Schritt für Schritt zum automatisierten Kochkunstgericht
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 108-113]
Der Film »Im Rausch der Sterne«, eine Harvey-Weinstein-Produktion aus dem Jahr 2015, ist im Grunde nicht weiter erwähnenswert. Der Plot folgt der klassischen Struktur des Hollywood-Blockbusters. Adam Jones, gespielt von Bradley Cooper, ein Rockstar der gehobenen Küche mit ungesundem Hang zum Exzess, kommt nach drei Jahren selbstauferlegter Buße, in denen er in einem Restaurant in Louisiana exakt eine Million Austern geöffnet hat, drogenfrei und geläutert nach Europa zurück, um sich in London seinen dritten Michelin-Stern zu erkochen. Sein ehemaliger Freund und Kollege Montgomery Reece (Matthew Rhys) betreibt dort mittlerweile ein von Gastrokritik und Gästen gehyptes In-Lokal, hat seine drei Sterne aber letztlich für eine technisch hochgerüstete, minimalistisch unterkühlte, seelenlose Sous-Vide-Küche erhalten, die in scharfem Kontrast steht zum archaischen Brutzeln und genialischen Würzen an Adams Herd. Wo Adam ständig den Finger in irgendeine Soße tunkt und abschleckt, um dann, keinen Widerspruch duldend, zu verkünden »bei Deiner nächsten Cacio röste den Pfeffer […] und reib den Käste von Hand!«, schneiden die Köche in Reeces Küche auf den Punkt gegartes Essen aus Plastikfolien.
Adam und Reece streiten gerade lange genug, dass auch noch der letzte Zuschauer den Gegensatz zwischen Genie und Technologie, zwischen ›echtem Leben‹ und kalter Zweckorientierung begreift, dann stellt Adam sein kleines Küchenteam aus enthusiastischen Außenseitern zusammen und scheint auf dem besten Weg zum dritten Stern. Im entscheidenden Moment aber holt ihn seine Vergangenheit ein. Er scheitert spektakulär. Nach einem heftigen Absturz wacht er verkatert in Reeces Küche auf. Etwa 20 Sekunden lang sehen wir ihn am Boden sitzend im Gegenschnitt zu Reece, der – das zumindest scheint er nicht verlernt zu haben – in Großaufnahme ein Omelett zubereitet. Im offenen Regal hinter Adam steht dabei unübersehbar die verdichtete Chiffre für Reeces sterile Hochleistungsküche: ein Thermomix der Wuppertaler Traditionsfirma Vorwerk.
Spätestens jetzt verlieren die Sterne von Reece für den Zuschauer den Nimbus des Erhabenen. Was immer er in seinem Lokal servieren mag: keine Kunst. Mit dem Thermomix kann das schließlich jeder! Und tatsächlich, nur anderthalb Minuten später lehnt Reece rauchend an einer Küchenplatte und gesteht dem verblüfften Adam: »Du bist besser als ich. […] Du führst uns andere in Gefilde, in die wir ohne dich niemals kommen würden.« Der Thermomix, die Botschaft ist unschwer zu entziffern, mag vieles können, wahre Kunst aber bringt er nicht hervor. Nicht einmal Kunsthandwerk, genaugenommen. Wer sich auf ihn einlässt – und insbesondere wer dabei die Funktion des »guided cooking« mit seinen Schritt-für-Schritt-Anweisungen nutzt – verkauft seine Seele und degradiert sich selbst zum Küchenhelfer, der auf Aufforderung Möhren oder Zwiebeln oder Wasser oder einen Teelöffel Salz in einen Mixtopf gibt und auf den nächsten Fanfarenton wartet, der ankündigt, dass wieder etwas zu tun ist oder das Essen jetzt serviert werden kann.
So erscheint es jedenfalls Gegnern des Geräts. Und von denen gibt es viele. Der Thermomix polarisiert wie sonst vielleicht höchstens noch »Last Christmas« von Wham. Die einen treffen sich zu Thermomix-Partys, bzw., wie es in der Terminologie des Vorwerk-Universums heißt, zum »Erlebniskochen«, und ordern Comic-Bücher, T-Shirts mit dem Bild ihres »Thermi« und Schmuckanhänger in Form des vierschneidigen Mixmessers, die anderen halten das Gerät für das Ende der Kochkultur und nennen seine Benutzer abfällig »Thermomixer«. Wenn alles immer gelingt (und tatsächlich wirbt das Thermomix-Rezeptportal mit einer »Geling-Garantie«) – wo bleibt da die Herausforderung? Wo bleibt die Inspiration? Die Intuition? Die Angst vor dem Scheitern? Die Magie?
Der Soziologe Max Weber hat vor über einhundert Jahren den Satz von der »Entzauberung der Welt« geprägt. Weber verstand darunter das Vertrauen des modernen Menschen, kein Spielball geheimnisvoller, launischer Mächte mehr zu sein, sondern mit den Mitteln der Technik und der Rationalität (zumindest theoretisch) »alles« beherrschen zu können. Aufs Essen übertragen bedeutet das: Ein Cremesüppchen mit Kaffeeschaum oder Vichyssoise mit karamellisiertem Spargel als Vorspeise, dann ein Erdbeer-Avocado-Salat und Gemüsespaghetti mit Sesam-Erdnuss-Sauce, zum Abschluss gebackenes Eis unter der Baiserhaube oder Avocado-Trüffel – mit dem Thermomix kein Problem. Im kostenpflichtig abonnierbaren Rezeptportal »Cookidoo« kann man sich den Speiseplan für eine ganze Woche zusammenstellen und eine Liste der nötigen Zutaten ausdrucken. Oder man lässt sie sich gleich an die Haustür bringen. Eine Kooperation mit dem Lieferservice einer großen deutschen Supermarktkette macht’s möglich. Das Schwierigste am Kochen ist damit im Grunde, sich für ein Gericht zu entscheiden. Das Kochen selbst ist kinderleicht. Tatsächlich ist es mir in mehreren Monaten intensiver täglicher Nutzung kein einziges Mal gelungen, ein Gericht zu vermasseln. Geschmeckt hat es immer. Die Frage ist nur: Was ist ein gelungenes Essen wert, wenn es kaum Arbeit macht und man beim Kochen zu keinem Zeitpunkt Gefahr läuft, es zu ruinieren? Anders gefragt: Sind Gaumenfreuden legitim, die nicht mühsam errungen wurden? Ist das nicht geschummelt? Ein bisschen so, wie mit dem Elektro-Rad in die Berge zu fahren oder beim Kreuzworträtsel auf der Lösungsseite nachzuschlagen?
Zugegeben, das ist eine sehr protestantische Frage. Der schon erwähnte Max Weber hat in seinem Hauptwerk »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« das »katholische« Ideal des geruhsamen und bequemen Lebens dem »protestantischen« Asketismus gegenübergestellt. Müheloser Hedonismus, wie ihn der Thermomix bietet, ist demnach Sache des Protestantismus nicht. Geräte zu bauen, die die Arbeit effektiver gestalten, hingegen schon. So ist es vermutlich kein Zufall, dass der Thermomix ausgerechnet in Wuppertal erfunden wurde, im 19. Jahrhundert eines der Zentren der pietistischen Erweckungsbewegung in Deutschland. Bis heute lassen sich Spuren einer pietistischen Ethik in der Werbung für das Gerät ausmachen. Immer noch wird als zentrales Kaufargument auf der Homepage des Unternehmens an prominenter Stelle die Zeitersparnis genannt, die das Kochen mit dem Thermomix mit sich bringt. Zeit, die man für anderes nutzen kann. Nicht allerdings, um sich der kontemplativen Betrachtung des Schönen in Muße hinzugeben, sondern um weitere (im Idealfall gottgefällige) Werke zu tun. Man könnte ja zum Beispiel das Heer der weltweit über 42.000 »Repräsentanten« verstärken (besser: »Repräsentantinnen«, denn 90 % von ihnen sind Frauen) und selbst Erlebniskochabende veranstalten. Notfalls mit einem Leihgerät. Schafft man es, vier Thermomixe an den Mann bzw. die Frau zu bringen, bekommt man den eigenen kostenlos. Ansonsten gibt es Provisionen und, für besonders fleißige Repräsentantinnen, Einladungen und Reisen. Nichts also mit Faulenzen wegen der eingesparten Zeit. »Vollzeit-Mama und Erlebnisköchin? Beides geht!«, heißt es auf der Website.
Beides muss auch. Denn Vorwerk setzt nach wie vor auf ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Vertriebssystem. Der Thermomix wird ausschließlich über die »Repräsentantinnen« verkauft, die potenzielle Neukundinnen per »Erlebniskochen« von den Vorzügen einer knapp 1.400 Euro teuren Investition in ein Küchengerät zu überzeugen versuchen. Das klappt erstaunlich gut – womöglich gerade, weil, wie Tilman Allert einmal schrieb, der Thermomix »der Konkurrenz vergleichbarer Anbieter entzogen ist und man somit deutlich von den Zumutungen des üblichen Marktgeschehens unbehelligt bleibt«. Die »Welt« berichtete vor einigen Jahren, dass die Firma im Schnitt alle 30 Sekunden ein Gerät verkauft. Inzwischen scheint der Markt – zumindest in Deutschland – ziemlich gesättigt. Neue Abnehmer gewinnt der Thermomix vor allem durch biografische Brüche im Leben seiner Nutzer. Schenkt man den Aussagen von Repräsentantinnen Glauben, ist die Anschaffung eine Investition für Schwellenübertritte. Paare, die zusammenziehen, Brautpaare, Eltern, die ihr erstes Kind erwarten, und solche, deren Kinder das Haus verlassen, Geschiedene, frisch Verwitwete – der Kauf eines Thermomix scheint tatsächlich überwiegend jenseits der alltäglichen Konsumlogik zu spielen und an den Ausgang aus liminalen Phasen gebunden zu sein.
Einmal in der Küche aufgestellt, vollbringt das Gerät dann mühelos den doppelten Spagat zwischen der Elitenkultur einer gehobenen Küche, dem alle Jahre neu gefassten guten Vorsatz, sich endlich einmal gesünder zu ernähren, und der Massenkultur des Fertiggerichts. Kritiker mögen darin eine weitere Spielart der Kulturindustrie sehen, einen, wie Horkheimer und Adorno sagen würden, »Verblendungszusammenhang«, der eine utilitaristische Ideologie des Ergebnisses (›lecker!‹) privilegiert gegenüber traditionellen Wegen zu kulinarischer Perfektion. ›Per aspera ad astra‹, rufen die Gegner des Geräts denn auch und beklagen den Verlust der Sinnlichkeit des Kochens. Der Thermomix aber schreddert, für ein paar Sekunden auf die höchste Häckselstufe mit 10.700 Umdrehungen pro Minute gestellt, begleitet von der Lärmkulisse eines startenden Flugzeugs, mit seinem Mixmesser ungerührt alle Bedenken klein. Auch Krach lässt sich schließlich sinnlich wahrnehmen. Und im Austausch gegen ein bisschen Lärm ein cremiges Fruchteis aus gefrorenen Mangos, ein bisschen Zucker und Kokosmilch und sonst nichts in knapp 5 Minuten? Count me in!
Ja, der Thermomix verwandelt Essen in eine beliebig reproduzierbare Ware. Er ›entkunstet‹ die Kochkunst und macht sie nach Gutdünken konsumierbar. Er uniformiert die Essensbereitung und normiert den Geschmack. Auch den ästhetischen. Denn den Individualisierungsmöglichkeiten des Geräts sind enge Grenzen gesetzt. Im Grunde beschränken sie sich darauf, das Gerät zu bekleben oder zu bemalen. Der Zubehörshop gibt außer Ersatzteilen wenig her. Kein ›Pimp-my-Thermi‹ mit Edelstahlgaraufsätzen, farbigen Korpussen oder poppigen Designs. Der Thermomix sieht aus, wie er aussieht. Nicht wirklich schlecht, aber auch nicht unbedingt eine Schönheit. Und warum eigentlich sind die Mengenangaben im Rezeptportal fast immer für vier Personen gerechnet und lassen sich nicht per Knopfdruck für weniger Esser modifizieren? ›Wegen der Geling-Garantie unserer Rezepte‹, sagt die Thermomix-Repräsentantin. ›Weil die Normfamilie eben aus Mutter, Vater und zwei Kindern besteht‹, flüstert der Gesellschaftskritiker im Hinterkopf und macht sich daran, die Mengen per Dreisatz an den Zweipersonenhaushalt anzupassen. Das alles muss man nicht mögen.
Auf der anderen Seite: Kochen war für mich mehr als 35 Jahre lang eng mit Hoffen verbunden. Solange ich nur genug Gewürze in den Topf schmeiße und alles lange genug köcheln lasse, so die naive Zuversicht, wird es schon irgendwann nach irgendwas schmecken. Das hat auch erstaunlich oft erstaunlich gut geklappt. Mehr als zehn Standardgerichte aber hatte ich dabei, wenn ich ehrlich bin, nicht zuverlässig im Repertoire. Mit Kochbuch mehr. Aber nur unter Aufbietung einiger Mühe, einer vom vielen Auf- und Absetzen mit teigverschmierten Fingern verklebten Lesebrille und mit viel Blättern und Nachschlagen. Wie ging gleich Blanchieren? Wann hat man genug angedünstet? Was zum Kuckuck war wieder mittlere Hitze oder ein Garpunkt? Der Thermomix nimmt mir all das ab. Einmal den Kochvorgang gestartet, leitet er mich Schritt für Schritt zum fertigen Gericht. Und ›Schritt für Schritt‹ heißt wirklich: Schritt für Schritt. Wenn der Deckel geschlossen werden muss, erscheint auf dem großen Touchscreen-Display in einer Schriftgröße, die die Nutzung einer Lesebrille entbehrlich macht, die Anweisung, den Deckel zu schließen. Muss der Mixbecher für neue Zutaten gespült werden, liest man: »Mixbecher spülen«. Steht das nicht da, kann man sich das Spülen sparen. Dann wird halt schon ein wenig vorab vermischt, was sonst erst beim Anrichten zusammenkommen würde. Dass man einen Arbeitsschritt ausgeführt oder eine Zutat zugegeben hat, muss man per Druck auf den Weiter-Button am Display bestätigen. »Backblech mit Backpapier belegt? Set!« Man darf sich dann ein bisschen fühlen wie ein Pilot beim Runup-Check. Sollen Zwiebeln gehackt oder angebraten oder gedünstet oder karamellisiert werden, gebe ich lediglich solange Zutaten in den Becher, bis die automatisch zugeschaltete Waage sagt, es ist jetzt genug, und drehe den einzigen Drehknopf am Gerät bis zum Anschlag auf. Jedes Mal! Das ist tatsächlich ziemlich clever gelöst. Denn bis zu welcher Position er sich drehen lässt, gibt das Gerät je nach Bearbeitungsschritt vor. Den Rest macht es dann alleine. Es heizt, kocht, rührt, dünstet, schlägt, dampft – und was auch immer mit Lebensmitteln gemacht werden muss, damit daraus am Ende ein Gericht wird. Der Nutzer kann in dieser Zeit – da ist sie wieder, die protestantische Ethik – anderes tun.
Zum Beispiel auch: sich überlegen, was Vorwerk eigentlich mit all den Daten anfängt, die das Unternehmen über seine Nutzer sammelt. Bei der Installation einmal kurz nicht aufgepasst, hat man schnell zugestimmt, dass »zur Verbesserung der Qualität des Angebots« die Nutzerdaten des Rezeptportals an Vorwerk übermittelt werden. Ich stelle mir vor, wie da irgendjemand in Wuppertal über den Speiseplänen der Nutzer brütet und überlegt, was damit wohl anzufangen sei. Immerhin: man kann das Portal uneingeschränkt nutzen, ohne der Speicherung und Auswertung der persönlichen Daten zuzustimmen. Immer noch mag dann ein gewisses Unbehagen mitschwingen, wenn man sich bewusst macht, dass man beim »guided cooking« permanent online ist, vielen aber dürfte es am Ende gehen wie mir: Sie ignorieren, was sie eigentlich über Probleme des Datenschutzes denken, und nehmen den Thermomix einfach nur noch als einen kompetenten und extrem geduldigen (!) Lehrmeister wahr (Vorwerk spricht lieber von einem »persönlichen Assistenten«), der einen Schritt für Schritt durch noch die kompliziertesten Rezepte leitet und einem dabei en passant ziemlich viel übers Kochen beibringt – vor allem, wie wenig Zutaten es eigentlich braucht, wenn man es den Lebensmitteln gestattet, ein wenig nach sich selbst zu schmecken. Irgendwann gewöhnt man sich sogar an die Fanfare (wahlweise Ukulele), die nach jeder Zubereitungsphase unüberhörbar darauf aufmerksam macht, dass der nächste Bearbeitungsschritt ansteht. Die Tonfolge ist dabei übrigens ein aufsteigender Vierklang in A-Dur: C#-E-A-C#. Es würde mich wundern, wenn das Zufall wäre. Der A-Dur-Tonart wird in der Musiktheorie gerne ein glänzender, festlicher, wahlweise auch freudiger, vornehmer Charakter zugeschrieben. Das gilt auch für die erste Umkehrung des Grunddreiklangs als Sextakkord. Anders als der Grundform fehlen dem Sextakkord jedoch Fundament und Abschluss. Er hängt mit Beginn und Ende auf der großen Terz gewissermaßen in der Luft und drängt zum Weitermachen. Und erinnert den fleißigen protestantischen Koch auf diese Weise daran, dass ›nach der Arbeit‹ am Ende immer nur ›vor der Arbeit‹ ist.