Geisterspiele
von Nicolas Pethes
4.1.2025

Fußball im Lockdown

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 35-39]

Wenn es spukt, hat das nicht zwangsläufig mit der Anwesenheit von Gespenstern zu tun. In bestimmten Kontexten scheint vielmehr die Abwesenheit von Menschen unheimlich zu wirken und spiritistische Metaphern auf den Plan zu rufen: So ist etwa das »Phantom Ship« in Frederick Marryats gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1839 nicht nur aufgrund des untoten fliegenden Holländers an Bord, sondern vor allem wegen seiner fehlenden Besatzung ein »Geisterschiff«. Auf vergleichbare Weise heißen die nur kurze Zeit später im Zuge des Goldrauschs im nordamerikanischen Westen aus dem Boden gestampften Städte ›ghost towns‹, weil sie kurz nach ihrer Gründung schon wieder von allen guten und schlechten Geistern verlassen waren. Und im Fußball sprach man lange von ›ghost games‹, wenn die fraglichen Begegnungen zwar von einer Wettmafia auf den Tippscheinen aufgeführt worden waren, tatsächlich aber nie stattgefunden hatten.

Im zurückliegenden Jahr jedoch ist bekanntlich eine andere Bedeutung von ›Geisterspiel‹ in den Vordergrund getreten – gemeint sind nun Fußballspiele, die durchaus von Menschen aus Fleisch und Blut ausgetragen werden, aber dennoch einen gespenstischen Eindruck erwecken: Noch bevor im Zuge der Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie das öffentliche Leben fast vollständig stillstand, hatte die Deutsche Fußball-Liga ein Nachholspiel zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln am 11. März 2020 ohne Zuschauer angesetzt, und nach einer im Rückblick fast schon lächerlich kurzen Pause nahm die Bundesliga am 16. Mai den Spielbetrieb wieder auf – und zwar bis kurz vor dem Ende der Folgesaison 2020/21 unter vollständigem Ausschluss des Publikums im Stadion. Erst zu Saisonende sowie zur nachgeholten Europameisterschaft 2020 im Juni 2021 wurden wieder Zuschauer zugelassen, wenngleich die meisten Arenen nur einen Bruchteil ihrer Kapazität nutzen durften. Dennoch lief dem ehemaligen Stürmer und heutigen TV-Experten Sandro Wagner regelmäßig eine »Gänsehaut« über den Rücken, als er wieder Publikumsreaktionen auf das Spielgeschehen hören konnte – der Fußball sei auf dem Weg zurück zu seiner Normalität, lautete die offizielle Sprachregelung, und diese Normalität bestehe eben darin, ein greller, lautstarker und spektakulärer Gegenentwurf zum grauen Alltag zu sein. Als dann allerdings Ungarn als eines der Ausrichtungsländer der EM für die Puskás Aréna in Budapest alle Beschränkungen aufhob und das eigene Nationalteam vor vollbesetztem Haus antreten ließ (und England wenige Wochen darauf im Finale von Wembley nachzog), mutete manch einem diese vormalige ›Normalität‹ in ihrer ganz und gar ungewohnt gewordenen körperlichen und akustischen Massivität nicht nur virologisch riskant, sondern beinahe obszön – oder eben geradezu unheimlich – an.

Was hat es also mit dem Gespenstischen des Fußballs auf sich, das die Geisterspiele der Coronazeit offenlegen – nachdem ein Verbot von Zuschauern zuvor lediglich und höchst selten als Strafmaßnahme gegen Vereine verhängt worden war, deren Fans sich unbotmäßig verhalten hatten? Dass Geisterspielen das Prädikat des Gespenstischen zugesprochen wird, obwohl sie im Unterschied zu Geisterschiffen und -städten von lebenden Menschen betrieben werden, verschiebt auf überraschende Weise die Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Akteuren, die an einem Sportereignis beteiligt sind: Wäre man vor Corona noch der Meinung gewesen, dass die Spieler die Hauptdarsteller und die Zuschauer als solche nicht Bestandteil des Spiels, sondern dessen Beobachter seien, so legt die Benennung von Spielen ohne Publikum als ›Geisterspiele‹ umgekehrt nahe, dass dieses Publikum die entscheidende Lücke und also das ansonsten eigentlich zentrale Element des Spektakels ist.

Gut möglich also, dass die Phase der Geisterspiele während des Lockdowns als Anomalie offenlegt, was die eigentliche Normalität großer Sportereignisse ist – eine Aufführung weniger für ein Publikum als um der Generierung eines solchen Publikums willen. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass Mannschaftssportarten wie der Fußball auf mehreren Ebenen wie Kommunikationssysteme funktionieren: erstens hinsichtlich der Interaktion der Spieler einer Mannschaft, die weniger durch explizite Zurufe – die bei Geisterspielen mit einmal deutlich zu hören waren – als durch die Antizipation von Laufwegen und Zuspielen Spielzüge realisieren, wie Hartmut Esser dies in seinem zu Unrecht ironisierend angelegten Aufsatz zum »Doppelpaß als soziales System« entfaltet hat; zweitens mit Blick auf die Interaktion zwischen den beiden Mannschaften bzw. Einzelspielern beider Mannschaften, deren Angriffs- und Abwehrverhalten ebenfalls durch das Wechselspiel von Erwartung und Erwartungserwartungen strukturiert wird und insbesondere in der Figur der Finte (also der Körpertäuschung) die kommunikativen Operationen des Verstehens und Missverstehens als Bestandteil agonaler Spiele offenlegt, wie dies bereits Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz »Über das Marionettentheater« beschrieben hat; und drittens bezüglich der Interaktion zwischen den Zuschauern und den Spielern auf dem Rasen, die wiederum wechselseitig oder, mit Niklas Luhmann gesprochen, »doppelt kontingent« verläuft, insofern das Publikum nicht nur auf gelungene oder misslungene Spielzüge reagiert und die Spieler von diesen Reaktionen irritiert oder motiviert werden, sondern sowohl die Bewegungen auf dem Spielfeld als auch die Gesänge auf den Rängen von einem antizipierenden Wissen um diesen Wechselbezug konstituiert werden.

Dieser dritte Aspekt stand im Zentrum der Diskussion über Geisterspiele, insbesondere mit Blick auf den statistisch nachweisbaren Schwund des Wettbewerbsvorteils für Heimmannschaften – so halbierte sich bei den zuschauerlosen Spielen am Ende der Saison 2019/20 der Anteil der Heimsiege von den sonst üblichen 40 auf nur noch 20 %. In der Rückrunde der Folgesaison stand der Einbruch des ansonsten an der Anfield Road als unschlagbar geltenden FC Liverpool exemplarisch für diesen Trend, und in der Bundesliga beschrieb der damalige Trainer des ebenfalls von einer Heimspielseuche betroffenen SV Werder Bremen Florian Kohfeldt in einem Interview mit der »Süddeutschen Zeitung« vom 31.12.2020 die Folgen des fehlenden Feedbacks: Während bei einem Spiel mit Publikum die gute Phase einer Mannschaft durch die Emotionen auf der Tribüne verstärkt werde, sei man ohne Zuschauer schneller Opfer zufälliger Irritationen und müsse entsprechend taktisch anders planen: »Es ist mit Publikum leichter, diese guten Phasen länger zu halten und die guten Phasen des Gegners schneller zu brechen. Jetzt ist es so, dass du deinen Flow direkt nutzen musst, denn er dauert ohne den Faktor von außen, das Publikum, nicht so lang wie sonst.« Dem steht die Ansicht entgegen, die Spiele seien, wie Kohfeldt einen seiner Co-Trainer zitiert, »inhaltlicher geworden«, d.h. die eigentlich sportlichen Kriterien könnten gegenüber psychologischen und emotionalen Begleitumständen in den Vordergrund treten. Das betraf etwa die Beobachtung, dass Mannschaften mit technisch hoch veranlagten Spielern Spielzüge häufiger sauber zu Ende spielen konnten, weil das emotionale Feedback in einem vollbesetzten Stadion vor allem die Motivation zu einer Einsatzsteigerung bei der Abwehrarbeit beflügelt habe. Geisterspiele befördern demnach den Angriffsfußball, und tatsächlich sind die gestiegenen Torquoten in den nationalen und internationalen Wettbewerben in der vergangenen Saison bemerkenswert – so fiel in der Bundesliga nicht nur Gerd Müllers 40 Jahre alter Rekord von 40 Saisontoren, daneben hatte eine ganze Handvoll Spieler mehr Saisontore erzielt als sonst für die Torjägerkanone notwendig.

Und dennoch ist dieser Trend nur eine Momentaufnahme, denn zur Logik kommunikativer Systeme gehört auch, dass sie im Sinne einer kybernetischen Selbststeuerung die eigenen Effekte und Ergebnisse selbst wieder in die Erwartungskalkulationen einspeisen, d.h. im Fall künftiger Geisterspiele um deren Auswirkungen auf den Flow des Spiels wissen und die jeweiligen taktischen Entscheidungen und Ausrichtungen der beteiligten Mannschaften auf die An- oder Abwesenheit von Zuschauern einstellen können werden. Vor allem aber erschöpft sich die Rolle des Publikums im Sport gar nicht in der kommunikativen Funktion für die Dynamiken von Motivation und Flow. Vielmehr legen die Lockdown-Spiele eine vierte kommunikationstheoretische Ebene des modernen Sports offen, und zwar die Relation zwischen Kamera und Stadion, wie sie dem Profifußball als Medienereignis zugrunde liegt. Nichts hat die Bedeutung dieser vierten Ebene deutlicher ans Licht gebracht, als die Entscheidung, den Spielbetrieb der nationalen Ligen und Europapokalwettbewerbe gegen alle Infektionsbedenken und Sonderrollenproteste durchzuziehen. Diese Entscheidung gründet weniger in der vielbemühten Symbolfunktion des Spitzensports, die Befürworter des Spielbetriebs als Motivation und Lohn für die tapfer in den eigenen vier Wänden ausharrende Bevölkerung, seine Kritiker in der Ungleichbehandlung dieser Bevölkerung und der Protagonisten eines längst aller Bodenhaftung enthobenen Starensembles gegeben sahen. Tatsächlich wurde an den Spielen natürlich aufgrund millionenschwerer Fernsehverträge festgehalten. Zugleich veränderte sich aber gerade durch dieses Festhalten das versendete Produkt: In auf mehrere zehntausend Zuschauer ausgelegten Arenen verloren sich neben den 22 Spielern noch einmal so viele Offizielle beider Mannschaften, und es verwundert angesichts dieser Disproportion, dass außer Real Madrid kein einziger europäischer Spitzenverein auf eine kleinere und also den tatsächlichen Verhältnissen auch optisch und medienästhetisch angemessenere Spielstätte ausgewichen ist. Auf diese Weise war in den Fernsehübertragungen immer auch die gähnende Leere der Tribünen zu sehen, und eben dieses Ins-Bild-Rücken einer Lücke machte unübersehbar, wie wenig das Publikum im Fußball überhaupt noch Publikum am Rand des Spiels ist: Vielmehr sind im Fernsehfußball die Gefühlsausbrüche, Kostüme, Gesänge und Choreografien der Fans selbst Teil der Aufführung, d.h. das Fernsehen inszeniert stets auch die Beobachtung der Beobachter, deren Abwesenheit in Zeiten von Corona in der Folge viel gespenstischer wirkte, als wenn die Spielstätten ganz verlassen und alle Kameras blind geblieben wären.

Trotzdem markieren die Geisterspiele – darin ihren nautischen und mineralogischen Vorgängern verwandt – keineswegs nur eine Krise dieser Aufwertung der Zuschauer zu Protagonisten eigenen Rechts durch die Bildregie im Stadion. Vielmehr hat gerade das Fehlen dieser Protagonisten die Ausbildung einer ganz eigenen Ästhetik der Vermittlung von Fußballspielen befördert. Damit sind weder die aufgrund der fehlenden Fangesänge auf einmal deutlich hörbaren Zurufe und taktischen Anweisungen auf dem Spielfeld gemeint noch die rührenden Versuche von Faninitiativen, das Publikum durch Pappkameraden auf den Sitzplätzen zu ersetzen. Es handelt sich vielmehr um eine Annäherung und Ausrichtung der Präsentation von Fußball im Fernsehen an die bzw. der Ästhetik von Computersimulationen. Das legt das auf den ersten Blick absurde, aber auf den zweiten nur umso konsequentere Angebot des Bezahlsenders Sky nahe, die Übertragung von Geisterspielen mit Zuschauergeräuschen aus der Konserve zu unterlegen – also genau dasjenige Verfahren, das auch bei Konsolenspielen wie »Fifa« zum Einsatz kommt. Und die Übertragung des DFB-Pokalfinales 2021 zwischen Borussia Dortmund und RB Leipzig setzte mit einer CGI-Animation ein, bei der die beiden Vereinswappen sowie der Pokal über dem Mittelkreis des Berliner Olympiastadions zu schweben schienen, sodass man kurz verunsichert war, ob das Bildsignal auf dem Fernseher tatsächlich von der ARD-»Sportschau« und nicht etwa von der eigenen Spielkonsole eingespeist wurde. Dieselbe Übertragung schloss mit einer Serie von Montagen der Siegerehrung, die den Eindruck eines rauschenden Fests im Konfettiregen erzeugte, derart aber verbarg, dass die Dortmunder Pokalgewinner faktisch auf einer kahlen Betontribüne tanzten und die Siegestrophäe nicht etwa ihren dankbaren Fans präsentierten, sondern in einen menschenleeren Abendhimmel reckten.

Das eigentlich Gespenstische der Geisterspiele des zurückliegenden Sportjahres besteht mithin womöglich in dieser Übernahme einer Ausweitung einer digitalen Simulationsästhetik auf den vermeintlich immer noch lebendigen und authentischen Sport. Die Anwesenheit der Körper der Spieler allein scheint der Bildästhetik des Fernsehsports gerade nicht zu genügen, und der Wegfall der komplementären Körperlichkeit des Publikums während des Lockdowns der Stadien hat zu Kompensationsstrategien geführt, die den Fußball zumindest auf der Ebene seiner bildmedialen Präsentation – die aber ja im Fall von Geisterspielen ironischer- wie konsequenterweise den einzigen Zugang für das interessierte Publikum bietet – zu einem digitalen Format machen: Die fehlenden Fans werden wahlweise digital reproduziert oder ihr Fehlen selbst wird bildästhetisch ausgeblendet und unsichtbar gemacht. Es bleibt abzuwarten, ob die Bildregie des Sports diese Geister, die sie rief, auch wieder loswerden will oder ob sie eine Welt, in der Fußball ungestört von allen Außeneinflüssen inszeniert und gestaltet werden kann, nicht doch als die schönere und neuere erachten wird.

 

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