Eigenartiges Social-Media-Genre
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 23, Herbst 2023, S. 15-23]
Bob Ross (@bobrosscenter) hat auf TikTok fast 2,5 Millionen Follower. Auf dem Found-Footage-Profil wird täglich ein Ausschnitt aus den Fernsehaufzeichnungen des beliebten Kult-Malers gepostet. In kurzen Videos sieht man ihn einzelne Elemente seiner Landschaftsbilder malen, während er sein Vorgehen mit sanfter und ruhiger Stimme kommentiert und seine Pinsel oder Spachtel streichelnd oder kratzend auf der Leinwand hin und her bewegt. Dass er in den Sozialen Medien eine Renaissance erlebt, hat nicht nur mit dem beliebten Format des Tutorials zu tun – das übrigens bereits zur Zeit von Ross in den 1980er Jahren, sehr beliebt war, als sich dessen TV-Sendung »The Joy of Painting« in andere Making-of-Klassiker wie »The Joy of Cooking« oder »The Joy of Sex« einreihte. Die Videos von Bob Ross können vor allem als Vorreiter eines der derzeit beliebtesten Bewegtbild-Genres in den Sozialen Medien angesehen werden: den Oddly Satisfying Videos.
Als eigenes Genre werden Oddly-Satisfying-Videos spätestens seit 2013 klassifiziert. In diesem Jahr entstand ein entsprechender Subreddit (r/oddlysatisfying), der gegenwärtig fast zehn Millionen Mitglieder umfasst und mit den dort stattfindenden Diskussionen und dem Zusammentragen von Beispielen wesentlich zur Charakterisierung beitrug, wenn nicht sogar für die Herausbildung des Genres grundlegende Bedeutung besaß. Seither sind zahlreiche Sub-Genres entstanden, in denen teilweise sehr spezifische Bedürfnisse adressiert werden, die es zu ›befriedigen‹ gilt.
Bei Oddly Satisfying Videos handelt es sich in der Regel um filmische Aufnahmen verschiedener Materialien, die von Händen oder Werkzeugen auf unterschiedliche ›befriedigende‹ Weise behandelt werden. Oft knüpfen sie ästhetisch an Tutorials, Unboxing-Videos und ASMR-Videos an. Manchmal sind sie Zuspitzungen, ein anderes Mal Brechungen dergleichen, oder sie verbinden einzelne Elemente dieser Vorlagen. Die dargestellten Materialien sowie ihre Bearbeitung und die daraus resultierenden Effekte sind zwar ausgesprochen vielfältig, es gibt aber wiederkehrende Muster. Da gäbe es z.B. die Gruppe der Alltagsmotive: Luftpolsterfolien werden zum Platzen gebracht, Dosen geöffnet, Gras geschnitten oder eine Schutzfolie von einem neugekauften Produkt abgezogen. Dann gibt es Clips, die in der Regel Detailaufnahmen von Materialien im Produktionsprozess zeigen, z.B. das Gießen von Flüssigkeiten, Laserschneiden von Metallen oder 3D-Drucke. Sie stammen oft aus verschiedenen Handwerken, die insbesondere auf TikTok geradezu eine Renaissance erleben oder mindestens eine positive Neubewertung erfahren. Nähen, Backen oder das Schrauben in einer Werkstatt haben hier mindestens denselben Stellenwert wie Malen, Skulpturen bauen oder das Arbeiten an Installationen. Besonders beliebt ist Viskosität in Form von Schleim, weicher Knete oder kinetischem Sand, die von körperlosen Händen oder Werkzeugen gestreichelt, gerührt, geknetet oder (irgendwo durch-)gequetscht werden.
So verschiedenartig die Motive sein mögen, Oddly Satisfying Videos eint, dass sie eine affektive Haltung begünstigen und dem Betrachtenden eine sensorische Erfahrung bieten. Anders als bei Tutorials oder Unboxing-Videos spielen hingegen narrative und thematische Aspekte kaum oder gar keine Rolle. Man könnte vielleicht sogar sagen: je weniger narrativ, desto sensorischer und damit befriedigender. Allerdings gibt es stets insofern eine Handlung, als eine Transition stattfindet, bei der die Form oder Gestalt von etwas verändert, verwandelt, entlarvt wird. Dies ist ein Merkmal, das Isabell Otto 2023 in ihrem Buch »TikTok« als wesentlich für die Kurzvideos auf der Bewegtbildplattform herausgearbeitet hat.
Was genau die befriedigende Wirkung von Oddly Satisfying Videos auslöst, ist jedoch nicht eindeutig zu bestimmen. Manchmal ist es die überraschende, ›oddly‹ Kombination von Gegenstand und der Art seiner Behandlung, die ein ebenso unerwartetes Gefühl evoziert: Mit einem heißen Messer werden die Zacken von einem Plastikkamm geschnitten, sodass ein eigensinniger, überraschender Sound zwischen Schnitt- und Schmelzgeräusch entsteht. Ein Gameboy wird durch eine Schreddermaschine gejagt – und dabei seine Leiterplatte quietschend-zerspringend zum Vorschein gebracht. Ein Putzeimer mit Lappen wird aufgeschnitten – und stellt sich als fruchtige Sahnetorte heraus.
In anderen Fällen erzeugt es Befriedigung, wenn im Video etwas zur Perfektion gebracht wird, das normalerweise misslingt. Pilze werden, ohne dass etwas abbricht oder allzu viel Erde haften bleibt, aus dem Waldboden gezogen; ein Grind wird rückstandslos abgezogen; alter Putz mit einem Spachtel von der Wand entfernt, verstopfte Rohre werden freigelegt. Überhaupt wird in Oddly Satisfying Videos gerne fetischhaft und mit absurder Genauigkeit geputzt. Je dreckiger die Ausgangssituation, desto genussvoller der Reinigungsprozess.
Kleine Spekulation am Rande: Man kann eigentlich nicht anders, als im diesjährigen Bachmann-Preisträger-Text »Er putzt« von Valeria Gordeev eine literarische Variante von Oddly Satisfying Videos zu sehen. Ihr Protagonist putzt nicht aus Pflichtgefühl, sondern aufmerksam, genüsslich, ja lustvoll: »Er schraubt das Abflusssieb auseinander, hebt den Gummiring an und entfernt den faulig darunter hervorkriechenden Schmutzrand. Auch den Gummiring reinigt er, indem er ihn mit Essig besprüht und beidseitig mit Zellstofftüchern abtupft […], dann steckt er die Teile wieder zusammen und verweilt einen Moment mit dem nun wieder einwandfrei sauberen, trockenpoliert funkelnden Abflusssieb in der Hand.«
Etwas, das nicht passt, wird also passend gemacht, in eine Form gepresst, Schmutz entfernt etc. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Etwas, das zu sehr passt, wird unpassend gemacht oder sogar zerstört: Eine perfekte Kugel aus Gummi wird verformt, eine Glasflasche in einem Mörser zerkleinert.
Was oddly satisfying ist, hat vor allem damit zu tun, wie es die Betrachtenden erleben. Schon dem Namen nach handelt es sich bei diesem Erleben um das Gefühl der Befriedigung, sowohl somatisch als auch kognitiv. Es ist darum keine Überraschung, dass viele Oddly Satisfying Videos zugleich als ASMR-Videos (Autonomous Sensory Meridian Response) gelten können und sich deren meist akustische Trigger des Flüsterns und ›scharfer‹ Geräusche zu eigen machen, damit es zum ›Frisson‹ kommt – einem ästhetischen Schauer in Form von Gänsehaut oder Kribbeln (zu ASMR Maren Lickhardt in Heft 15 der »Pop«-Zeitschrift).
In ihrem Buch »Touch. Sensuous Theory and Multisensory Media« hat Laura Marks 2002 den Begriff »haptische Visualität« geprägt. Bei der haptischen Visualität funktionieren die Augen wie Tastorgane. Im Gegensatz zur optischen Visualität stützt sich die haptische auf andere Formen der Sinneserfahrung, vor allem auf Berührung und Kinästhetik. Daran haben Bjørn Nansen und Jessica Balanzategui in ihrem Essay »Visual Tactility: ›Oddly Satisfying‹ Videos, Sensory Genres and Ambiguities in Children’s YouTube« (2022) angeknüpft, um die spezifische Qualität dieser Videos und die damit verbundenen kurzen Augenblicke sensorischer Befriedigung genauer zu bestimmen. Dafür verwenden sie die Formulierung »visuelle Taktilität« und zeigen, dass das Spiel mit Schleim und ähnlichen taktilen Materialien seit langem ein wichtiges Merkmal der Kinder- und Spielzeugkultur ist. Die mit »haptische Visualität« oder »visuelle Taktilität« bezeichneten Wahrnehmungsweisen eint, dass der Körper in den Prozess des Betrachtens involviert ist.
Oddly satisfying sind die Videos nur dann, wenn man sich hineinversetzen und an die im Video gemachte sinnliche Erfahrung anknüpfen kann. Ist diese Voraussetzung gegeben, verlässt man beim Zuschauen die Betrachterposition und wird selbst zum knetenden, schneidenden, quetschenden Wesen. Die Befriedigung entsteht dann durch die Wiedergewinnung einer durch das Digitale zunächst verloren gegangenen sinnlichen Erfahrung.
In dieser Hinsicht besitzen die Videos eine ähnliche Funktion wie einst die Landschaftsmalerei in der Romantik, bei der man sich in die auf dem Bild befindlichen Rückenfiguren hineinversetzen konnte und sich sozusagen an ihrer statt an der Landschaft erfreuen und zumindest geistig in sie eintauchen sollte. Auch bei diesen Bildern ging es um die Verknüpfung einer verloren gegangenen Verbindung von Natur und Geist, Welt und Mensch, Objekt und Subjekt.
Während jedoch etwa die Figuren bei Caspar David Friedrich letztlich der Natur gegenüberstehen, mit Distanz auf sie blicken und damit deren Unterwerf- und Beherrschbarkeit suggerieren (sprich: Natur als Ressource vorführen), sind Oddly Satisfying Videos Beispiel eines neuen Paradigmas, bei dem man tatsächlich (somatisch und kognitiv) in das Gesehene involviert ist, bei dem sich tatsächlich die Distanz auflöst. So kommen die meisten Texte über das Video-Genre zu dem Schluss, dass dessen bemerkenswertestes und beständigstes Merkmal sein hohes Maß an Intimität und Nähe ist.
Bei einem Untergenre – den Oddly Satisfying Nature Videos – wird besonders deutlich, dass Mensch und Natur sich in keinem Distanzverhältnis mehr befinden. Wenn ein Wassertropfen auf einem großen Seerosenblatt abperlt, eine Hand in Treibsand eintaucht, ein saftiger und rosiger Pfirsich mit scharfem Messer aufgeschnitten wird, sodass man dessen Haut geradezu bei ihrer Neupositionierung zusehen kann, oder wenn lange Fingernägel über Kieselsteine streicheln (mit ASMR-Sound, versteht sich), breitet sich nicht nur ein wohliges Gefühl aus, sondern man beginnt gedanklich selbst, die Natur zu liebkosen. Deshalb besitzen diese Videos das Potenzial, sich durch die ausgelösten Affekte mit der Natur verbunden zu fühlen (auch körperlich), sich – in den Worten Donna Haraways – mit ihr ›verwandt‹ zu machen. Das ist natürlich besonders vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskurse über Ökologie und Klimawandel interessant. Oddly Satisfying Videos sind damit ein Symptom für das Ende der Coolness in Form einer selbstbewussten, individualistischen (und teilweise narzisstischen) Modernität und der damit verbundenen zwischenmenschlichen ›Kälte‹ oder generellen Abkühlung zwischen verschiedenartigen Wesen – ein Symptom für den Beginn eines deutlich wärmeren, emphatischeren, kollektiveren, polyvalenteren Verhältnisses zur Umwelt.
Sieht man sich die Paratexte der Oddly Satisfying Videos an – Titel, Beschreibung, Hashtags oder Kommentare –, lässt sich ein ganzes Feld an verwandten Wirkungen aufspannen. Dort finden sich neben »satisfying« Charakterisierungen wie »relaxing«, »effortless«, »smooth«, »comforting«, »extremcomfort«, »decompression«, »stressrelief«, »sleep«, »asmr«, »immersive« sowie »anxiety« und »depression«. Das gilt sogar für Bob Ross, dessen Videos gerne mit dem Kommentar »Try it before sleeping« versehen werden. Wie Meditation, Yoga oder Self-Care gehören Oddly Satisfying Videos als Reduktionstechnik zur Care- und Calm-Kultur: Sie sollen entspannen, beruhigen, beim Einschlafen helfen und dabei Trost spenden. Stress, Druck, starke Gefühle und Probleme sollen abgebaut, verringert, gemildert, eingedämmt werden. Die Gründe zur Notwendigkeit werden in den gängigen Hashtags ebenfalls mitgeliefert: Um sich greifende Zustände von Angst und Depression (ausgelöst durch den Kapitalismus sowie die multiplen Krisen der Gegenwart?), machen etwas erforderlich, das man zu anderen Zeiten vielleicht ›Erbauung‹ genannte hätte. Weil es keine Narration und in den meisten Fällen auch kein Thema gibt, handelt es sich bei diesen Videos auch tatsächlich um eine Erholung – und zwar von der permanenten Dauerpolitisierung sämtlicher anderer Inhalte im Netz und mittlerweile auch des nicht digitalen Alltags.
Allerdings lässt sich nun leicht einwenden, dass die Entspannung nur sehr punktuell und nicht gerade nachhaltig ist, nur für die paar Sekunden zwischen Hatespeech- und Aktivismus-Beiträgen anhält. Darum sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Oddly Satisfying Videos zum einen häufig gezielt aufgesucht werden, mit dem Wunsch nach einem bestimmten Effekt. Zum anderen wird nie nur ein Clip angesehen, sondern mehrere nacheinander. Das verstärkt teilweise sogar den ›Frisson‹, weshalb viele mit dem entsprechenden Hashtag versehenen Videos Kompilationen aus einer Reihe oft gleichartiger Oddly Satisfying Videos sind. Das Anschauen dieser Videos bildet offenkundig eine durchaus bewusst erlebte und erstrebte Praxis der Selbstsorge.
Entspannung kann sich aber nicht nur aufgrund der angenehmen körperlichen Reaktion einstellen, sondern auch weil man sich beim Betrachten der Videos der Zeit-Ökonomie entzieht. Obwohl das vielleicht naheliegen mag, handelt es sich nicht immer um eine als passiv erlebte Prokrastination, vielmehr kann auch ein gewisser Genuss damit verbunden sein, sich selbst als verschwenderisch in Hinblick auf die eigene Zeit zu erfahren. Aber es ginge gewiss zu weit, die Videos als stille Gegenbewegung zum Produktions- und Fortschrittsdruck zu begreifen. Denn sie sind, wie die meisten Inhalte in den Sozialen Medien, zugleich extrem affordant, regen nicht nur zur Interaktion an – in den Kommentarspalten wird beispielsweise der befriedigende Effekt bewertet und klassifiziert –, sondern auch zur Produktion neuer Inhalte. Neben zahlreichen Reaction Videos, in denen der sinnliche Effekt der Videos auf die Zuschauenden eigens inszeniert wird, verführt die Einfachheit ihrer Machart zudem zum Kopieren: Ließe sich nicht eigentlich sehr leicht selbst etwas Schleim besorgen, den man vor der Kamera durch ein Nudelsieb quetscht?