Sounds of Silence
von Thomas Nolte
31.1.2023

Wie Silent Disco aus dem kollektiven Cluberlebnis eine private Angelegenheit macht.

Die Menschen um mich herum grimassieren und gestikulieren ausladend wie im Stummfilm. Obwohl sie tanzen, herrscht Stille. Nur das Rascheln der Kleidung ist zu hören, lautes Schnaufen und hier und da eine schief gesungene Refrain-Zeile. Ich befinde mich inmitten einer sogenannten Silent Disco. Was von außen betrachtet zunächst skurril erscheint, erschließt sich erst, als ich ein Pfand hinterlege und im Austausch dafür einen Bluetooth-Kopfhörer erhalte. Er ist der Schlüssel, welcher der Szenerie ihre Rätselhaftigkeit nimmt und den Bewegungen der Menschen einen Sinn verleiht.

Silent Discos finden in Deutschland immer häufiger statt, meist als Programmpunkt eines Festivals. Aber auch Clubs veranstalten vermehrt Tanzevents, bei denen die Musik nicht aus Lautsprechern ertönt, sondern aus Kopfhörern. Dass sie beliebt sind, zeigt die von mir an einem verregneten Spätsommerabend besuchte Veranstaltung. Zu Beginn ist sie nur spärlich besucht. Während Eltern vegane Grillwürstchen verspeisen und die dazugehörigen Kinder spielen, liefern lokale Coverbands hierfür die musikalische Untermalung. Mit Einbruch der Dunkelheit nimmt die Besucherzahl deutlich zu. Der Grund hierfür ist der Beginn des nächsten Programmpunkts: Silent Disco.

Silent Discos sind beliebt, weil sie ein Problem der Clubkultur lösen: die Lärmbelästigung. In seinem Buch über die 1970er Jahre Das entfesselte Jahrzehnt schildert Jens Balzer, wie die Clubkultur entstand. In leerstehenden Gebäuden der Innenstädte veranstalteten Disco-Enthusiast:innen private Tanzveranstaltungen. Dies war möglich, weil die Innenstädte damals als Wohnraum weniger attraktiv waren als heute. In seinem Nachfolgebuch High Energy beschreibt Balzer dann, wie in den 1980er Jahren vor allem die Mittelschicht angeführt von den Yuppies zurück in die Metropolen drängte. Ihr Faible für das Urbane trugen diese Young Urban Professionals bereits im Namen. Dadurch stellt sich das bis heute andauernde Paradox der Gentrifizierung ein: Die urbane Kultur verleiht den Innenstädten zwar eine enorme Anziehungskraft, sie verliert aber gerade dadurch ihre Existenzbedingungen. Indem sich die Innenstädte wieder füllen, schnellen die Mietpreise in die Höhe und die Clubs müssen sich an Ruhezeiten halten.

Die aktuelle Beliebtheit von Silent Disco-Veranstaltungen scheint auch eine Folge der Corona-Pandemie zu sein. Da sie oft im Freien stattfinden, reduzieren sie das Risiko, sich zu infizieren. So konnten bereits im Sommer 2020 in Berlin, wo die Clubkultur Teil der städtischen Marketingstrategie ist, wieder erste Tanzveranstaltungen auf dem Tempelhofer Feld abgehalten werden.

Die meisten Silent Discos zeichnen sich durch eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aus. Denn die Bluetooth-Kopfhörer ermöglichen es, zwischen verschiedenen Kanälen zu wechseln, die von unterschiedlichen DJs bespielt werden. Langweilt mich ein Track, kann ich jederzeit überprüfen, ob mir das Angebot auf einem anderen Kanal mehr zusagt. Silent Disco nimmt einem damit die Angst, etwas zu verpassen. Die Verhaltensforschung bezeichnet diese Angst als „Fear of Missing Out“, kurz FOMO. Ursache für dieses Symptom soll die rasante Zunahme von Informationen und Angeboten im Internet sein. Silent Discos sind somit symptomatisch für das digitale Zeitalter.

Mit der breiteren Angebotspalette führt Silent Disco das Prinzip der Großraumdisco fort. Bei ihr halten sich die Besucher:innen zwar am selben Ort auf, aber je nach Geschmack auf verschiedenen Floors. Damit folgt sie der Logik der Shopping-Mall, zu der sie eine räumliche Nähe unterhält – beide sind oft im Gewerbegebiet anzutreffen. Im digitalen Zeitalter verwaisen die Shopping-Malls zunehmend und werden vom Internethandel abgelöst. Auf einer zentralen Plattform verfügt dieser über ein ähnlich breites Angebot. Damit vergleichbar halten sich die Besucher:innen einer Silent Disco nurmehr in ein- und demselben Raum auf, während sie unterschiedliche Musik konsumieren.

Indem die Teilnehmer:innen jederzeit den Kanal wechseln können, verwandelt sich die Tanzveranstaltung unter der Hand in einen Wettkampf um die Gunst der Hörerschaft. Über den Erfolg oder Misserfolg ihrer Performance erhalten die DJs ein sofortiges Feedback. Denn an den Kopfhörern ist eine Leuchtdiode angebracht, wobei jedem Kanal eine eigene Farbe zugeordnet ist. Für die DJs ist somit jederzeit ersichtlich, wer gerade welchem Kanal folgt.

Auch die Hörer:innen sehen, wer welchem Kanal folgt. Dadurch entstehen spontan flüchtige Stilgemeinschaften und Rivalitäten. Es bilden sich Blasen, deren verschiedene Anhänger:innen sich gegenseitig kritisch beäugen. Silent Disco folgt somit einer Dynamik, wie sie auch für die sozialen Medien charakteristisch ist. In ihnen versammeln sich auf einer zentralen Plattform unterschiedliche Vorlieben, wodurch eine latente Spannung entsteht: Die verschiedenen Gruppen laufen jederzeit Gefahr, miteinander zu kollidieren.

Bei der von mir besuchten Veranstaltung sind die Farben der Kanäle diejenigen einer Ampel. Vergleichbar mit der aktuellen Bundesregierung umfassen die verschiedenen Kanäle ein möglichst breites Spektrum, so dass sich jeder Geschmack repräsentiert fühlen kann. Während der DJ der roten Farbe selbstvergessen vor sich hin werkelt und ein vertracktes Set auflegt, jagt auf dem gelben Kanal ein Crowdpleaser den nächsten. Musik, bei der es nicht unwahrscheinlich ist, dass zu ihr auch Friedrich Merz auf Christian Lindners Hochzeit in Sylt getanzt hat. Mich überrascht, dass sich vorwiegend die jungen Teilnehmer:innen für Stücke aus der musikalischen Mottenkiste wie etwa ABBA begeistern können. Eine Alternative hierzu bietet der grüne Kanal, den eine DJane bespielt. Mit ihrem sorgfältig ausgewählten Electro findet sie die überzeugtesten Anhänger:innen.

Im Gegensatz zum Club fehlt der Silent Disco Raumklang und ein herausragendes Soundsystem. Stattdessen erzeugen die Kopfhörer Intimität. Das Cluberlebnis, das auf eine Gruppenerfahrung abzielt, gerät zu einer zunehmend privaten Angelegenheit. In einer Zeit, in der Lieferdienste den Restaurantbesuch und Streamingdienste das Kino immer mehr ersetzen, scheint dieser Trend nun auch das Nachtleben zu erfassen. In der Silent Disco verdichtet sich, so könnte man sagen, eine neue Form der feiernden Gemeinde. Diese organisiert sich nicht mehr hierarchisch-kollektiv, sondern in Form von Netzwerken. Aus der Vogelperspektive betrachtet versinnbildlicht Silent Disco diese soziale Form: Die in der Ferne zitternden Lichter ordnen sich zu immer neuen, wechselnden Konstellationen.

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