Popwirtschaft in der Corona-Krise
von Klaus Nathaus
22.9.2023

Kreativer Lockdown

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 78-83]

An der vorletzten Hürde stürzt der bis dahin lange vorne liegende Hengst Aso. Ein Quartett geht an die Spitze, angeführt von Tiger Roll, der mit einem Sieg einen historischen Hattrick erringen würde. Kurz vor dem letzten Hindernis jedoch zieht Potters Corner am 5 zu 1 gesetzten Favoriten vorbei. Nach einem perfekten Satz über die finale Hecke erläuft sich der Zehnjährige einen Vorsprung von mehreren Längen, den Tiger Roll zwar aufholt, aber nicht mehr wettmachen kann. Potters Corner gewinnt das Grand National in Aintree, das wegen seiner Länge und schwierigen Hürden als ultimativer Test für Pferd und Reiter gilt.

Bei der jüngsten Auflage des erstmals 1839 veranstalteten Rennens allerdings hielt sich die Anstrengung in Grenzen. Denn tatsächlich standen die vierzig ›gestarteten‹ Pferde im Stall, und die Jockeys saßen statt im Sattel daheim auf dem Sofa. Da am Renntag, dem 4. April, längst ein Verbot öffentlicher Veranstaltungen wie Pferderennen bestand, strahlte der Fernsehsender ITV ein computersimuliertes Grand National aus, komplett mit Live-Kommentar und Publikumsatmosphäre. Millionen verfolgten das Rennen am heimischen Bildschirm am Samstagabend, zur gewöhnlichen Startzeit des Rennens. Gewettet wurde auch; die Gewinne der Buchmacher kamen dem National Health Service zugute.

Ganz so einfach, wie es die erstaunlich naturgetreue Animation suggeriert, lässt sich ein Pferderennen natürlich nicht in die virtuelle Welt transferieren. Mehr als ein paar Vollblüter-Avatare bleiben dabei auf der Strecke. Die Einsätze sind einfach nicht dieselben wie vor Mitte März 2020, sowohl im übertragenen als auch im wortwörtlichen Sinn. Womit diese Ökonomiekolumne beim unvermeidlichen Thema ist, nämlich den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Geschäft mit dem Populären. Leitend ist dabei die Frage, welche mittelfristigen Folgen die gegenwärtigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf die Popökonomie zeitigen werden. Wenn echte Pferde nicht um die Wette laufen dürfen, welche Attraktionen machen dann das Rennen? Wer profitiert davon, und welche Konsequenzen hat das für Machtverhältnisse im Kulturbetrieb und für das popkulturelle Angebot?

Zu den wenigen Profiteuren der erzwungenen Verlagerung des Vergnügens in die eigenen vier Wände gehören die eSports, die der eSport-Bund Deutschland (ESBD) definiert als »das sportwettkampfmäßige Spielen von Video- bzw. Computerspielen, insbesondere auf Computern und Konsolen, nach festgelegten Regeln«. Zu den populärsten Spielen gehört »League of Legends« (LoL), bei dem die Spieler in Avatare schlüpfen und gemeinsam versuchen, die Verteidigung des jeweils anderen Fünferteams zu durchbrechen und deren Kerngebäude (»Nexus«) zu zerstören. Spieler erwerben im Laufe der Kämpfe Eigenschaften und Erfahrung, mit denen sie in der LoL-Hierarchie aufsteigen. In »Counter-Strike: Global Offensive« (CS:GO) finden sich ebenfalls fünf Spieler zu einem Team zusammen, die entweder als »Terroristen« versuchen, in zweiminütigen Runden an einem von zwei vorab festgelegten Orten des Spielplans eine Bombe zu zünden, oder als »counter terrorists« diese »bomb sites« zu verteidigen.

LoL, CS:GO, »Call of Duty«, »Overwatch« und »Valorant« sind einerseits eine Form von Breitensport, der von hundert Millionen Spielern (seltener Spielerinnen) weltweit betrieben wird. Zugleich hat sich ein elektronischer Spitzensport ausgebildet, mit festen Teams und Stars, die zu Turnieren mit hohen Preisgeldern antreten. Bis etwa zum 15. März füllten diese Events Arenen mit zehntausenden Plätzen. In Deutschland etwa firmiert die gleich neben dem Kölner Dom gelegene Lanxess-Arena (18.000 Plätze) als »Kathedrale des Counter-Strike«. Der öffentliche Teil des eSports ist in Corona-Zeiten natürlich abgesagt oder verschoben worden, die Einnahmen aus dem Ticketverkauf sind somit verloren. Wettkämpfe finden ausschließlich virtuell statt, verfolgt von Zuschauern auf Plattformen wie Steam oder den Google- bzw. Amazon-Töchtern YouTube und Twitch. Diese Umstellung verlief durchaus nicht ohne Probleme. Da die Spieler nicht mehr gemeinsam auf einer Bühne sitzen, sondern auf mehrere Orte verteilt sind, kommt es vor, dass ein Athlet mitten im CS:GO-Gefecht die Internetverbindung verliert. Die dadurch bedingten Behandlungspausen kann der eSports-Betrieb jedoch verschmerzen. Während Fußball und Formel 1 wochenlang überhaupt nicht stattfanden, füllten die eSports das Vakuum, das die alteingesessenen Fernsehsportarten hinterlassen hatten. Zwischen dem 8. und dem 22. März stiegen die Zuschauerzahlen auf Twitch um 31 % von 33 auf 43 Millionen; andere Plattformen wie YouTube Gaming und Facebook Gaming verzeichneten ähnliche Zuwächse. Aber auch etablierte Sportsender wie ESPN und Sky Sports übertrugen vermehrt eSport-Events, darunter virtuelle Wettkämpfe in traditionellen Sportarten wie Fußball, Basketball und Autorennen. Prominente Profis wie Manchester Citys Raheem Sterling spielten um die FIFA-Meisterschaft, und bekannte Rennfahrer maßen ihre virtuellen Fahrkünste mit Fans aus aller Welt. Eine Verlagerung zugunsten von eSports lässt sich auch auf dem Markt für Sportwetten beobachten. Wichtiger als die Verdoppelung der für 2020 erwarteten Einsätze für eSports-Wetten auf 14 Milliarden Dollar – ein immer noch geringer Anteil am Gesamtvolumen der weltweiten Sportwetteneinkünfte, das bei fast 500 Milliarden Dollar liegt – ist dabei wohl die Tatsache, dass nach einer Umfrage im Vereinigten Königreich 30 % der auf eSports Wettenden dies zum ersten Mal taten.

Als Zwangspausenunterhaltung für Fans traditionellen Sports profitieren die eSports in erster Linie durch ihre ›Normalisierung‹. Noch vor nicht allzu langer Zeit drehte sich die öffentliche Diskussion über »Counterstrike« und Co. häufig darum, inwiefern diese Spiele Gewalt auslösen oder zu psychischer Abhängigkeit führen. Die eher wohlwollende Berichterstattung über den »Fortnite«-Hype vor ein, zwei Jahren hat dies bereits teilweise verändert. Dieser Trend dürfte sich durch die zunehmende Präsenz und Vermischung von eSports mit traditionellen Sportarten in der Corona-Krise beschleunigen. Er hat jetzt bereits einen Stand erreicht, an dem Gaming für andere, länger etablierte Popindustrien ein attraktiver Partner für intermediale Zusammenarbeit ist, wie der virtuelle Auftritt des Rappers Travis Scott auf einem »Fortnite«-Konzert Ende April illustriert. Größere Legitimität, zunehmende Aufmerksamkeit und vor allem die wachsende Aufenthaltsdauer auf Gaming-Plattformen sind Erfolgsbedingungen für eine Industrie, in der das Geld längst nicht mehr mit dem Verkauf einzelner Spiele verdient wird, sondern durch den Verkauf virtueller Waren in Spielen, vom Avatar-Design (»skins«) bis zu Fertigkeiten, Waffen und sog. »loot boxes«, die mitunter weniger enthalten, als sie kosten.

Geschäftlich ist Gaming längst gewichtiger als Film und Musik. Der globale Gesamtumsatz des Gaming wird für 2020 auf knapp 160 Milliarden Dollar prognostiziert, das Dreifache der weltweiten Kinoeinnahmen und etwa acht Mal so viel wie die globalen Einkünfte aus dem Geschäft mit ›recorded music‹. Die Hälfte des Einkommens aus dem Gaming wird übrigens im asiatisch-pazifischen Raum erzielt. Unter den gegenwärtigen Umständen floriert neben den Profiten auch das Reden – Twitter verzeichnete ein Anwachsen der gamingbezogenen Beiträge um 71 % – und möglicherweise auch das ernsthafte Nachdenken über Gaming als Popkultur. Das wiederum dürfte einerseits das Gaming vielfältiger und anspruchsvoller machen und andererseits unseren noch oft zwischen Hollywood und anglo-amerikanischer Popmusik aufgespannten Horizont erweitern.

Bei der weiteren Suche nach Profiteuren der Corona-Krise fällt der Blick auf Streamingdienste wie Netflix, deren Unterhaltungsangebote die Nachfrage unter Quarantänebedingungen perfekt zu bedienen scheinen. Tatsächlich verzeichnete Netflix für das erste Quartal 2020 einen Zuwachs von 16 Millionen Abonnenten weltweit, mehr als doppelt so viele wie vor Corona erwartet. Mehr Subskribenten – weltweit hat Netflix 183 Millionen Kunden, davon 63 Millionen in den USA – bedeuten nicht nur höhere Einnahmen, sondern haben auch die Netflix-Unternehmensanteile aufgewertet und erleichtern dem Unternehmen die Kreditaufnahme. Zudem profitiert Netflix davon, dass Filmstudios ihre Produktionen nicht in die Kinos bringen können und daher geneigt sind, sie Streaminganbietern zu überlassen. In dieser Weise beeinflusst die coronabedingte Einschränkung des öffentlichen Lebens die schon länger laufende Auseinandersetzung zwischen Streaming und Kino zum Vorteil der Onlineanbieter.

Problematisch für Netflix ist allerdings, dass der enorm angewachsene Konsum das Unternehmen zwingt, neue Inhalte zu liefern. Das wiederum hält die Ausgaben hoch. Schon 2019 gab Netflix 82 Dollar pro Abonnent für die Content-Beschaffung aus; innerhalb von zwei Jahren hatte sich dieser Posten von insgesamt 9 Milliarden auf 14,6 Milliarden Dollar erhöht. Eine Reduzierung der Programminvestitionen scheint angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Anbieter wie Disney+, Apple TV und HBO Max ebenso riskant wie eine Erhöhung der Abonnementgebühr. Auch die Erschließung bislang vermiedener Werbespots als neue Einkommensquelle könnte Kunden verprellen. Die kurzfristigen Vorteile, die für Netflix in der Corona-Krise liegen, verdecken die längerfristigen Herausforderungen für ein Unternehmen, das sich dauerhaft als weltweiter Unterhaltungsanbieter etablieren will.

Angeführt von HBO, hat das Bezahlfernsehen viele Jahre vornehmlich auf Qualität gesetzt und auf diese Weise in den vergangenen zwanzig Jahren das Serienformat revolutioniert. Der Selbstanspruch der Streaminganbieter orientierte sich dabei, wie der Name »Home Box Office« anzeigt, mehr am Kino mit seinen Nischen als am Massenmedium Fernsehen. Fraglich ist, ob sich diese Entwicklung fortsetzt, wenn das Coronavirus den Konkurrenzdruck des Kinos mindert und Streamingdienste zu ihrem eigenen Erhalt weiter wachsen müssen.

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Musikbranche. Dort kamen im vergangenen Jahr die Einkünfte gut zur Hälfte aus dem ›Live‹-Musikgeschäft; der Rest wurde durch die Verwertung von ›recorded music‹ erzielt. Der letztere Posten erreichte nach dem Bericht der International Federation of the Phonographic Industry (IFPI) 2019 weltweit einen Umsatz von gut 20 Milliarden Dollar, mehr als die Hälfte davon aus Streaming, der Rest aus Tonträgerverkäufen, Aufführungs- und Lizenzgebühren sowie Downloads. In den ersten Tagen der Corona-Krise sank, ein wenig überraschend, die Zahl der Musikstreams, vermutlich bedingt durch entfallende Fahrten zum Arbeitsplatz, gestiegenes Interesse an Nachrichten, aber auch den verstärkten Konsum von Serien und Onlinespielen. Im Unterschied zu Netflix und Gaming wirkte sich Corona zumindest kurzfristig negativ auf den heimischen Musikkonsum aus.

Auch wenn sich dieser Trend nicht fortgesetzt hat, ist es um das Musikgeschäft und insbesondere die kreativen Beschäftigten nicht gut bestellt. Da die meisten Musiker*innen, sofern sie überhaupt an der Musik verdienen, ihr Einkommen aus Konzertauftritten beziehen, sind sie von der Corona-Krise unmittelbar betroffen. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Tournee den Tonträger bewarb. Im 21. Jahrhundert hat sich dieses Verhältnis umgekehrt. Die Erträge aus dem Streaming sind zwar in den letzten Jahren stetig gestiegen. Sie sind jedoch insgesamt zu gering, um dem Gros der Musikschaffenden einen Lebensunterhalt zu sichern. Nach Berechnungen der »Financial Times« im letzten Jahr brauchte man über 600.000 Streams, um ein Einkommen in Höhe des US-Mindestlohns zu erzielen.

Spotifys Music Relief Project zur Unterstützung von Künstler*innen in Corona-Zeiten veranschaulicht die prekäre Lage, in der sich diejenigen befinden, die letztlich für die reichhaltigen Inhalte der Industrie sorgen. Die »Artist Fundraising Pick«-Funktion gibt Musiker*innen die Möglichkeit, ihr Publikum um direkte finanzielle Unterstützung anzugehen. Wie der Straßenmusikant, dem die Präsenz auf der großen Bühne versagt bleibt, spielen Musiker*innen auf Spotify für Kleingeld, mit dem »fundraising pick« als virtuellem Instrumentenkoffer, in den Hörer*innen ihre Münzen werfen können.

Streaming ist ein äußerst effektives – und augenblicklich alternativloses – Mittel für Künstler*innen, ein Publikum zu erreichen. Es macht die Streamingplattformen jedoch überaus mächtig. Zwar wird nicht erwartet, dass Plattenfirmen bzw. Musikverlage ihre Funktion als Intermediäre einbüßen werden. Mit wenigen Ausnahmen schalten Musiker*innen zur Vermarktung ihrer Musik weiterhin ein Label ein. Doch die Machtverhältnisse verschieben sich. Dass der Anteil der Musikstreams auf Spotify zugunsten lizenzfreier Angebote wie Podcasts zurückgegangen ist, bringt Spotify in eine günstige Verhandlungsposition gegenüber den Tonträgerfirmen. Ganz davon abgesehen hat die Orientierung an Streamingplattformen längst ästhetische Effekte gezeigt. Popsongs sind kürzer und ›snappier‹ geworden, um beispielsweise über TikTok-Videos Verbreitung zu finden und die Anspielzahlen zu erhöhen.

Insgesamt betrachtet betrifft die Corona-Krise insbesondere die vielen einzelnen, oft selbständigen Kreativen und Kulturunternehmer von der Musikerin zum Klubbetreiber in voller Härte. Diese Mehrheit der Popwirtschaft erfährt die Einschränkung des öffentlichen Lebens als drastischen Einschnitt. Ihre Notlage hat rasch Diskussionen um Unterstützung ausgelöst und zu Initiativen geführt. (Einen Überblick über (Selbst-)Hilfemaßnahmen der öffentlichen Hand und der Branche für Deutschland bietet die Webseite des Verbands »Kreative Deutschland«.) Richtet man indessen den Blick auf den Sektor als Ganzes und die dominanten Unternehmen, scheint die Virusbedrohung eher bestehende Trends zu verstärken bzw. zu beschleunigen als Strukturen zu erschüttern.

Diese Hypothese lässt sich historisch abstützen. Vor gut einhundert Jahren brachte schon einmal ein Grippevirus den Kulturbetrieb vorübergehend zum Stillstand. Die sog. Spanische Grippe, die 1918/19 ein Drittel der Weltbevölkerung befiel und über 50 Millionen Menschen tötete, führte wie Covid-19 zum zeitweisen Verbot öffentlicher Veranstaltungen. Im Herbst 1918 hielten in den USA 90 % der Theater geschlossen, und die übrigen 10 % vermeldeten, das Geschäft laufe so schlecht, dass sie ebenso gut dichtmachen könnten. Im Vergleich zur heutigen Pandemie waren die unmittelbaren Folgen der Grippe auf den Unterhaltungsbetrieb eher noch einschneidender, da in Zeiten vor dem Radio und dem Aufschwung der Grammophonindustrie, ganz zu schweigen von Fernsehen und Internet, die Möglichkeiten zur ökonomischen Verwertung des ›home entertainment‹ noch eng begrenzt waren und das kommerzielle Vergnügen öffentlich stattfand. Dessen ungeachtet wird die Spanische Grippe in Studien zur Geschichte der Unterhaltungsindustrie der Zeit nicht oder allenfalls am Rande erwähnt. Weder beim zeitgleichen Aufstieg von Hollywood noch bei der Verbreitung des Jazz scheint die Grippe eine Rolle gespielt zu haben. Überhaupt waren die wirkmächtigsten Faktoren in der Geschichte des kommerziellen Vergnügens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entweder technischer oder regulatorischer Natur. Radio und Tonfilm um 1930, die Verbreitung der Tonbandaufnahme und das Fernsehen Mitte der 1950er sowie das Internet um 2000 markieren Einschnitte in der Popgeschichte. Weniger offensichtlich, aber ebenfalls einflussreich, waren Änderungen des Urheberrechts (etwa 1891 in den USA) oder Gerichtsentscheidungen wie jenes Urteil aus dem Jahr 1948, das den Hollywood-Studios den Besitz eigener Kinos untersagte. Diese Faktoren haben Räume eröffnet für neue Akteure und alternative Inhalte. Grippeviren scheinen dagegen eher diejenigen zu begünstigen, die dank Unternehmensmacht und gut gefüllter Kassen zeitweilige Unannehmlichkeiten durchstehen können.

 

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