›Alt-Right‹-Aktivismus als Livestream und Found-Footage-Video
von Tilman Baumgärtel
2.6.2024

Direkt aus dem Kapitol

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 97-103]

Als Donald Trump am 20. Januar 2017 in sein Amt als Präsident der Vereinigten Staaten eingeführt wurde, begann das American Museum of the Moving Image im New Yorker Stadtteil Queens ein Netzkunstwerk von LaBeouf, Rönkkö & Turner zu zeigen, das man zu diesem Zeitpunkt möglicherweise für einen pfiffigen künstlerischen Kommentar zum Wahlausgang gehalten haben mag: »hewillnotdivide.us«. Die Arbeit bestand aus einer Webcam, die neben dem Eingang des Medienmuseums angebracht war und in die Betrachter den Titel der Arbeit sprechen sollten. »Er wird uns nicht spalten« – als ob Donald Trump das nicht zu dieser Zeit schon erfolgreich mit der Bevölkerung der USA und der Welt getan hätte. Die Aufnahmen der Cam wurden in Echtzeit ins Internet gestreamt. Sicherlich zur Freude des Museums ging die Arbeit viral – schon kurz nach der Installation fanden sich vor der Kamera Gruppen von meist jungen Leuten ein, die den Satz zum Teil wie Hare-Krishna-Jünger als Chant in das globale Netz sprachen. Es war, als hätten sie geglaubt, einen Zauberspruch gefunden zu haben, um das Grauen zu bannen, das der unerwartete Wahlsieg des Reality-Show-Stars ausgelöst hatte. Einige nutzten die Kamera als Plattform zur Selbstdarstellung, rappten oder wünschten den Internet-Zuschauern Weltfrieden.

Aber schnell tauchten zwischen den urbanen, multikulturellen Hipstern, die die Kameralinse in der weißen Museumswand zu einem vernetzten Altar für ihre Unzufriedenheit und Irritation gemacht hatten, düstere Gestalten auf, die gekommen waren, um das bunte Treiben zu stören. Waren die Live-Aufnahmen aus Queens zunächst auf Websites wie 4chan oder Reddit lediglich sarkastisch kommentiert worden, so erschienen bald unangenehme Figuren in der fröhlichen Menge, die Basecaps mit dem Trump-Slogan »Make America Great Again« trugen. Sie zeigten den Hitlergruß, ließen die Hosen herunter, klebten nachts die Kamera zu und hielten Bilder von der Troll-Ikone Pepe the Frog in die Luft. Einer der Wortführer des Mobs war ein junger Mann, der unter dem Pseudonym »Baked Alaska« (zu Deutsch ›Omelette Surprise‹) auftrat und sich so provokativ gebärdete, dass er schließlich Hausverbot erhielt und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wurde. Innerhalb kurzer Zeit eskalierte die Situation. Eine immer größere Menge von Menschen fand sich vor dem Museum ein; es kam zu Anwohnerbeschwerden, Pöbeleien, Schlägereien, Polizeieinsätzen. Nach drei Wochen baute das Museum die Arbeit, die eigentlich während der gesamten Amtszeit Trumps gezeigt werden sollte, ohne Rücksprache mit den Künstlern ab.

Knapp vier Jahre später stürmte ein Mob von protofaschistischen Randalierern am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington. Viele der Eindringlinge in die ›Herzkammer der amerikanischen Demokratie‹ trugen ihre Smartphones wie Waffen vor sich her, mit denen sie ihren Einbruch in Echtzeit ins Internet sendeten. Einer von ihnen, der seine Eskapaden für ein Publikum von mehr als 10.000 Zuschauern über den Streamingdienst DLive übertrug, war ein inzwischen nicht mehr ganz so junger Mann, der immer noch unter dem albernen Spitznamen »Baked Alaska« im Netz aktiv ist.

Zu den Video-Trophäen, die er mit einem Smartphone auf einem Selfie-Stick festhielt, gehörte sein Auftritt im Büro von Nancy Pelosi, wo er mit dem Telefon der Sprecherin des Repräsentantenhauses imaginäre Telefonate führte, in denen er angeblichen Wahlbetrug anklagte. Das Publikum konnte seine Performance mit »Lemons« und »Diamonds« honorieren, der virtuellen Kryptowährung von DLive, die sich Streamer als Honorar auszahlen lassen können. Nach Berechnungen des Krypto-Blogs soll er am Nachmittag des 6. Januars schätzungsweise 2000 Dollar mit seiner Performance verdient haben.

Diese beiden ›mob scenes‹ markieren den Anfang und das Ende der Amtszeit Donald Trumps und fassen ihren Geist besser zusammen als die meisten Zeitungskommentare und politischen Analysen. Zwischen den beiden Ereignissen entstand mit Hilfe der Sozialen Medien in den Köpfen vieler Trump-Anhänger eine Simulation der Welt, die – wie eine Art Neuauflage von Guy Debords Konzept von der unhintergehbaren »Gesellschaft des Spektakels« – so absolut ist, dass sie die auf belegbaren Tatsachen beruhende Wirklichkeit ersetzen kann. Eine Simulation, in der der amerikanische Präsident ein Opfer von lügenden Medien und korrupten Eliten ist, in der im Keller von Pizza-Restaurants Kinder missbraucht werden, in der eine kleine Minderheit von Extremisten ›das Volk‹ darstellt, in der ein anonymer Poster mit dem Namen QAnon geheime Insiderinformationen aus dem Weißen Haus bei einem Imageboard namens 8kun verbreitet, und in der man Wählerstimmen nur oft genug zählen muss, damit sie schließlich das gewünschte Wahlergebnis liefern. Wer in diese ›Matrix‹ abgetaucht ist, kann jede Begegnung mit der Wirklichkeit umstandslos in diese Simulation einordnen – die Stichwortgeber für solche ›alternativen‹ Realitätswahrnehmungen warten bei Facebook, YouTube, Telegram und 4chan nur darauf, ihre absurde Lesart der aktuellen politischen Lage unter ihren Followern zu verbreiten.

Aber kehren wir noch einmal zu dem düsteren Karneval zurück, der als eine Urszene dieser Entwicklung angesehen werden kann: die unwürdigen Szenen, die sich vor dem Museum of the Moving Image in Queens im Januar 2017 zutrugen. »This is shit-posting IRL«, bemerkte einer der Online-Kommentatoren auf 4chan. ›Shitposting‹ ist die beleidigende, zynische und nur dem Zweck der Provokation dienende Form des Online-Kommentierens, wie Internet-Trolle sie praktizieren, um andere Diskussionsteilnehmer aufzubringen und die sich bis in die Netz-Subkulturen in den frühen Mailboxen und im Usenet der 1980er und frühen 90er Jahre entwickelt hatte. Ein Troll, wie ihn Whitney Phillips in ihrem Buch »This Is Why We Canʼt Have Nice Things« beschreibt, ist eine Internet-Kreatur, der es Vergnügen bereitet, andere durch ihre Kommentare zu ›triggern‹ – also so lange zu provozieren, bis er oder sie ausrastet. Das natürliche Habitat von Trollen sind seit dem Entstehen des Web 2.0 der 2000er Jahre die Kommentarbereiche von Online-Publikationen, Soziale Medien wie Facebook oder Twitter sowie Debatten- und Imageboards wie Reddit und 4chan. Letztere Seite gilt vielen als ›Kloake des Internets‹: Hier teilen Trolle anonym Ekelbilder, dumme Sprüche und Memes, Pornografie – alles, womit man Leute nerven kann.

All das passiert zunächst nur online und nur ›for the lulz‹, also zum Spaß. Es war ja nicht real, sondern nur ein Spiel, das im Internet gespielt wird. Wenn man sich darüber aufregte, hatte man das Spiel nicht verstanden oder war überempfindlich. Schaltet doch einfach den Computer aus, wenn es euch nicht passt! So waren die 4chan-Trolle ursprünglich eine Jugendbewegung unter anderen, die das Internet hervorgebracht hat.

Aus dieser Kultur ging die Netz-Protestbewegung Anonymous hervor, die mit ihrer Mischung aus widersprüchlichen bis unverantwortlichen Nonsense-Statements, jugendlicher Angeberei und kryptischen popkulturellen Referenzen den 4chan-Stil erstmals in die breitere Öffentlichkeit brachte. Anonymous verfolgte dabei zunächst durchaus progressive Ziele wie die Bloßstellung der Scientology-Sekte, den Protest gegen das deutsche »Zugangserschwerungsgesetz« von 2010 oder die Unterstützung des Arabischen Frühlings und von WikiLeaks. Aber vor allem verlagerten die Anonymous-Anhänger die Troll-Aktivitäten, die in der Anonymität der Internetkultur entstanden waren, unter den – bis heute bei Corona-Leugner-Demos gelegentlich zu sehenden – Guy-Fawkes-Masken aus dem Netz wieder in den physischen Raum rund um den Globus. Das Spiel im Internet war zu einem Spiel in der ›wirklichen Realität‹ von Städten, Straßen und Körpern geworden – inklusive gelegentlicher Konfrontationen mit der Polizei als Repräsentanten einer Staatsraison, die man mit Hilfe des Internets eigentlich hinter sich gelassen zu haben meinte.

Der Tumult vor dem Museum of the Moving Image war freilich eine wesentlich düsterere Variante dieser Netzsubkultur – individual-anarchistischer, zynischer Joker statt dem ›common good‹ verpflichteter Hacker, brutaler Nihilismus statt cleverem ›Derailing‹. Es ging nicht mehr darum, das System zu hacken, um seine Schwächen aufzuzeigen, sondern darum, alles zum Absturz zu bringen. Und dabei zu demonstrieren, wie gut man die Mechanismen des partizipatorischen Mediums Internet verstanden hatte. »hewillnotdivide.us« war das erste Mal, dass dieses neue Gesicht der Troll-Bewegung in großem Stil und jenseits seiner Nischen im Internet global sichtbar in der Öffentlichkeit auftauchte – und das wohl ganz im Sinne ihrer Mitglieder. Mit Donald Trump hatte man eine ideale Identifikationsfigur gefunden, denn der verhielt sich im Grunde selbst wie ein Troll. Seine Tabubrüche, sein Desinteresse an bis dato für selbstverständlich gehaltene Anstandsregeln, seine Witze über Behinderte und sein großspurig heraus gegrölter Sexismus erinnern an die Provokationsstrategien, mit denen man in der Aufmerksamkeitsökonomie von 4chan von sich reden macht.

Die Trolle vor der Kamera am Museum of the Moving Image und an den Computern rund um den Globus begannen, aus dem Videomaterial, das bei »hewillnotdivide.us« ohne das Zutun von äußeren Akteuren wie Regisseuren und Produzenten entstand, Found-Footage-Filme zu produzieren. Auf YouTube sind bis heute die ›Höhepunkte‹ dieser selbstorganisierten Kampagne zusammengefasst zu betrachten – mit mediengewieften Details wie der Einteilung verschiedener Perioden des Geschehens in »Folgen« und »Staffeln«, als ob das Gerempel und Gepöbel vor der Webcam dem Drehbuch eines imaginären ›Writersʼ Room‹ folgen würde. War das Selbstverständnis der ursprünglichen Internettrolle einer Wir-gegen-sie-Dynamik gefolgt (also Netzversteher gegen den Rest der Welt), war bei den Trollen der ›Alt-Right‹-Bewegung in den USA zu dieser Zeit ein Diskurs des Opfers und der Entrechtung von zuvor privilegierten Bevölkerungsgruppen aufgekommen. Diese Stimmung erinnert an die Beobachtung, die Hannah Arendt in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« über die Zwischenkriegszeit festgehalten hat (gegenwärtig übrigens wieder viel gelesen, diskutiert und interessanterweise kurz nach der Kapitol-Besetzung ein »Bestseller« bei Amazon): Aus den Deklassierten aller Klassen rekrutierte sich während der frühen Weimarer Republik ein »dekadenter Mob«, der fasziniert den ziellosen Terror zum neuen politischen Stil verklärte, welcher später von der NSDAP leicht instrumentalisiert werden konnte.

»hewillnotdivide.us« lieferte Leuten eine Steilvorlage, die sich – berechtigterweise oder auch nicht – als deklassierte Opfer des ökonomischen und politischen Status quo in den USA betrachteten: Da war eine arrogante Elite (Museum), die ein demokratisches Wahlergebnis hämisch und global online mit einem vorgegebenen Statement kommentieren lässt. In der Tat kann man sich kaum ein schlechteres Kunstwerk für das Internet vorstellen: Das Publikum soll in einem interaktiven Medium dazu gezwungen werden, einen mantrahaften Satz, dessen Wahrheitsgehalt gelinde gesagt strittig ist, wie Hare-Krishna-Jünger in eine Kamera zu sprechen, deren Bilder Menschen auf der ganzen Welt empfangen konnten?

Zur medialen Zuspitzung der Debatte hat natürlich auch beigetragen, dass ein Mitglied des Künstlerkollektivs ein privilegierter weißer, männlicher und aus dieser Position »Gratismut« (Hans Magnus Enzensberger) demonstrierender Künstler ist: Mitglied von LaBeouf, Rönkkö & Turner ist Shia LaBeouf, bekannt aus Hollywood-Blockbustern wie »Transformers« und aus Independent-Filmen wie Lars von Triers »Nymphomaniac«. Seine Verhaftung vor laufender Kamera in Queens nach einer Rempelei mit einem Troll gehörte zu den Höhepunkten der Schadenfreude, die der Internet-Mob in Echtzeit feierte.

Die YouTube-Videos, die ein anonymer »Creator« mit dem Pseudonym »Internet Historian« aus mitgeschnittenen Livestreams montierte und höhnisch kommentierte, sind ein bleibendes Dokument dieser Phase der Entwicklung der ›Alt-Right‹. So wenig das künstlerische Konzept von »hewillnotdivide.us« aufging, so erfolgreich war es darin, jene Periode der Entwicklung des Internets festzuhalten, in der die utopischen Erwartungen an das Internet als herrschaftsfreier Kommunikationsraum ersetzt wurden durch ein Netz, in dem die lautesten und dreistesten Schreihälse mit Shitstorms, Hate Speech und Fake News den Ton angeben.

Auch die Livestreams, die während der Stürmung des Kapitols mitgeschnitten und festgehalten wurden, sind bleibende Dokumente – und zwar der Straftaten, die während des Angriffs begangen worden sind. Am Morgen nach dem Sturm ging eine Website des FBIs online, über die man eigene Aufnahmen oder Mitschnitte aus dem Netz hochladen konnte. Auch bei dem Webarchivdienst Intelligence X entstand ein Archiv von tausenden Stunden Videomaterial, mit dem man den Sturm des Kapitols so detailliert rekonstruieren kann wie ein Bundesliga-Fußballspiel. Schon kurz nach ihrem Tod konnte man auf YouTube Videos finden, die den tödlichen Schuss auf die Randaliererin Ashli E. Babbitt aus vier verschiedenen, synchronisierten Perspektiven zeigten.

Der Erfolg der ›Alt-Right‹-Bewegung wie ähnlicher populistisch bis rechtsradikaler Bewegungen war zu einem wichtigen Teil durch ihre virtuose Nutzung der Sozialen Medien bestimmt. Das Fluten von Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube mit den Botschaften einer letztlich kleinen, radikalen Minderheit hat zur Durchsetzung von AfD wie Impfgegnern, Rechtsradikalen wie Corona-Leugnern beigetragen. Der Attentäter von Christchurch orchestrierte seinen Amoklauf als eine Art Propaganda der Tat für seine Streaming-Kamera und kommentierte seine Morde mit Troll-Sprüchen (»Subscribe to PewDiePie«); der Attentäter von Halle lamentierte vor laufender Kamera darüber, dass ihm kein streamingtaugliches Morden gelang.

Je stärker sich die Nutzung von Streams von der Propaganda hin zur Dokumentation von eigenen Aktivitäten verschob, desto mehr wurde diese Selbstdarstellung auch zum Beweismittel. ›Scraping‹ (also das Herunterladen von derartigen Livestreams und YouTube-Clips) solcher Aufnahmen ist inzwischen ein wichtiges Werkzeug von Menschen, die sich ohne direkte Konfrontation auf der Straße gegen unliebsame politische Gruppierungen wie die Querdenker wenden wollen. Auch in Deutschland wurden und werden die Aufnahmen, die Querulanten und selbsternannte »Widerstandskämpfer« wie »Frauen Bustour« oder »Freedom Parade« auf YouTube und bei Telegram verbreiteten, von Sofa-Aktivisten gespeichert, zu eigenen Filmen kompiliert oder auch als Beweismaterial für Anzeigen in Situationen genutzt, wo die Polizei nicht anwesend war oder nicht eingriff. Da hilft es dann nicht mehr, wenn man Aufnahmen aus dem Netz löscht, die einen inkriminieren könnten.

So sehr man es bei derartigen Rotten auch schätzen mag, dass sie durch die Dokumentation ihrer Aktivitäten gleich die Beweismittel für Strafverfahren liefern, so beunruhigend ist es, dass jede Form von politischem Aktivismus in Zukunft dieser Dialektik ausgeliefert ist: Wenn man zur Kenntnis genommen werden will, muss man sich in den Sozialen Medien und in Livestreams zeigen. Aber wenn man das tut, macht man sich gleichzeitig auf eine Weise sichtbar, die einen angreifbar macht.

Filme wie »The Green Wave« (2010) von Ali Samadi Ahadi über den Arabischen Frühling oder »Silvered Water, Syria Self-Portrait« (2014) von Ossama Mohammed über den syrischen Bürgerkrieg nutzten die Handyvideos von Amateuren noch als Dokumente von Polizeigewalt, Regierungswillkür und brutaler Unterdrückung. Nun sammelt das FBI solche Aufnahmen, um seine eigenen Found-Footage-Filme für die Anklageerhebung zusammenzuschneiden. Wer dies begrüßt, muss aber gewahr sein, dass es beim nächsten Mal Demonstranten von Black Lives Matter treffen kann.

 

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