ja auch Serotonine Style nennen. Gemeint ist, dass man die Zeit der sensorischen Deprivation, ja der Depression, in der Isolation verdrängen möchte und dass sich dies äußerlich zeigen soll. Aber letztlich heißt es Dopamine und eben nicht Serotonine Style, weil Dopamin neben Adrenalin auch ein Stresshormon ist, das Herzrasen und Kopfschmerzen, im Extremfall Psychosen und Schizophrenie auslösen kann. Man kann sich an dem Stil aber ruhig beteiligen, weil die Nebenwirkungen eher bei den Betrachtenden als den Tragenden zu verzeichnen sind.
Ethno-Chic: Dem Ethno-Kitsch sind die vielfach zu verzeichnenden Fransen teilweise zu verdanken. Vor allem manifestieren sich hierbei zwei der vielen Retro-Trends; man fühlt sich an Hippie- und Goa-Looks erinnert, also die Sünden unserer Eltern und denjenigen unserer Peers, mit denen wir in den 90ern den Kontakt abgebrochen haben.
Fransen: Fransen meint hier nicht nur Fransen, sondern Volants, Bommel, Puschel, Rüschen, Aufnäher, Schnürungen und Raffungen aller Art. Wenn nicht Bildstörungen auf den Stoffen aufgebracht sind, besteht der Look vielleicht von vorneherein nur aus gereihten und verschlungenen Bändern. In jedem Fall wird ein fragmentierter Eindruck evoziert, quasi das Gegenteil des Claire-Underwood-Stils. Im Grunde macht man damit eine Not zur Tugend, weil bei normalen Menschen leider auch ein Kemal-Harris-Kleid sofort zerknittert und verrutscht. Man kann es sich ja nicht auf den Leib bügeln. Vermutlich wurden all diese Fransen und Schnüren eingeführt, um auch uns Zerknautschten ein gutes Gefühl zu vermitteln. Gaultier haut hierbei in der Frühjahr-Sommer-Kollektion besonders in die Vollen. Nun möchte ich keine dieser peinlichen Ist-das-Kunst-Debatten anstoßen, wie man sie aus der Malerei kennt, aber eigentlich kann den Look jede*r kreieren, indem er*sie ein paar Tüllfetzen und Schnüre um sich wickelt und aneinander tackert. Ernster gesprochen, muss man sagen, dass Gaultiers Kollektion im Detail sogar besonderes kunstfertig, handwerklich komplex und überlegt aussieht, aber dennoch entsteht im Wesentlichen ein unaufgeräumter Eindruck.
Glitzer, Glow und Gloss: An dieser Stelle ist das Make-up gemeint, das sich in den letzten Jahren aufgrund von YouTube-Tutorials und Instagram-Influencerïnnen von französischen und amerikanischen Stilen gelöst hat, die auf Mattierung und Konturierung setzen, um sich asiatischen, vornehmlich koreanischen Vorbildern zuzuwenden. Zwar ist Glow auch ein Element amerikanischer Make-ups, aber im Asiatischen glitzert und glänzt das Gesicht von Auge bis Kinn weitaus deutlicher, während es gleichzeitig weicher und runder gezeichnet wird. Aufs Contouring würde ich nicht verzichten wollen, aber ansonsten schlage ich allen Leserïnnen, die es noch nicht kennen, ein Tutorial von PONY Syndrome auf YouTube vor (z.B. Rosy-Glitter-Make-up). Einige der einschlägigen Videos sind zwar schon etwas älter, bei uns ist der Schminkstil auf breiterer Ebene aber noch nicht allzu lange verbreitet.
Haremshose: Sie bildet oftmals mit entsprechenden Farben und Mustern einen Teil des Ethno-Looks. Im Grunde handelt es sich um eine Variation der Jogginghose aus dem Vorjahr, die auch im Sommer 2022 subtil sagt: Vergessen ist eben nicht vorbei. Wir werden sie noch brauchen, die gemütlichen Schlabberhosen für den Pandemie-bedingten Rückzug.
It-Bags: Nun sind It-Bags wirklich immer Trend. Das zeichnet das unbestimmte ›It‹ im It-Bag aus, aber ohne Taschen erwähnt zu haben, wäre ein Mode-ABC nicht komplett. Man kann It dieses Jahr durch Curvy oder Mini ersetzen. Oder in eine ganz andere Richtung denken: Zwar gewöhnungsbedürftig, aber doch originell ist die Burrow-22 von Off White, deren Einkerbungen Meteoritenlöcher simulieren sollen. Dadurch passen sie zu Moonboots und können auch auf »Star Trek«-Conventions getragen werden. Wo doch homöopathisches Denken in manchen Kreisen auch gerade so in Mode ist, kann man sich nach dem ›Similia similibus curentur‹-Prinzip auch einbilden, ihr Tragen schütze vor Tod durch Meteoriteneinschlag. Da einen dieser Tod sehr wahrscheinlich auch tatsächlich nicht ereilt, wäre wieder ein ›Beweis‹ erbracht: Homöopathie wirkt! ›Gleiches mit gleichem‹ ist dagegen tatsächlich ein gutes ästhetisches Prinzip für all diejenigen, die bei der diesjährigen Reizüberflutung nicht mitmachen wollen.
Jeans: Die Jeans wird uns nie wieder verlassen, und leider ist sie dieses Jahr häufig in ihrer jeansigsten Variante zu sehen: hell- bis mittelblau.
Kunstpelz: Wann hat man sonst das Glück, dass ethischer und ästhetischer Imperativ in eins fallen? Seit Jahren glänzt nicht mehr nur Stella McCartney mit Faux Furs, sondern zahlreiche Designerïnnen sowie günstige Modelabels haben nachgezogen. Leider ist die Qualität teilweise mittlerweile so gut, dass man kritisch nachfragen muss, ob man da gerade auch wirklich falschen Pelz anprobiert. Zum Glück sind manche Faux Furs teurer als echte Pelze, die mittlerweile zur Massenware ›Made in China‹ heruntergekommen sind, sodass, wer das will, auf Distinktion nicht verzichten muss: Man kann die Echt-Pelz-Trägerïnnen nun wegsnobben, statt sie zu belehren. Da es sich hierbei um mehr als einen Trend handelt, passt er im Grunde nicht in ein aktuelles Mode-ABC, aber es sollte vermieden werden, dass K mit Klumpfüßen gefüllt wird, denn das gäbe die Damenschuhmode aktuell und auch schon seit ein oder zwei Jahren durchaus her.
Layering: Als sei es der Fransen und Bommel an Kleidungsstücken nicht genug, trägt man sie nun wieder sichtbar in Lagen, um das unruhige Bild zu intensivieren.
Mules: Da sich Mules nur dadurch definieren, dass sie hinten offen sind, gibt es großen Spielraum für Variationen aller Art: flache und heeled Mules, mit und ohne Peep Toe… Per se kann man mit ihnen weder etwas falsch noch richtig machen, aber ich gebe zu bedenken, dass es sich bei dem Begriff ›Mules‹ eigentlich um ein Synonym für Pantoletten handelt.
Negligé Tops – auch Lingerie Tops genannt: Neben der Jogginghose hat es in den letzten Jahren zunehmend die Unterwäsche auf die Straße geschafft, die bisweilen züchtiger und tragbarer aussieht, als man denken mag.
Oversize: Für all diejenigen, die im Zeichen der Solidarität die letzten Jahre auf dem Sofa verbracht haben, gibt es noch einmal eine Gnadenfrist, bevor man die Schokolade wieder abtrainieren muss, falls man überhaupt meint zu müssen.
Puffärmel: Als Mischung aus Cottage-Core-Romantik und allgemeiner Übertreibung haben gepuffte Ärmel Eingang in unseren Alltag gefunden. Puffärmel sind riskant, weil sie nie mittelmäßig aussehen, aber immerhin hat man eine 50:50-Chance auf einen großartigen Look.
Quietschfarben: Zwar sieht man auch Gelb, aber allen voran geht Pink. Die Valentino-Fall/Winter-Show 22/23 ist eine einzige Orgie in Pink. Man kann die Outfits nicht erkennen, weil Boden und Hintergrund ebenfalls knallrosa sind. So kann das Konzept der Tarnfarben eben auch funktionieren. Warum sollte man sich ästhetisch der Umwelt anpassen, wenn man diese in weiten Teilen künstlich gestalten kann? Man darf Pink, wie bei der Red Carpet Show 2022 von Balenciaga, gerne auch mit unpassenden Farben wie Rot kombinieren. Wie gesagt: Dopamine Style. Wenn man angesichts der Balmain-Pre-Fall-2022-Show für einen Moment denkt, man sei aus Versehen bei Versace gelandet, sagt das eigentlich alles über den aktuellen Hang zu Farben in der Haute Couture.
Retro und Recycling: Wiederum eher ein Oberbegriff, denn nur auf den ersten Blick gibt es eine Tendenz zu den 70ern, eigentlich ist aus jedem der letzten Jahrzehnte seit den 60ern etwas dabei. Das heißt, bemerkenswert ist, dass nun einfach alles wieder angesagt ist. Eher neu ist aber, dass man die Kleider nicht neu kauft, sondern am besten aus den entsprechenden Zeiten aus dem Kleiderschrank kramt. Ob die alten Klamotten nach der Pandemie noch passen, ist allerdings eine andere Frage, aber Schneiderïnnen sind auch ziemlich gut im Auslassen von Nähten, und zumindest eine Kleidergröße gibt eigentlich jede Naht her.
Schulterpolster: Schulterpolster finden sich in der ersten Jahreshälfte 2022 noch nicht allzu viele auf der Straße, aber es bleibt zu hoffen, dass sich die Haute Couture in dieser Hinsicht durchsetzen wird. Für Balmain sind sie nichts Neues, sondern Zeichen der Selbsttreue. Aber nicht nur bei diesem Label drückt sich die Frauenpower dieses Jahr wie einst in den 80ern in der Schulterbreite aus. Man könnte glatt meinen, Frauen hätten die Lasten der Pandemie gestemmt. 😉 Nun ist es aber nicht Balmain, sondern D & G, die die Schulterpolster in der Fall/Winter-Show 22/23 mal mit und mal ohne Puffärmel ins Groteske steigern, und überhaupt springen für die zweite Jahreshälfte auffallend viele Modehäuser auf den Trend auf, darum denke ich, dass wir davon noch länger etwas haben werden. Schulterpolsterjacken, -blazer und -mäntel wären jedenfalls meine Empfehlung für eine längerfristige Investition.
Tiere: Im Gegensatz zu einigen der hier aufgeführten Trends wurde bislang in den Fashion-Medien weniger hervorgehoben, dass eine forcierte Kindlichkeit Eingang in die Modewelt gefunden hat. Mit Tieren soll hier nicht einmal mehr auf Animal Prints verwiesen werden, sondern darauf, dass in der Moschino-Haute-Couture-Kollektion-Spring/Summer 2022 Stofftiere aus den Kleidern wachsen: Giraffen- und Ponyköpfe, Hasenohren; und den Arm eines Kleides bildet vorne der Schwanz eines Eichhörnchens und hinten der Rüssel eines Elefanten. Dies ist aber nur der Kulminationspunkt der Show, die in eine heile Kinderwelt (aus den 50er und 60er Jahren) entführt. Sunshine, Lollipops… Wir sehen in der Show zwar viele Farben, aber sie sind zumeist ostentativ zurückgenommen und wenig aggressiv, pastellig mit viel Rosa und Blau, wie man sich kitschige Kinderzimmereinrichtungen vorstellt. Die Kleider sind mit rundlichen, bunten Tieren bedruckt, haben bunte, große schaf-, kuh- und tigerförmige Knöpfe; man trägt Strandkörbchen-artige Taschen oder als solche gleich ein ausgehöhltes flauschiges Schaf. Auch wenn das Ganze am Ende gebrochen wirkt und surreal-substanzbasiert schrill aussieht, wird hier doch hyperbolisch inszeniert, was bei anderen Labels in der Latenz schlummert: Die Sehnsucht nach der heilen Welt, die nicht nach vorne weist. In einem kulturkritischen Gestus suggeriert Moschino, dass man sie in der Zukunft nicht finden kann und man sich lieber an unschuldige Kindheit und 50er/60er-Jahre-Stimmung erinnert, als die Folgen des eigenen Handelns (fürs Klima) noch in weiter Ferne waren.
UGGs: Bei der Nennung handelt es sich um die Verlegenheit, das U füllen zu müssen, würde ich doch viel lieber darauf verweisen, dass Moonboots (vor allem auch der Marke Moon Boot) Hochkonjunktur haben, aber das trifft ebenfalls auf die UGGs-Winterschuhe zu, die es nun auch im Moonboot-Design gibt. Jedoch waren UGGs ja eigentlich nie schön, und sie sind alles andere als vegan, sodass man vielleicht besser auf tierfreundlichere Marken zurückgreifen sollte.
V-Ausschnitt: Nein, hier drückt sich keine V-Verlegenheit aus, die mich diesen Evergreen erwähnen lässt, sondern tatsächlich sind V-Ausschnitte bei Blusen, Kleidern und Strickjacken gerade häufiger als üblich zu sehen und bilden den unauffälligsten Trend, den das Jahr 2022 zu bieten hat.
Wolf Cut: Wolf Cut ist eigentlich nur eine schmeichelhafte Umbenennung von Vokuhila, von dem man nun wirklich dachte, er würde nie wieder kommen. Aber genauso, wie man von dieser Frisur in der Erinnerung zunehmend abgestoßen war, bis sie zum Sinnbild modischer Verfehlungen wurde, kann man sich auch aktuell recht schnell wieder hineinsehen. Während wir uns jahrzehntelang gefragt haben, wer je Vokuhilas tragen konnte, werden wir uns bald fragen, warum man je Wolf Cuts geschmäht hat.
XXL-Schals: Man trägt sie in groben Mustern und auffälligen Farben über dem Mantel, was Gemütlichkeit und Würde ganz trefflich miteinander verbindet.
Y2K: Dieser Look macht das vorliegende Alphabet erst möglich. Ich hätte mich an ein solches nicht herangetraut, wenn das Y aufgrund dieses auffälligen Trends nicht von vorneherein gegeben gewesen wäre. Y2K steht für ›Year 2 Kilo‹, also das Jahr 2000 und vereint alles, was in dieser Zeit angesagt war. Und das war der Mix aus allem, was schrill und over the top ist. Wie beim Dopamine Style subsumiert der Begriff viele der genannten Modeerscheinungen, z.B. bauchfrei mit Cut-Outs in einem Quietschfarbenmix-Spaghettiträger-Oberteil zusammen mit zwei Ketten integriert in einen Lagenlook, bei dem die anderen Elemente ganz viele Schnürungen aufweisen oder überhaupt nur von Schnüren zusammengehalten werden. Prägnant inszeniert auf der Spring/Summer-Show 2022 von Dolce & Gabbana. Im Gegensatz zu den kindlichen Elementen, die rückwärts weisen, soll mit Y2K die Aufbruchsstimmung ins neue Jahrtausend wieder aufleben, und vielleicht werden die aktuellen Zwanziger ja doch noch Roaring, auch wenn gerade wenig darauf hindeutet und die Mode hier einen durchaus sympathischen Akt trotziger Verneinung der Realität darstellt. Das darf sie auch. Kontrafaktisch lebt es sich tatsächlich besser in ästhetischer als in epistemologischer oder ethischer Hinsicht, und so begrüße ich Y2K (vielleicht mit einem kleinen spitzen Grinsen).
Zweierpack: Man kann ein Schmuckstück als Einzelteil inszenieren, aber im Moment kommt es wirklich selten allein. Man trägt Ringe, Armbänder, Ketten und Ohrringe und nimmt von jeder Sorte mindestens zwei, z.B. auf Instagram zu sehen bei Chiara Ferragni, Negin Mirsalehi, Lindsey Holland sowie Lisa und Lena Mantler usw. Das indiziert nicht nur Überfluss, sondern einmal mehr Kindlichkeit, vor allem weil die Schmuckstücke zumeist klein sind. Zumindest wer die frühe Jugend in den 90ern verbracht hat, denkt daran, dass wir viele Ohrlöcher hatten, dass sich viele Ketten an unserem Hals ineinander verhakt hatten und dass wir viele billige Ringe an fast allen Fingern trugen und dabei meistens grün wurden, weil der Schmuck nicht echt war. Der Junge-Mädchen-Look wird nun wieder von den jetzt erwachsenen Frauen getragen.
Die je unterschiedlich zum Ausdruck gebrachte Aufbruchsstimmung im Retro-Modus bezieht sich nicht nur, aber weitgehend auf die Sommermode. Danach ist nämlich eine ziemliche Zäsur zu verzeichnen. Was gemäß der großen Modehäuser für den Winter angekündigt wird, ergibt ein völlig anderes Bild als das soeben Beschriebene, so als folge die Mode in der Umkehrung einer gängigen Seuchenmaßnahme der Dance- und Hammer-Methode. Nach dem Überschwang des Sommers sind im Winter (außer bei Valentino) wieder schwarz, weiß und gedeckte Farben gefragt, und es wird eine ernstere Stimmung evoziert. Zwar gibt es noch knallige Farbakzente, aber selbst Versace kommt vergleichsweise wenig barock und bunt daher! Vielleicht erwartet man, dass der Spaß im Winter vorläufig wieder vorüber sein wird? Dolce & Gabbana jedenfalls liefern mit ihren Sonnenbrillen die Face Shields zu den Masken gleich mit. Auf der Fall/Winter-Show 22/23 sind die Models allerdings unten ohne und so ergibt sich eine Inversion der in letzter Zeit eingeübten Gesichtshermeneutik. Wir müssen rätseln, was der Mund allein über die Stimmung eines Menschen sagt.