Kolumnisten als One-Man-Shows
von Annekathrin Kohout
16.8.2022

Leitjournalisten im Netz

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 41-48]

Neulich hatte ich bei einem feierlichen Abendessen Jan Fleischhauer zum Tischherren. Da er in meiner ›Bubble‹, wie man zu sagen pflegt, keinesfalls unumstritten ist, war ich natürlich sehr neugierig, und da er im Juni letzten Jahres seine »Spiegel«-Kolumne »Der schwarze Kanal« aufgab, um sie stattdessen als Kolumnist bei »Focus« fortzuführen, gab es zudem allerhand Gesprächsstoff. Ich erinnerte mich daran, dass dieser Wechsel in der Presse und in den Sozialen Medien viel kommentiert wurde, weil er zurecht irritierte, hat doch »Focus« seit einiger Zeit noch mehr als andere Magazine mit sinkenden Auflagen zu kämpfen und zudem keinen sonderlich großen Resonanzraum zu bieten.

Deshalb fragte ich Fleischhauer einfach ganz direkt, was es mit dem Wechsel auf sich habe. Er begründete seine Entscheidung nicht damit, »einmal etwas Neues anfangen« zu wollen, wie es auf seinem Blog heißt. Was auch nicht ganz stimmen würde, weil er ja gar nichts Neues macht, sondern das gleiche lediglich woanders fortführt… Wie dem auch sei: Eigentlich antwortete er gar nicht auf meine Frage. Er druckste ein wenig herum, es gebe ja auch beim »Focus« viele Klicks online… Aber sehr viel mehr wollte er nicht dazu sagen. Allerdings bekam ich auch nicht den Eindruck, dass er den Wechsel in irgendeiner Weise negativ bewertete oder sogar bereute. Vielleicht, weil er einen finanziellen Vorzug daraus zieht. Oder aber, weil es für ihn schlicht keine große Rolle spielt, welches Unternehmen ihn bezahlt.

Steffen Grimberg hat in der »taz« (11.9.2019) die Ansicht vertreten und populär gemacht, dass Fleischhauer nicht viel Gewinn aus seinem Neuanfang ziehen könne: Beim »Spiegel« habe er immerhin noch eine konkrete Funktion besessen, nämlich »bewusst ein ›Stachel‹ gegen die im Zweifel linke Sache« zu sein. Anders beim »Focus«, hier sei »Fleischhauer kein Stachel mehr, sondern nur noch Windmacher für die kleinbürgerliche Filterblase.« Für Grimberg ein Zeichen, dass der Kolumnist »mit dem Karriere-Paternoster abwärts unterwegs ist«. Hinter dieser Annahme verbirgt sich die Vorstellung, dass der Kontext, also das Magazin, den Autor macht; dass bei den Rezipienten nicht nur ankommt und zählt, wer etwas geschrieben hat, sondern mindestens genauso, wo es veröffentlicht wird. Es ist dann deshalb auch sofort evident, dass der weniger konservative »Spiegel« ein größeres Provokationspotenzial für Fleischhauer ermöglicht als der »Focus«. Denn die Zeitungen und Zeitschriften haben, wenn auch möglicherweise weniger als noch vor ein paar Jahren, mehr oder weniger klare Images, zu denen Autoren mal mehr und mal weniger gut passen. Soweit der Konsens.

Aber wie gesagt, für Fleischhauer scheint es keine große Rolle zu spielen, wer ihn bezahlt. Ich bezweifle sogar, dass der Wechsel seinen Karriere-Paternoster auch nur im Geringsten berührt hat. Mir wurde nämlich im Verlauf des Abends klar, dass Fleischhauer Symptom einer sich verändernden Pressekultur ist, deren Organe und Akteure sich in einer Neuausrichtung befinden, wobei bislang noch unklar ist, welchen Stellenwert ihnen langfristig jeweils beigemessen wird. Diese Entwicklungen wurden durch die Sozialen Medien ausgelöst oder von ihnen befördert und sie betreffen alle Bereiche des Journalismus. Insbesondere die Newsfeeds auf Twitter oder Facebook haben enormen Einfluss auf die Produktion, Distribution und Rezeption journalistischer Inhalte.

In seinem Aufsatz »Radikales Feuilleton« (2019) hat Christoph H. Winter eine Reihe von Veränderungen zusammengetragen, die seiner Ansicht nach im Übrigen keine ›Krise‹ des Journalismus darstellen, sondern insgesamt eine Transformation kennzeichnen. Es entstünden neue Schreibweisen und Formate, außerdem habe eine ›Radikalisierung‹ der Inhalte stattgefunden – durch »Pointierungen, Informationsgehalt, Verkürzungen und Auslassungen […], aber auch durch ihre geringe Halbwertszeit und die vielfältigen Möglichkeiten der Anschlusskommunikation«.

Winter zeigt zudem, dass sich der Zugang zu den journalistischen Angeboten verändert hat: Zum einen weniger über Printmedien, sondern digital, zum anderen weniger über die Startseiten der Zeitungen und Zeitschriften, die von Redaktionen zusammengestellt werden; vielmehr werden einzelne Artikel gezielt über Postings in den Sozialen Medien und zwar über die Newsfeeds angesteuert. So kommt auch Stefan Schulz in seinem Aufsatz »Facebook und die De-Institutionalisierung des Journalismus« (2017) zu der Einsicht: »Die Leser interessieren sich noch für die Inhalte der Zeitungen, aber ihre Treue gilt heute Facebook.« Das heißt auch, dass Zeitungen und Zeitschriften an Autorität verlieren und Online-Redaktionen sich vor allem auf die Bewerbung einzelner Beiträge konzentrieren, die eine möglichst große Reichweite bekommen sollen.

Dabei erweisen sich einerseits an der Logik der Sozialen Medien ausgerichtete Formulierungen und Formate als hilfreich. Die Werbung über Headlines oder Teaser läuft dann dergestalt, dass sie ein möglichst großes Erregungspotential aufweisen soll, um die Nutzer Sozialer Netzwerke schnell und direkt zu affizieren und dadurch für einen Klick zu ködern (was vielfach unter dem Schlagwort ›Clickbaiting‹ diskutiert wurde und wird), mehr aber noch zu weiteren Interaktionen anzuregen (Liken, Teilen, Kommentare schreiben). Andererseits sind zur Steigerung der Reichweite einer Zeitung und Zeitschrift auch Autoren von Vorteil, die bereits selbst in den Sozialen Medien aktiv sind und bestenfalls sehr viele Follower besitzen. Teilen sie ihre Textbeiträge auf Twitter oder Facebook, erhält der Magazinbeitrag deutlich mehr Aufmerksamkeit – und steigert damit die zur Finanzierung der Zeitung oder Zeitschrift unerlässlichen Klickzahlen.

Daher ist es zwar unübersehbar angeberisch, aber durchaus legitim, den eigenen Erfolg damit zu begründen, 13 Millionen Klicks pro Jahr zu kassieren – wie es Fleischhauer in seiner Abschiedskolumne im »Spiegel« tat. (Das stimme selbst den »hartgesottensten Chefredakteur nachdenklich«.) Und auch als er mich, nachdem wir auf Twitter zu sprechen kamen, gleich fragte, wie viele Follower ich habe, und bei meiner ziemlich aufgerundeten Angabe von »ungefähr 1000« nur müde lächelte und nicht gerade nebenbei erwähnte, dass es ja etwas ganz anderes sei, wenn man, wie er, fast 130.000 Follower habe, tat er dies aus einem zumindest nachvollziehbarem Grund.

In seiner Abschiedskolumne richtet er sich dann auch etwas gehässig und schadenfreudig an seine Kritiker: »So leicht entkommt man einem Kolumnisten nicht, jedenfalls nicht, wenn er über eine ausreichende Zahl an Followern verfügt.« Nicht nur in diesem Text, sondern auch an dem Abend habe ich gemerkt, dass die Zeitungen und Zeitschriften für Fleischhauer gar keine große Rolle mehr spielen; sein Augenmerk liegt auf Twitter und seinem enormen Wirkkreis auf dieser Plattform. Dabei sieht er sich selbst nicht als Populisten, wie er sicherlich häufig und oft auch zurecht wahrgenommen wird, sondern vielmehr als gezielten Initiator von Debatten und als Macher von Meinungen. Dabei hat er Tweets als eigene ästhetische und bisweilen künstlerische Form erkannt, und man muss ihm zugutehalten, dass er das Medium auch beherrscht, teilweise sogar virtuos verwendet, und einfach talentiert ist im Schreiben kurzer, prägnanter, provokativer Sätze. Selbst seine nicht veröffentlichten Tweet-Ideen, die er mir dann noch freudig auf seinem Smartphone zeigte, haben mich, das muss ich zugeben, beeindruckt.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen könnte es also doch einen triftigen Grund geben, warum Fleischhauer den »Spiegel« verließ und zu »Focus« wechselte: Er ist dort, was die Rezeption betrifft, unabhängiger von einem bestimmten Organ, wird weniger mit dem Magazin und mehr als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen. Bei Twitter gerät ihm das von Vorteil. Denn mit eigener Stimme und nicht als Repräsentant einer Zeitung oder Zeitschrift zu sprechen, gilt als unmittelbar und authentisch – und wird deshalb auch lieber retweetet. Außerdem ist der Twitter-Account einer Person nahbarer als der eines Magazins, gibt es doch direkte Ansprechpartner.

Bereits vor fünf Jahren schrieb Ijoma Mangold in der »Zeit« (»Die Spielwiese des Denkens«, 23.4.2015) über das damalige Nachrichten-Leitmedium Facebook: »So wie man früher eine Zeitung abonniert hat, ist man jetzt auf bestimmte Facebook-Hosts abonniert, weil unter ihrem Dach der Diskurs irritationsoffen und beweglich bleibt. […] Gute Hosts sind schnell netzbekannt. Sie nutzen Facebook nicht einfach nur als Distributionsmedium, sondern als Ort der Selbstreflexion und Selbstirritation. Sie speisen Artikel ihrer Zeitungen ein und öffnen sie dann geschickt der Vertiefung und Ausdifferenzierung.« Als Beispiele für interessante Journalisten auf Facebook nannte er Markus Hesselmann vom »Tagesspiegel«, Ulf Poschardt von der »Welt« oder Tobias Rapp vom »Spiegel«. Allerdings sah Mangold die Akteure noch eng an ihre jeweilige Zeitung oder Zeitschrift gebunden, mit der (Zusatz-)Funktion, ihre vorhandenen Artikel in den Sozialen Medien zu vertiefen und zu bewerben.

Mittlerweile ist man sich gewiss einig, dass Twitter nicht nur ein Marketing-Tool, sondern ein eigenes Medium mit eigenen ästhetischen Regeln ist, und dass die Akteure dort keinesfalls Journalisten sein müssen, um Nachrichten zu verbreiten, Meinungen kundzutun, Debatten zu initiieren. Zwar stimmt noch immer, was Thomas Hecken 2017 an dieser Stelle (»Pressetexte und Tweets«, Heft 10) konstatiere, nämlich, dass man »die traditionellen Organe und Multiplikatoren« noch braucht, »um ganz große Publizität zu erringen.« Und doch sind es immer häufiger auch von etablierten Organen unabhängige Personen, die zwar weniger, aber doch eine erstaunliche Menge an Menschen mit ihren Informationen erreichen und beeinflussen.

Nadja Geer hat darauf hingewiesen (»Facebook-Debatten. Die Anti-Rhetorik der neuen Affektkulturen«, 2017), dass die damit verbundene »Tendenz zur Dehierarchisierung des kritischen Diskurses keine Errungenschaft von Facebook, sondern eine der sogenannten ›Blogosphäre‹« sei. Anfänglich aber, so Geer, habe es »noch wenig Kontakt zwischen ›Blogosphäre‹ und traditionellen Printmedien« gegeben, erst »heute, aufgrund der Erfolgsgeschichte von Facebook, treffen die Vertreterinnen und Vertreter beider Sphären aufeinander.« So konkurrieren auf Facebook und Twitter Journalisten, Blogger, aber auch Privatpersonen gleichermaßen um Follower, Likes und Aufmerksamkeit – bei vergleichbaren Inhalten und mit zum Teil ähnlichen Mitteln.

Anders als Mangold, der neue Formate als solche würdigte, sah Geer die Entwicklung negativ: Von ›Debatten‹ könne man eigentlich nicht sprechen, und wenn doch, fielen diese »brutaler« als vorher; Facebook sei ein Bolzplatz, auf den man lediglich gehe, um sich mit anderen (aus Spaß) zu messen.

Freilich hat sich seit 2017 viel verändert, die neuen Formate haben sich stabilisiert und weiterentwickelt. Und die Akteure haben sich professionalisiert. Jan Fleischhauer ist anzumerken, dass er ein Einmann-Unternehmen plant – vielleicht in dauerhafter Unterstützung der etablierten Organe, vielleicht aber auch von ihnen unabhängig. Sein nächstes Projekt ist ein Podcast, damit folgt er einem anderen Einmann-Unternehmer (oder wie er sich selbst auf seiner Website beschreibt: »Journalist & Buchautor mit unternehmerischem Ehrgeiz«): Gabor Steingart.

Auch Steingart begann seine Karriere traditionell, erst als Journalist beim »Spiegel«, schließlich war er Chefredakteur des »Handelsblatt«. Bis 2018 war er zudem Vorsitzender der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Herausgeber der Wirtschaftszeitung. 2018 trennte sich dann der Verleger Dieter von Holtzbrinck von seinem Mitgesellschafter Steingart – einvernehmlich, wie letzterer auf seiner Website behauptet. Daraufhin gründete Steingart sein eigenes Medienunternehmen Media Pioneer, »das kritischen und unabhängigen Qualitätsjournalismus für das digitale Zeitalter« liefern soll. Die Inhalte von Media Pioneer sollen »den anderen Blick« zu Tage fördern und den Leser »nicht indoktrinieren«; schlauerweise wird hier nicht von ›alternativen‹ Neuigkeiten gesprochen…

Wie nun auch Fleischhauer hatte Steingart ebenfalls ein bereits etabliertes Format, den »Morning Briefing«-Newsletter, in das neue (und zugleich sein eigenes) Unternehmen mitgenommen, den es mittlerweile zudem als Podcast gibt. 2018 hatte sein Newsletter 700.000 Abonnenten, laut meedia.de bekommt er täglich 150 bis 600 neue dazu. Media Pioneer ist demnach durchaus als eine erfolgreiche One-Man-Show anzusehen. Und sicherlich verfügt auch Fleischhauer über das Potenzial zu einer solchen Show.

Steingarten und Fleischhauer verbindet noch etwas anderes: Sie sind beide im Meinungsjournalismus tätig und nehmen darin jeweils eine ganz bestimmte Rolle ein. Fleischhauer ist der Mann, der sich »Nazis rein« wünscht und der sich vorgenommen hat, gegen das ›linke Establishment‹ anzukämpfen. Er ist sich dessen auch sehr bewusst und reflektiert es in seinen Kolumnen und Artikeln in regelrechter Rollenprosa. Wahrscheinlich ist es ihm auch nur so möglich, eine eigene One-Man-Show-Marke mit starkem Profil zu werden, die sich gut verkaufen lässt. Nun haben Konsumenten gerade an starke Rollen und Marken auch recht konkrete Erwartungen, und nur wenn sie hinreichend erfüllt werden, können sie sich auf lange Sicht bewähren – das gilt freilich auch auf einem Meinungsmarkt. Umgekehrt dürfte es Journalisten, die eine bestimmte Rolle eingenommen haben, sehr schwerfallen, diese wieder zu verlassen. Sollte sich eine Meinung nun doch einmal ändern, weil man z.B. etwas dazugelernt hat oder zu einer bestimmten Einsicht gekommen ist, hat man viel zu verlieren. Rollenprosa im Meinungsjournalismus kann deshalb durchaus verhängnisvoll sein – für die Leser wie für die Journalisten.

 

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