Zur Geschichte und zu den heutigen Aufgaben deutscher Kunstmuseen
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 17, Herbst 2020, S. 128-138]
Die Geschichte des Kunstmuseums ist auch die Geschichte eines Kampfes mit sich selbst. Eigentlich noch nie wollten Museen so sein, wie sie waren. Der Idealismus, dem sie ihre Gründung und Entwicklung verdanken, sorgte dafür, dass man mit ihren realen Verhältnissen immer wieder haderte. Walter Grasskamp sprach in seinem Buchtitel sogar vom Kunstmuseum als einer »erfolgreichen Fehlkonstruktion«. Das heißt: Die hohen Ansprüche gegenüber Museen waren zwar unmöglich zu erfüllen, die fortwährende Auseinandersetzung mit dieser Unmöglichkeit ließ sie aber zu einer der wichtigsten und stärksten Institutionen werden, die moderne Gesellschaften hervorgebracht haben. Über zwei Jahrhunderte dialektisch veredelt, ist das Kunstmuseum heute interessanter denn je.
Worin aber liegt dieser Widerspruch begründet, in dem das Kunstmuseum mit sich selbst steht? Warum ist es eine Institution, die sich immer wieder selbst dementieren muss, um zu versuchen, sich gerecht zu werden? Dazu empfiehlt sich ein kurzer Rückblick.
Die revolutionäre Idee des Museums besteht darin, dass es Gemälde, Skulpturen und andere Artefakte erstmals in der Geschichte der bildenden Kunst jedem Interessierten zugänglich macht, unabhängig von dessen sozialem Status. Bevor es Museen gab, musste man Teil der höfischen Gesellschaft sein, um der Kunst teilhaftig zu werden. Oder man musste in Kirchen gehen, wo die Werke aber fest in religiöse Riten integriert und insofern nicht frei zu rezipieren waren. Mit dem Museum hatten insbesondere bildungsbürgerliche Milieus, die bis dahin nur als Zaungäste am Kunstgeschehen teilnehmen durften, einen institutionellen Sieg errungen. Aber als staatliche Institution sollte das Museum nicht nur ihnen, sondern allen Bürgern zugutekommen; in ihm sollte die Kunst von einer elitären und exklusiven Angelegenheit zu einer Sache von öffentlichem Interesse, zu einem öffentlichen Gut werden. Damit sprach man ihr eine bedeutendere gesellschaftliche Rolle als vormals zu. Von Anfang an brachte man das Museum so aber auch in eine Double-Bind-Situation, muss es doch sowohl der Wertschätzung gegenüber der Kunst – und ihren Werken – genügen als auch den Ansprüchen gerecht werden, die es gegenüber der Öffentlichkeit – also den Bürgern und Besuchern – hat. Beides zugleich zu erreichen, erwies sich aber als schwer, wenn nicht gar als unmöglich. Und daraus resultiert die fortwährende Auseinandersetzung des Museums mit sich selbst.
Dass die Kunst im Museum weder einen Preis noch einen individuellen Besitzer und einen durch diesen definierten Zweck hat, sorgte für eine erste Komplikation, die vor allem in der Frühzeit – im 19. Jahrhundert – viel diskutiert wurde. Zumindest ältere Werke erfuhren im Museum nämlich eine Verfremdung. Auf einmal repräsentierten sie nicht mehr den Überlegenheitsanspruch eines Fürsten, waren nicht mehr dazu da, dass man besser in eine religiöse Gebetsstimmung gelangt, fungierten nicht mehr als Instrumente im Zuge familiärer Identitätspolitik, waren nicht länger Medium der Diplomatie, hatten keine Bedeutung mehr als Staatsgeschenke, Erbmasse oder Geldanlage. Das Museum reduzierte sie vielmehr darauf, eine Idee von Kunstgeschichte zu illustrieren und als Exempel von Kunst das zu leisten, was man von dieser – oft in geradezu religiöser Überhöhung – erwartete: Erbauung, Erkenntnis, Sinnstiftung, Weltveränderung. Einen so starken und abrupten Funktionswandel aber überstanden viele Werke nicht unbeschadet. Sie verloren ihre ursprüngliche Bedeutung, ohne die neuen Erwartungen erfüllen zu können – und verschwanden daher früher oder später oft in den Depots. Erst recht erschienen sie – zumindest sensibleren Rezipienten – als gestrandet und fragmentiert, als herausgerissen aus ihrer angestammten Lebenswelt und damit als deprimierende Relikte großer vergangener Zeiten, als Untote oder gar als gänzlich Tote. Der noch lange als Schreckensbild virulente Topos vom Museum als Mausoleum, als Grabstätte, Friedhof oder Kältekammer hatte hier seinen Ursprung.
Statt seinem Anspruch gerecht zu werden, die größten Werke zu bewahren, musste das Kunstmuseum sich also nachsagen lassen, sie zu ruinieren. Da man in ihm noch keine kunstsoziologischen Aspekte behandelte, gelang es oft nicht, Werke, die ursprünglich von einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht – meist einer Elite von Reichen und Mächtigen – geprägt waren und die deren Lebenshaltung und Werte zum Ausdruck brachten, so aufzubereiten, dass sie auch ganz anderen Milieus, zudem Menschen eines späteren Jahrhunderts verständlich werden konnten.
Die Lage änderte sich, als Museen nach und nach anfingen, nicht nur Werke vergangener Epochen, sondern auch halbwegs aktuelle Kunst zu erwerben – und als vor allem immer mehr Werke in die Sammlungen gelangten, die von vornherein für die Bedingungen musealer Räume geschaffen wurden. Sie entstanden in Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte, sollten diese jeweils sowohl dementieren als auch fortsetzen – und sie sollten Kunst sein: nichts sonst. Statt machtpolitische, ökonomische oder andere individuelle Interessen zu bedienen, waren sie also ganz darauf ausgerichtet, den Alltag der Menschen zu transzendieren, ihren Blick auf die Welt zu verändern, sie intellektuell zu stimulieren, mental zu erden, spirituell zu reinigen.
Passend zu diesen geradezu religiösen Erwartungen strebte das Kunstpublikum genauso wie die Mehrheit der Künstler nach Intensitäts-, aber auch nach Exklusivitätserfahrungen. Das führte dazu, dass viele Werke in der Moderne zunehmend verrätselt, anspielungsreich, schwer zugänglich angelegt wurden – oder dass sie provozieren, gar weh tun sollten. Statt einer reichen Elite – individuellen Besitzern – vorbehalten zu sein, sollten sie nun den – nicht-besitzenden – Rezipienten die Chance geben, durch Bildung, Geduld und hermeneutische Hartnäckigkeit ihrerseits exklusiven Zugang zur Kunst zu finden. Auf jeden Fall sollten die Werke sich von profanen Artefakten unterscheiden und denen, die sich damit beschäftigten, ein Gefühl von Eingeweihtheit, vielleicht sogar von Überlegenheit bereiten. So blieb bildende Kunst ihrem Charakter nach so elitär wie zuvor, gehörte anstelle eines Geld- und Machtadels nun jedoch einem Geistesadel. Effekte wie Verfremdungen, Stilbrüche oder konzeptuelle Aufladungen sorgten zuverlässig dafür, dass Kunst einer großen Mehrheit weiterhin – nun nur auf andere Weise – verschlossen blieb.
Pilgerten erwartungsvolle Bildungsbürger in adventistischer Gestimmtheit ins Museum, so fanden selbst von ihnen dort nicht alle, was sie suchten. Erst recht aber wurden viele andere Besucher enttäuscht, denen es nicht gelang, sich als eingeweiht zu erleben. Der Museumsbesuch frustrierte nun also nicht mehr, weil das Museum die gezeigten Werke nur als Kunst zuließ und entsprechend umfunktionierte, sondern rief Enttäuschungen hervor, weil sie von vornherein nur als Kunst gedacht waren.
Die Leitmetapher der ›Öffnung‹
So wie das Museum im 19. Jahrhundert beschuldigt wurde, die in ihm gesammelten Werke zu entfremden, geriet es im 20. Jahrhundert in den Verdacht, einen großen Teil der Besucherschaft zu entfremden und allein ein bildungsbürgerlich-kunstreligiöses Spartenpublikum zufriedenzustellen. In beiden Fällen aber war die Diagnose möglich, Kunst und Leben hätten sich voneinander getrennt – dies zugleich ein weiterer prominenter Topos der Moderne und genauso an die Institution des Museums geknüpft wie der Friedhofs-Topos.
Zwar hatten schon die Avantgarden eine Versöhnung von Kunst und Leben propagiert (und darum zum Teil gegen das Museum polemisiert), und im frühen 20. Jahrhundert war auch eine größere Museumsreformbewegung entstanden, die Hemmschwellen senken und besucherfreundlichere Programme durchsetzen wollte, doch wurde erst im Gefolge von 1968 konsequent und unter Ägide der Politik versucht, das Museum zu einer Institution umzubauen, in der jegliche Entfremdungserfahrung aufgehoben wird. Die kunstreligiöse Programmatik erhielt nun einen stark sozialdemokratischen Akzent; man wollte, dass gerade auch Besucher aus anderen als bildungsbürgerlichen Milieus in den Genuss kamen, sich eingeweiht in die Kunst und bereichert von ihr zu fühlen. Es wurde also Ernst mit dem Anspruch gemacht, dass die Kunst, sofern sie über positive – reinigende, erkenntnisstiftende, erneuernde – Kräfte verfügt und ein öffentliches Gut darstellt, auch wirklich von allen Menschen rezipiert werden kann.
Zugleich verfestigte sich die Überzeugung, dass die Kunst nur innerhalb des Museums ihre positiven Kräfte zu entfalten vermag und diese nur dort gerecht verteilt werden können. Hilmar Hoffmann, der die schon bald legendäre Losung »Kultur für alle« in seiner Funktion als Kulturreferent der Stadt Frankfurt/Main ab 1970 in Umlauf brachte und erfolgreicher als andere dafür warb, sprach in dem wichtigen Vortrag »Das Museum in kulturpolitischer Sicht« im Folkwang-Museum Essen im Jahr 1974 von der sozialen »Vermittlerrolle« des Museums. Dieses sei »erst dann […] demokratisch«, »wenn es durch entsprechendes Angebot die Nicht-Kunstbeflissenen, die für die Kunst Nicht-Motivierten zum Besuch motivieren hilft«. Hingegen würden »Kulturinstitute« sich »unsozial« verhalten, wenn sie »die kulturelle Welt der wenigen« auf eine Weise präsentierten, die weiterhin eine »Diskriminierung« von »vielen anderen« darstelle.
Damit wurde der Demokratisierungsanspruch des Museums erneuert und insofern strenger interpretiert als bisher, als man die Aufmerksamkeit nun ausdrücklich auf die Mehrheit richtete, die einen Bogen um Museen machte. Die Museen sollten fortan nicht mehr nur der Idee nach allen Menschen offenstehen, sondern sehr viel dafür tun, dass diese auch wirklich kommen und vor allem wiederkommen, also nicht enttäuscht werden. Um das zu erreichen, musste man jedoch die Bedeutung hehrer Bildungsideale sowie von Kategorien der Kunst und Kunstgeschichte relativieren, da sie zu elitär – zu stark auf das bildungsbürgerliche Kernpublikum zugeschnitten – waren. Vor allem aber musste man damit beginnen, die anspruchsvollen Werke, die für das Museum und jenes Kernpublikum geschaffen waren, für das gewünschte neue, viel diversere Publikum eigens zu vermitteln. Man begann mit mehr Wandtexten und Führungen, bemerkte dann erst, wie heterogen die Voraussetzungen und Erwartungen bei verschiedenen Arten von Besuchern waren und entwickelte sukzessive immer weitere Formate der Vermittlung, vor allem auch Angebote, die sich nicht mehr auf verbales Erklären von Kunst beschränkten.
Doch wenn man eine Kunst, die hermetisch, rätselhaft, schwierig sein will, allgemein zugänglich zu machen versucht, damit niemand mehr von Eingeweihtheit ausgeschlossen ist, dann bedeutet Vermittlung auch – einmal mehr – Verfremdung. Wie man alte Werke im frühen Museum auf Kunst reduzierte und so gegen ihre Bestimmung behandelte, passiert es im heutigen Museum oft, dass man Werke, die exklusiv als Kunst intendiert waren, zum Anlass für soziale Projekte nimmt, auf einzelne Aspekte (z.B. die Werktechnik) einschränkt oder in andere Formen übersetzt, damit unterschiedliche Besucher etwas damit anfangen können. Man tut ihnen also mehr oder weniger Gewalt an, macht sie zu etwas, das sie nie sein sollten. Sie fungieren als Inspirationspool für Kreativworkshops, als Ausgangspunkt für Veranstaltungen mit sozialen Minderheiten oder als Aufhänger für eine gesellschaftspolitisch aktuelle Diskussion – aber kaum einmal als Gegenstand von Kontemplation und Interpretation, worauf es hingegen viele Künstler angelegt hatten.
Manche Angebote der Vermittlung und Inklusion wirken sogar wie ein Bußprogramm: Als wollten die Museen es nachträglich wiedergutmachen, dass sie so lange Kinder, Kranke, Fremde, sozial Schwache, Familien, Senioren, Blinde und viele, viele andere vernachlässigt haben. Wenn es mittlerweile kaum einen anderen Ort gibt, in dem man so oft auf Texte in ›Einfacher Sprache‹ trifft wie im ehedem bildungsbürgerlichen Museum, dann könnte man darin sogar eine Art von verbaler Reparationszahlung sehen – eine späte Sühneleistung für all die fremdwortreichen, syntaktisch komplexen, bildungsbeflissenen Wand- und vor allem Katalogtexte, mit denen man sich lange Zeit so gerne profilierte.
Tatsächlich haben sich die Museen in den letzten fünfzig Jahren stärker verändert als in den hundertfünfzig Jahren davor. Vieles von dem, was im Klima von 1968 gefordert wurde und zuerst utopisch geklungen haben mochte, ist mittlerweile selbstverständliche Realität. Das betrifft nicht nur das Vermittlungsprogramm, sondern auch Art und Menge von Sonderausstellungen, die mit der ständigen Sammlung sowie zusätzlich zu ihr ausgerichtet werden, die Einbeziehung neuer Medien, aber selbst gastronomische Angebote und Museumsshops, an die man damals ebenfalls bereits gedacht hatte, um mehr Alltag in die heiligen Hallen zu bringen. Die vielen Aktivitäten finden mittlerweile zudem fast immer in Neu- oder zumindest in Erweiterungsbauten statt. Mit der Zahl der Aufgaben und Besucher sind also auch die räumlichen Ressourcen der Kunstmuseen gewachsen. Dabei reflektiert die neuere Museumsarchitektur oft die Leitmetapher der Öffnung, unter deren Schirmherrschaft sämtliche Veränderungen des letzten halben Jahrhunderts stattfanden – und die als ausdrückliches Gegenbild zu jenem Schreckensbild vom Museum als Mausoleum fungiert. Man spricht von der Öffnung für neue Besuchergruppen, von der Öffnung disziplinärer Grenzen im Umgang mit Kunst, von der Öffnung der angestammten Museumsfunktionen hin zu gesamtgesellschaftlichen Anliegen, von der Öffnung des Kanons oder der Öffnung von historisch-systematischen Anordnungen zugunsten von thematischen, assoziativen, immer wieder veränderbaren Arrangements.
Es mag überraschen, dass die Leitmetapher ›Öffnung‹ in Ausschreibungen und Entwürfen für Museumsneubauten auch heute immer noch dominant ist und trotz der vielen in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Veränderungen sogar nach wie vor als eine ganz neue Idee präsentiert wird. Doch zeigt sich daran auch, wie viel an Übersetzungs- und Transformationsarbeit nötig ist, um Kunst allgemein zugänglich zu machen – um sie zu ›öffnen‹. Selbst die zahlreichen Bemühungen der letzten Jahrzehnte sind deshalb offenbar bloß erste Schritte und ein unbeholfener Anfang, und da allen Umfragen zufolge nach wie vor nur eine Minderheit aller Menschen in Kunstmuseen geht, dürfte die Umsetzung des Imperativs »Kultur für alle« – sofern man ihm weiter folgen sollte – noch etliche Generationen benötigen.
Neue Herausforderungen der Vermittlungspraxis
Um eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen: Die Geschichte des Kunstmuseums lässt sich so beschreiben, dass auf eine Form von Entfremdung jeweils reagiert wurde, indem man eine andere Form von Entfremdung in Kauf nahm. Wechselweise vernachlässigte man entweder die Ansprüche des Publikums und die Idee der Kunst als einem öffentlichen – allen zugänglichen – Gut, oder man wurde den Werken – und damit auch den Künstlern – nicht gerecht. Die Double-Bind-Situation des Museums führte wiederholt zu Korrekturen von Einseitigkeiten, ohne dass es jedoch jemals möglich gewesen wäre, eine grundlegende Unwucht zu überwinden. Aber gerade diese sorgt auch dafür, dass das Museum immer in der Diskussion, im Modus des Experiments bleibt und seine eigenen Grenzen immer wieder neu ausloten muss.
Dass bildende Kunst ihrem Charakter nach – anders als viele Formen von Literatur, Theater oder Musik – bisher immer elitär-exklusiv, immer Sache einer entweder materiell oder intellektuell privilegierten Minderheit geblieben ist, lässt sich als Hauptgrund für die Schwierigkeiten anführen, die das Museum mit sich selbst hatte und bis heute hat. Kaum einmal wurde dieses zentrale Problem besser formuliert als von Karl Ernst Osthaus, dem Gründer des zuerst Hagener, dann Essener Folkwang-Museums. In einem 1919 publizierten Aufsatz mit dem Titel »Über die Aufgabe der Museen« bestimmte er das Museum im kunstreligiösen Impetus der Zeit als einen Tempel. Vor allem aber dachte er es in Analogie zur Kirche, interessanterweise gerade zur Kirche des Mittelalters. Mit dieser verbinde das Museum, so Osthaus, eine »Mittlerrolle zwischen den reichen und den bedürftigen Seelen«.
Fünfzig Jahre vor Hilmar Hoffmann würdigt Osthaus das Museum damit als einen sozialen Ort von großer gesellschaftspolitischer Relevanz: als einen Ort der Vermittlung zwischen verschiedenen Milieus. In ihm treffen Artefakte, die den Geschmack und die Möglichkeiten von »reichen Seelen« ausdrücken, auf die Erwartungen von »bedürftigen Seelen«. Die »reichen Seelen« können über mehr Macht oder über mehr Einsicht als andere verfügen, die »bedürftigen Seelen« mögen nach Trost, Heil und Erbauung oder nach Inklusion, Anerkennung und Empowerment suchen, doch so variabel ihre konkrete Gestalt jeweils sein mag, so sehr stehen diese beiden Typen von Seelen jeweils in einem Gegensatz zueinander. Meist leben sie ihr Leben getrennt voneinander, bemerken die Existenz der anderen trotz wechselseitiger Abhängigkeiten nur indirekt und nehmen sich fast nur auf der Grundlage starker Vorurteile wahr. Aber im Museum treffen sie tatsächlich in diversen Konstellationen aufeinander – sei es, dass soziale Minderheiten mit prunkvoll-repräsentativen Werken höfischer Kunst konfrontiert werden, dass Flüchtlinge plötzlich anspielungsreicher moderner Kunst gegenüberstehen oder dass in derselben Ausstellung anspruchsvolle Bildungsbürger neben Menschen mit einem Handicap stehen. Und immer wieder wird vom Museum erwartet, diese Gegensätze auszugleichen – und es zu schaffen, dass der noch so exklusiv-elitäre Charakter einzelner Werke niemanden mehr verprellt, sondern dass diese selbst und gerade für Menschen am anderen Ende der Gesellschaft fruchtbar werden.
Die »Mittlerrolle« des Museums, von der Osthaus hellsichtig sprach und die seit Hoffmann und der Formel »Kultur für alle« außer Frage steht, erfährt aktuell aber bereits eine neue, eine nächste große Herausforderung. So entsteht im Unterschied zur Moderne seit rund zwei Jahrzehnten nämlich wieder vermehrt Kunst, die nicht genuin für das Museum bestimmt ist, sondern die sich an private Käufer und Sammler – an individuelle Besitzer – richtet. Infolge der Wohlstandskultur wird deren Anzahl immer größer, und so stark die Preise auf dem Kunstmarkt auch steigen mögen, so stark wächst erst recht die Kaufkraft vieler Reicher und Superreicher. Daher nähert sich die zeitgenössische Kunst bezüglich ihrer gesellschaftlichen Rolle wenigstens zum Teil wieder den Zeiten der höfischen Kultur an; sie steht in zunehmender Selbstverständlichkeit erneut auf der Seite der Mächtigen.
Die wenigsten von ihnen aber sind heute noch kunstreligiös gestimmt. Sie suchen kein Heil in der Kunst, sondern benötigen sie wenn nicht zur Geldanlage, dann zur Repräsentation, Legitimation und Steigerung ihrer Macht und ihres gesellschaftlichen Status. Daher interessieren sie sich aber für Werke, die gerne noch so spröde und abweisend wie in der Moderne sein, aber vor allem nicht harmonisch, gefällig, schön erscheinen dürfen. Dann nämlich würden auch ihre Besitzer einen zu harmlosen und biederen Eindruck machen. Je schroffer, arroganter, kälter die Kunst hingegen ist, ein desto cooleres Image lässt sich damit aufbauen. Und je unfreundlicher – heftiger, unkonventioneller – die Werke wirken, desto mehr Distinktionskraft entwickeln sie, erscheinen doch dann auch diejenigen unheimlich und überlegen, die viel Geld dafür ausgeben. Spielarten der Verweigerung befördern nun also keine bildungsbürgerliche Exklusivität mehr, sondern fungieren als Mittel statussymbolischer Distanzierung.
Derartige Repräsentationskunst gelangt aber auch ins Museum, sei es direkt, weil sie dorthin verliehen oder gestiftet wird, sei es indirekt, weil sie aufgrund der großen Aufmerksamkeit, die sie vor allem aufgrund ihrer hohen Preise genießt, stilprägend auf andere Künstler wirkt. Damit wiederholt sich jedoch grundsätzlich das Problem aus der Frühzeit der Museen. Wie damals sind die Werke im Museum ihrer repräsentativen Dimension, der Lebenswelt ihrer Käufer und Auftraggeber beraubt – und sollen auf einmal vor einem breiten Publikum, unabhängig von Imagepolitik bestehen. Doch im Unterschied zur Situation des 19. Jahrhunderts treffen die Besucher nicht mehr unvermittelt auf die Werke, nimmt das Museum seine Mittlerrolle doch viel ernster als damals. Es lässt kunstsoziologische Aspekte nicht pauschal außen vor, vor allem aber verwandeln die Formate der Kunstvermittlung die Werke derart, dass all das Spröde, Schroffe, Arrogante, das sonst exklusiv wirkt, aufgefangen wird. Bestenfalls gelingt es sogar, Werke, die sonst ein Kopfschütteln auslösen und verunsichern, so einzusetzen, dass Menschen sich davon motiviert und in ihrem Selbstvertrauen gestärkt fühlen. Dann wird das Museum zum Ort einer doppelten Verwandlung; es reißt nicht nur aus Kontexten, sondern stiftet auch neue Funktionen.
Vielleicht sind mittlerweile sogar gerade die Werke zeitgenössischer Kunst am bekanntesten, mit denen einerseits die wenigen Sieger der Gesellschaft ihre Macht demonstrieren und an denen andererseits die vielen Verlierer der Gesellschaft sich ein wenig aufbauen können – die also für die »reichen« wie für die »bedürftigen Seelen« gleichermaßen eine wichtige Rolle spielen. Es sind damit zugleich die Werke, welche die dramatischen sozialen Unterschiede geradezu obszön sichtbar machen, die aber im Museum – und dank dessen Mittlerfunktion – als Instrumente einer befriedenden Sozialpolitik fungieren.
Man denke etwa an die vielen Varianten abstrakter Gemälde Gerhard Richters. Mit ihren grellen, oft disharmonischen Farben, gespachtelt, gerakelt, verschmiert stehen sie in der Tradition der Moderne – und sind zuerst einmal als exklusive Herausforderung für die bildungsbürgerlichen Kernmilieus der Kunstwelt geeignet, die sie zum Gegenstand von Reflexionen über Bildlichkeit oder über den Ort künstlerischer Begabung machen können. Doch dass diese Gemälde erkennbar schnell und mit alles andere als besonderen Materialien entstanden sind, für manche zudem kalt, beliebig, schroff anmuten, macht sie auch – und erst recht – für repräsentative Zwecke der »reichen Seelen« interessant. Dazu kommt, dass die oft sieben-, manchmal sogar achtstelligen Preise einschüchternd wirken. Da diese nicht zu verstehen sind, lassen sie also auch diejenigen, die sie zahlen, als unheimlich und ›anders‹ erscheinen. Die Mischung von Machart und Preis sorgt somit für maximale Distinktionskraft, die zudem dadurch abgesichert ist, dass die Gemälde auf den ersten Blick als ›Richters‹ erkennbar sind.
Doch gerade weil die Gemälde nichts an sich haben, was auf einmalige Fähigkeiten des Künstlers schließen lässt, weil ihr Aussehen vielmehr sogar von zufälligen Faktoren abhängig zu sein scheint, lässt sich ihre exklusive Wirkung ins Gegenteil wenden. Die Machart der Bilder liefert nämlich einen geradezu idealen Ansatzpunkt für eine praktische Kunstvermittlung, die sich an bedürftige Seelen, also etwa an Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus oder an Erwerbslose wendet. Sie, die sonst oft die Erfahrung machen, etwas nicht zu können oder von etwas ausgeschlossen zu sein, werden angeleitet, im Stil eines solchen abstrakten Bildes selbst mit bunten Farben zu agieren, spontan ungewohnte Kontraste zu wagen oder sich in gestischen Malweisen zu versuchen. So können sie Emotionen zum Ausdruck bringen und am Ende sogar ein wenig Werkstolz entwickeln, dürfen sich also ihrerseits als kleine Künstler fühlen und zumindest kurzfristig mit ihrer sozialen Stellung versöhnen.
Dieselben Werke können somit für die am weitesten voneinander entfernten Milieus der Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen; sie taugen dem bildungsbürgerlichen Kernpublikum als intellektueller Stoff, sie sind für den neuen Adel exklusive Statussymbole und sie eignen sich für unterprivilegierte Milieus als integrative Motivationsbilder. Diese plurale Verwendbarkeit ist historisch neuartig, wäre aber ohne das Museum nicht möglich. Das zeigt, wie gut es seine gesellschaftspolitische Rolle als eine Institution des Vermittelns inzwischen zu erfüllen vermag.
Paradoxerweise helfen die zum Teil exorbitant hohen Kunstmarkt-Preise den Museen sogar noch dabei, den Imperativ »Kultur für alle« zu erfüllen. Immerhin wecken diese Preise bei vielen Menschen erstmals eine gewisse Neugier auf Kunst – und wo sollten sie, die nie das Geld hätten, um selbst aktiv auf dem Kunstmarkt zu werden, diese besser stillen können als in Museen und Ausstellungshäusern? Angelockt von Sensationsmeldungen über Preisrekorde kommen plötzlich also auch bisher kunstabstinente Besucher. Und dass sich Kunstmuseen in Zeiten des Marktbooms zugleich weniger gut als früher über Neuerwerbungen profilieren können, bringt ihre Direktoren erst recht dazu, gesellschaftspolitisches Engagement und die Etablierung neuer Vermittlungsformate zum Gradmesser ihres Erfolgs zu machen. Ohne den Boom des globalisierten Kunstmarktes hätte der Strukturwandel der Museen hin zu Vermittlungsinstanzen in den letzten zwei Jahrzehnten kaum so viel Dynamik erfahren.
Allerdings deuten sich bereits neue Komplikationen für das Museum an. Als nächstes könnte sich nämlich erstmals das bildungsbürgerliche Stammpublikum entfremdet, nicht länger erwünscht oder sogar ausgeschlossen fühlen. Konfrontiert mit einer zeitgenössischen Kunst, die lieber zum Repräsentieren und Imponieren als zu Reflexion, Erkenntnisgewinn und Veränderung verwendet wird, und allmählich in der Minderheit gegenüber einem Publikum, das seinerseits kein Interesse an Kunst als Kunst hat und von den Angeboten, die das Museum macht, darin sogar noch bestätigt wird, drohen anspruchsvolle Besucher in kulturpessimistischen Frust zu verfallen. Sie sehen das Museum gar als Opfer einer Querfront von Markt und Masse, und statt es als Vermittlungsleistung zu würdigen, dass für Superreiche und sozial Schwache auf einmal dieselben Werke sinnvoll sein können, beklagen sie den Verlust von Bildungsansprüchen und eine Entwürdigung der Kunst zum bloßen Reiz und Spektakel.
Dabei unterschätzen sie jedoch, welch gewaltigen Veränderungen die Kunstwelt insgesamt ausgesetzt ist. So ist der Kunstmarkt, aber auch ein erheblicher Teil des Großausstellungsbetriebs mittlerweile ziemlich globalisiert, wird also von Akteuren verschiedener Kulturen und Kontinente bespielt. Viele derer, die heute mitbestimmen, was als Kunst gehandelt und ausgestellt wird, sind somit weder mit westlicher Kunstgeschichte noch mit dem westlichen – bildungsbürgerlich-kunstreligiösen – Verständnis von Kunst sozialisiert worden. Für sie ist es daher etwa ein fremder Gedanke, dass Kunstwerke sich grundlegend von anderen Typen von Artefakten unterscheiden und ihren einmaligen Wert darin haben sollen, jedem, der sich damit beschäftigt, Sinn, Freiheit, Selbstbestimmung, Transzendenz zu versprechen.
So wenig selbstverständlich darum heute noch eine klare Unterscheidung zwischen freier und angewandter Kunst ist, so wenig aber auch die zwischen Kunst und Luxus, Kunst und Mode, ›high‹ und ›low‹ oder Kunst und Aktivismus. Vieles bisher klar voneinander Getrennte scheint vielmehr insofern zusammenzugehören, als es jeweils Prominenz, Glamour, ein gutes Image besitzt. Nicht mehr zwischen Kunst und Nicht-Kunst verläuft die entscheidende Linie, sondern zwischen globaler und lediglich lokaler Berühmtheit. Damit gehören Koons und Gucci, Apple und Takashi Murakami auf einmal in dasselbe Genre.
Wie weit sich der westliche Kunstbegriff und Kanon, ja die Kriterien der Kunstgeschichte bereits relativiert haben, wurde in den letzten Jahren vor allem bei den großen – global agierenden – Auktionshäusern offenbar. So versteigerte Christie’s 2017 das Leonardo zugeschriebene Gemälde »Salvator Mundi« unter »Post-War and Contemporary Art«, weil sich hier viel mehr potente Käufer engagieren als bei Renaissancekunst. Aber auch ein Ferrari lässt sich heute ganz selbstverständlich zwischen Andy Warhol und Mark Rothko unter »Contemporary Art« auktionieren, wie im selben Jahr Sotheby’s bewies. »Contemporary Art« wird so zur Rubrik für alles, was besonders teuer und luxustauglich ist und sich bevorzugt an die rund 2000 Milliardäre richtet, die es weltweit gibt.
Indem die Grenze zwischen Kunst und anderem an Geltung verliert, wird es aber sogar möglich, dass Artefakte, über die Kunstkenner in ihrer Fixierung auf Hochkultur bisher die Nase rümpften, auf einmal alle Weihen des Kunstbetriebs bekommen. Auch hier ist dann nur noch das Ausmaß an Prominenz entscheidend. So war es ein weiterer Markstein in der Geschichte der Auflösung bildungsbürgerlicher Kunstvorstellungen, dass im Herbst 2019 ein Gemälde von Banksy wiederum bei Sotheby’s für einen zweistelligen Millionenbetrag versteigert wurde. Damit handelt es sich bei ihm endgültig nicht mehr nur um einen Street-Artist, sondern um jemanden, den das breite Publikum unbedingt auch im Museum sehen will. Ähnliches gilt für andere Stars, die im offiziellen westlichen Kunstbetrieb kaum jemand kennt, die aber vielleicht bei Instagram siebenstellige Follower-Zahlen haben und bei Versteigerungen bald schon ähnliche Summen erzielen könnten wie Banksy.
So zeichnet sich ab, dass das, was unter bildender Kunst Erfolg hat, erstmals von vornherein nicht mehr exklusiv-elitär zu sein braucht. Vielmehr dürfte es künftig eine Popkunst so geben, wie es eine Popmusik gibt, und eine Unterhaltungskunst dürfte so selbstverständlich sein wie Unterhaltungsliteratur. Sofern die Museen dieser Entwicklung folgen, werden sie sich auch für die neuen, populären Formen von Kunst öffnen, werden künftig also die Werke von Game Designern, Manga-Zeichnern oder Make-up-Artists präsentieren. Täten sie es nicht, wäre ihr Imperativ »Kultur für alle« unglaubwürdig. Sie missachteten die Chance, ihm so gut wie noch nie zuvor gerecht werden zu können.
Doch für ihr bildungsbürgerliches Kernpublikum, das es vermutlich – vielleicht etwas geschrumpft – weiterhin geben wird, müssen sie sich dann eigens etwas einfallen lassen. Vielleicht werden sie Kunst erstmals in die andere Richtung vermitteln, sich also besonders anspruchsvolle Formate einfallen lassen, mit denen es gelingt, auch vermeintlich triviale Werke in kunstgeschichtliche Traditionen einzuordnen oder komplex aufzuladen. Auf jeden Fall aber sollten sie etwas tun, die neue Herausforderung annehmen und auch gegen diese neueste Unwucht und Entfremdungserfahrung angehen. Man könnte es auch so formulieren: Die Kunstmuseen sind ihrem Kernpublikum schon allein deshalb besonders verpflichtet, weil es sie ohne die ursprünglich genuin bildungsbürgerliche Idee von der Kunst als einem öffentlichen Gut gar nicht gäbe, sie ihre ebenso wechsel- wie eindrucksvolle Geschichte sonst also gar nicht hätten erleben können.
[Der Essay geht auf einen Vortrag zurück, der am 7. Oktober 2019 auf Einladung des Folkwang-Museumsvereins im Museum Folkwang in Essen gehalten wurde.]