Social-Media-Trend
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 21-27]
Unter Hashtags wie #cottagecore, #cottagecoreaesthetics oder #the_cottagecore, die Millionen von Einträgen und Hunderttausende von Follower:innen haben, tauschen sich aktuell vorwiegend junge Menschen nicht nur auf Instagram aus. Sie sind offensichtlich der televisuellen Kommunikation, der eigenen vier Wände, überhaupt der Distanz, Technisierung, Kühle und Künstlichkeit überdrüssig geworden. Cottagecore ist eine weitere ›Zurück zur Natur‹-Bewegung, die sich für die Authentizität, Idyllik und Romantik des Landlebens – im 19. Jahrhundert – begeistert. Zutaten sollen natürlich, Produkte handgemacht und deren Fertigung eine entspannende Quality Time sein. Im Cottagecore manifestieren sich kulturkritische Fluchtfantasien wider Entfremdung durch Verstädterung, Digitalisierung, Arbeitsteilung, Massenfabrikation und hin und wieder auch Kapitalismus. Cottagecore ist älter als Covid, hat aber durch die Pandemie einen bedeutenden Schub erfahren. Laut Google Trends steigt die Verwendung des Begriffs ›Cottagecore‹ ab Frühjahr 2020 sprunghaft an.
Da mag nun der eine oder die andere einen kleinen Widerspruch wittern. Zwar gibt es ein lebensweltliches Substrat, d.h. die Anhänger:innen zieht es tatsächlich in die Natur, sie hören bestimmte Musik, z.B. Singer-Songwriter-Sachen wie »Willow« von Taylor Swift und tragen Kleidung in dezenten Farben, oft fließenden Formen und natürlichen Materialien im romantisierten Landhausstil, aber dies wird selbstverständlich für Bilder inszeniert, die in Sozialen Medien kursieren. Das Phänomen entstammt nicht nur dem Netz, sondern findet seinen Weg immer wieder dorthin zurück. So wird beispielsweise in einem Cottagecore-Gebäck-Video für ein Abo des Kanals Erline’s Cottage unter der Aufnahme der Schokoladenfüllung eines Kekses mit der Zeile »Hope you will enjoy our content« geworben (29.11.20). Analoger und digitaler Content werden in einem kleinen Scherz verschränkt, der die Reflexivität der eigenen Medialität bekundet. Für mich ist es beruhigend zu sehen, dass die jungen Leute die Anbindung an die Zivilisation noch nicht völlig verloren haben.
Eine Anbindung zum Landleben haben die bildlichen Inszenierungen ohnehin nicht, auch wenn sie auf einer Wiese oder im Wald aufgenommen wurden. ›Echte‹ Landkinder wissen, dass es auf dem Land ziemlich brutal zugeht. Während in den Cottagecore-Videos Kälbchen herumspringen, werden diese auf dem Land als Nutztiere betrachtet, deren Wohlergehen in keiner Weise im Vordergrund steht. Auch Hunde und Katzen sind auf dem Land bei Weitem nicht für alle Menschen die Familienmitglieder, die sie für jene sensiblen Städter:innen üblicherweise sind, die sich vermutlich hinter dem Cottagecore-Phänomen verbergen.
Das wissen die Cottagecorer:innen allerdings auch, denen es schließlich um eine Stilisierung und Ästhetisierung des Landlebens bestellt ist. Eine wichtige Variante firmiert als Dark Academia; sie stellt sich ausdrücklich in die Tradition von Schauerromantik und Décadence/Ästhetizismus und weist Parallelen zu Gothic auf. Wie sehr Natürlichkeit verkünstelt und verfeinert werden kann, ist diesem Phänomen bewusst, wobei vielleicht auch deutlich wird, dass es ohnehin nur eine Dekadenzerscheinung sein kann, zurück zur Natur oder in die Vergangenheit zu wollen.
Cottagecore ist insgesamt ein sehr vielfältiges Phänomen. Für die einen bedeutet es eine Befreiung aus heteronormativen Zwängen, weil sie ganz authentisch sie selbst sein und ihre Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung ausleben dürfen. Für andere sind damit Vorstellungen von einer Re-Essentialisierung von Geschlechtlichkeit verbunden. Nicht wenige Cottagecore-Outfits verstärken Geschlechterklischees und vertiefen Geschlechterunterschiede bei gleichzeitiger Entsexualisierung. Bei manch einem Outfit mit Kopftuch frage ich mich, wie viel – oder wie wenig – eigentlich noch bis zur Ganzkörperverschleierung fehlt. Aber von liberal bis konservativ ist eben alles dabei, solange die Ästhetik stimmt.
Diese Ästhetik wird keineswegs in nennenswertem Ausmaß aus selbstgesponnener Wolle gestrickt. Vielmehr haben große Konzerne sie für sich entdeckt, und man kann sie in Form von Bekleidungsmode käuflich erwerben, z.B. bei H&M. Nun wäre es in der üblichen jugendkulturellen Binnenlogik so, dass die entsprechenden Käufer:innen in der Zuschreibung vielleicht keine ›echten‹ oder ›authentischen‹ Cottagecorer:innen wären, jedoch wird H&M als günstiger Anbieter u.a. auf einem kleinen YouTube-Kanal von Yulia Astrea empfohlen (10.10.20). Majelle preist auf ihrem größeren Kanal z.B. auch eine Haarschleife von Primark an (3.2.21). Usw. usf. Es gibt außerdem Internetanbieter, die sich auf Cottagecore spezialisiert haben, ohne im Geringsten nachhaltige und fair produzierte Mode anzubieten. Dass am Ende die Ästhetik, der Stil und die Wirkung zählen, zeigt auf fast beruhigende Weise, dass es sich bei Cottagecore um eine popkulturelle Mode wie jede andere auch handelt. (Aber Punk hatte natürlich wirklich Substanz!!! Smiley.)
Selbstverständlich haben ebenfalls die großen Designer-Labels Cottagecore mehr oder weniger für sich entdeckt. Chanel zeigt schon seit mehr als einem Jahr einen Hang zum Romantischen, Blumigen, was für sich genommen nicht zwingend Cottagecore ist, aber spätestens wenn in der Spring Summer Show 2021 das letzte Model auf einem weißen Pferd hereingeführt wird, wissen wir Bescheid (YouTube, 26.1.21). Natürlich kann seit »Game of Thrones« vielleicht überall ein weißes Pferd einfach so herumstehen, aber das Video der Show beginnt auch in Schwarz-Weiß von einer etwas weinerlichen Singer-Songwriter-Version von »Be My Baby« musikalisch untermalt mit einer Fokussierung auf ein Model mit Blumenkranz im Haar, besticktem Oberteil und fließendem Kleid. In dem Moment, in dem das Video farbig wird, ertönt flottere elektronische Musik mit Gesang, und man erkennt, dass das Kleid in einem recht knalligen Rot gehalten ist, das zu Cottagecore nicht passt. Durch diesen Übergang wird die natürliche Ästhetik des Cottagecore ostentativ in – künstlichere – Mode transformiert. Der in zweifacher Hinsicht historische Überschreibungsprozess – nämlich vom Landleben im 19. Jahrhundert hin zu seiner Stilisierung im Cottagecore, und vom ›wildromantischen‹, netzwüchsigen Cottagecore hin zu eingehegter, institutionalisierter Mode – drückt sich in der Verwandlung der beiden Bild-Ton-Ästhetiken, im systematischen Spiel mit Natürlichkeits- und Künstlichkeitseffekten aus, und ein und dasselbe Outfit erscheint wie in einem Vexierbild je nach Inszenierungsrahmen unschuldig-natürlich oder modisch-gemacht. Am Ende siegt aber die Cottage-Inszenierung durch die Einführung des Pferdes in Schwarz-Weiß mit erneuten »Be My Baby«-Klängen, und so findet auch das Video nach einem Ausflug in die übliche Laufsteg-Modewelt-Ästhetik wieder zurück zur ›Natur‹. Sind wir am Ende nicht alle Romantiker:innen? Nein, auf Balmain ist und bleibt wie immer Verlass, und auch Chanel wendet sich in der Fall/Winter-21/22-Kollektion vielleicht mehr denn je dem urbanen Lebensgefühl zu.
Pferde als Fetisch hat auch Gucci in seiner Fall/Winter-21/22-Show für sich entdeckt (YouTube, 15.4.21), in der Reitkappen, Nasenringe und Peitschen dominieren, und die Models mit diesen Accessoires auftreten, um einerseits anklingen zu lassen, was Menschen mit Sexualpartner:innen und Pferden manchmal gerne tun, und um andererseits selbst irgendwie in Tiere verwandelt zu werden. Gerahmt ist das durch einen voyeuristischen Blick in ein Schlüsselloch im bordellartig beleuchteten Savoy Club. Der erste Blick hinein liefert eine Idylle, tatsächlich ein eidýllion, also ein kleines Bildchen einer Waldlichtung. Für einen Moment muss man Angst haben, dass die Models beim Eintreten auf einen moosbedeckten Laufsteg stoßen, aber das Gegenteil ist der Fall. In einem kalten, glatten, weißen Raum mit gleißendem Licht und Hunderten von Scheinwerfern findet die Show statt, die in einem mise-en-abyme-Arrangement von Dutzenden von Fotografen abgelichtet wird. Hier reflektiert sich das Prinzip der Fashion Shows samt ihren Medialisierungen selbst. Dann aber – quasi nach der Schau – öffnet sich doch noch eine Tür zur Natur, betreten die Models die Waldlichtung, die zwar Natürlichkeit aus sich herausschreit, in ihrer Farbkontrastgestaltung aber kaum künstlicher sein könnte. D.h. die Szenerie sieht so natürlich aus, wie es Natur eigentlich gar nicht tut. Es galoppieren weiße Pferde ins Bild; es kommt zu (homo-)erotischen Begegnungen der Models, und am Ende schweben alle durch die Luft. Auch hier werden die Inszenierung von Künstlichkeit und die von Natürlichkeit wechselseitig aneinander gebrochen, und auch hier findet das Video am Ende zurück zur ›Natur‹.
Dior hat sich bei der filmischen Präsentation der Fall/Winter-21/22-Kollektion ganz dem Dark Romanticism verschrieben – mit einigen Anklängen an Dark Academia (YouTube, 8.3.21). »Dior présente Beaute Dérangeante«. Drehort ist Versailles und seine angrenzenden Wälder. Es beginnt mit einer Tanzperformance im unheimlichen nebligen, laubfreien Waldgeäst und führt in den Versailler Spiegelsaal, wo die Spiegel nicht spiegeln, sondern mit Dornen versehen sind, an denen sich schmerzerfüllt, abgestoßen und angezogen zugleich eine Tänzerin räkelt. Die feministische Botschaft lautet, dass wir – Frauen – möglicherweise von unserem Spiegelbild verstört werden, uns die Spiegelung von Fremd- und Selbstwahrnehmung schmerzt, wir ein verstörendes Bild von Schönheit haben…
Man kann die Elemente Bild, Spiegel, Stachel, Schmerz, Schönheit und Selbst/Fremdwahrnehmung vielfältig aufeinander beziehen. Dior überlässt dies nicht dem Zufall, sondern kommentiert die Dreharbeiten auf Instagram zwischen dem 8. und dem 13. März. Die Künstlerin Silvia Giambrone erklärt ihre Dornen-Spiegel-Requisite als (De-)Konstruktionsmedium für die »Power of Patriarchy«. Dies war für mich auch nötig, weil ich trotz der Deutlichkeit der Inszenierung angesichts von Dornen und Spiegeln mehr dem Märchenpfad gefolgt bin, der auf Instagram ebenfalls erläutert wird: Man habe den Facettenreichtum und die Ambivalenz weiblicher Figuren in den Märchen von Madame d’Aulnoy und Madame Leprince aufleben lassen wollen. In diesem Sinne finden sich unter den Models und Bekleidungsästhetiken auch Hexen und Stiefmütter. Die Mode erinnert aber außerdem überplakativ an die Queen of Hearts aus »Alice in Wonderland«, was ebenfalls auf Instagram Erwähnung findet. Dieser Roman gehört nicht im engsten Sinn zur Dark-Academia-Lektüre, wird in dem Kontext aber auch genannt, denn wie es sich für Stilverbünde gehört, kommt zu Outfit und Musik oft auch das, was man liest etc., hinzu.
Einige der vorgeführten Outfits passen mit ihren hohen Kragen, den Stickereien und dem Farbspektrum zur Dark-Academia-Mode: Sie changieren zwischen Schuluniform, Dienstmädchen- und Gouvernanten-Dress. Besonders die Teile aus Broderie Anglaise haben romantizistische Anklänge, berühren durchaus den Regencycore-Style (Stichwort: »Bridgerton«) und erinnern erneut ein bisschen an die White Queen in »Alice in Wonderland«. Man fühlt sich beim Schauen des Videos zu gelehrter Referenzensuche aufgefordert, aber auch die Übercodiertheit und das Zitathafte sind ästhetizistische Dekadenzphänomene, die sich hier formal selbst reflektieren. Dass alles schon einmal da gewesen ist und immer wieder gesampelt werden kann – wie die Elemente von Cottagecore, Dark Academia und Regencycore –, spiegelt sich in der anspielungsreichen Struktur des Videos. Auch hier werden insgesamt eine dunkle Natürlichkeit und Archaik sowie Künstlichkeit verschränkt: Einerseits gibt sich in der übermäßigen Stilisierung und vielfachen Brechung eine vermeintlich innere, wildromantische, dunkeltiefe ›Natur‹ zu erkennen; andererseits sind die Naturelemente doch ausschließlich in überformter Geste präsent. Dior spielt mit jeder vorstellbaren dialektischen Wende- und Überlagerungsfigur – nur ironisch ist die Performance nicht.
Moschino hingegen präsentiert die Fall/Winter-21/22-Kollektion in augenzwinkernder Manier als gefilmte Papiertheaterbühnen-Inszenierung. Eine Conférencieuse begleitet den Gang durch das tägliche Leben in je passenden Outfits mit übertriebener Geste und ironisch-überakzentuiertem Tonfall. Ein Wochenende auf der »countryside« wird angekündigt, ein holzschnittartiges Bühnenbild aus Bäumen und Sträuchern in Pappe hineingezogen/schoben, die ersten Models erscheinen in weit ausgeschnittenen, langen Kleidern mit Puffärmeln. (Zwar ist dieser Stil mit Rockabilly kaum vergleichbar, aber wegen der Frisuren der Models schwingt 50er-Jahre-Vintage mit, der am Ende durch die Anwesenheit von Dita von Teese bezeugt wird.) Die Kleider repräsentieren nicht einfach, nein, sie sind quasi eine Kuhweide, oben hellblau mit Wolken, unten hellgrün mit den Kühen. Die bisweilen zu konstatierende Untragbarkeit von Haute Couture scheint hier ihren Höhepunkt gefunden zu haben, weil das Kleid jenseits des Bühnenkontextes nicht denkbar ist, wird aber langsam gesteigert von einem Outfit, bei dem das Model ein Miniaturwindrad auf dem Kopf trägt. Was dann folgt, kann man als ironischen Kommentar auf Cottagecore verstehen: Models treten in den eigentlich nur sprichwörtlichen Kartoffelsäcken auf, die durch Fransen, Aufnäher, warmfarbige Bemalung kaum vergessen lassen, dass es sich um Kartoffelsäcke handelt. Man mag sich nun fragen, ob das Hässliche hier durch eine Verfremdung des Blicks als schön ausgewiesen werden soll, was in der Mode ja oft funktioniert, aber man wird in dem Moment eines Besseren belehrt, in dem eine Pappkuh im Hintergrund erscheint, die das Model anmuht. Nicht diese Inszenierung ist albern, sondern sie verweist auf die Albernheit, das Landleben als Mode zu entdecken. Aber die Cottagecore-Ästhetik macht das gerade nicht, weil sie mit ihren Spitzen, Rüschen, Raffungen und Säumen von allem absieht, was das Landleben mit sich bringt, während Moschino die Sache auf den Kartoffelsack bringt.
»I see the countryside.« Mit diesen Worten läutet ein Model in einer Dolce & Gabbana-Sonnenbrillenwerbung auf Instagram ein kurzes Video ein, in dem Aufnahmen von grünen Wiesen, gelben Feldern und blauem Meer eingespielt werden (14.4.21). Wieder ist das Grün zu grün, das Gelb zu gelb, das Blau zu blau. Vor allem das Rascheln und Rauschen ist so akzentuiert, wie man es in der Natur selten hört. Einmal mehr wird betont, dass in der Popkultur und in der Mode jede Natürlichkeit nur eine inszenierte sein kann und sich vor allem die Bild- und Ton-Medialität selbst mehr vermittelt als Inhalte transparent macht. The Medium is the Message.
Dessen sind sich letztlich auch die meisten Cottagecorer:innen bewusst, die theatralische Szenografien als Kulisse gestalten, sorgsam die Bildausschnitte wählen, gezielt Filter einsetzen, den Ton kontrollieren und ihre Tätigkeiten stilisieren, sodass sich das Phänomen vor allem in Sozialen Medien gut inszenieren lässt. Abgesehen davon, handelt es sich vielleicht um eine eigene Form des Nature Writings, das dann hoffentlich auch für Tierschutz und Umweltbelange sensibilisiert und dazu führt, dass doch lieber auf die nachhaltigen Produkte zurückgegriffen wird und man sich das Phänomen nicht durch Massenfabrikationen aus der Hand nehmen lässt. – Denn wenn ich eine Ästhetik schon nicht nachvollziehen kann, möchte ich wenigstens, dass es ethisch zugeht.