Niedlichkeit im K-Pop: Aegyo
von Annekathrin Kohout
8.2.2022 

Teil 3 der Textserie zu K-Pop

Letzten Sommer war ich als Rednerin auf ein Festival eingeladen. Es war sonnig und einer der ersten Tage, an dem man wieder relativ unbeschwert ›in real life‹ zusammenkommen konnte. Also waren alle halbwegs euphorisch und wir haben ein kleines gemeinsames Fotoshooting gemacht – zur Erinnerung an diesen Moment, von dem alle gehofft haben, dass er keine Ausnahme bleiben würde. Für ein Gruppenfoto haben wir uns dann plattencovermäßig vor und auf einer kleinen Mauer positioniert und kurz vor dem Auslöser rief der Fotograf: »Kimchiiiii!«, woraufhin alle mit einer Selbstverständlichkeit einstimmten, die mich doch überraschte. Als glühende Verfechterin südkoreanischer Populärkultur ist mir dessen Beliebtheit natürlich nicht neu, Freunde und Bekannte müssen sich schon lange von mir anhören, dass in Seoul das neue Hollywood ist. Trotzdem stellte sich eine gewisse Verblüffung ein. »Seit wann sagt man nicht mehr Cheese…sondern Kimchi?«, habe ich deshalb eine Kollegin gefragt, die gerade zufällig neben mir stand. »Wegen K-Pop und besonders…wegen der Selfies!«, fiel ihr dazu ein. »Wegen der Selfies?«, fragte ich neugierig nach. »Der Mund sieht bei der Formung des Wortes ›Kimchi‹ einfach süßer aus, als bei ›Cheese‹.« Dass einige beim Shooting dann auch noch das Fingerherz machten, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung.

Zurück im Hotel musste ich bei einem privaten Selbstversuch vor der Frontkamera meines Smartphones dann allerdings feststellen, dass mein Gesicht beim Sprechen von ›Kimchi‹ genauso aussieht wie beim Sprechen von ›Cheese‹. Man assoziiert es offenbar nur mit Cuteness, weil Kimchi eines unter vielen kulturellen Produkten der sogenannten koreanischen Welle – Hallyu – ist. (Mehr dazu im ersten Teil dieser Textserie.)

Hallyu wird nämlich durchaus von etwas befördert, das man Aegyo nennt, eine spezifische Spielart von Niedlichkeit, die durch K-Pop große Bekanntheit erlangte und entsprechend kultiviert wurde. Diese drückt sich vor allem in bestimmten Verhaltensweisen, Mimiken und Gesten aus. Es gibt sogar einen regelrechten Kanon an Bewegungsabläufen: etwa die Verstärkung des Grinsens durch Handzeichen, das Formen von Herzen mit Fingern und/oder Armen, ironisches Aufstampfen mit den Füßen, kindliches Schmollen oder vertikales Klatschen. Es gibt aber auch vokale und sprachliche Aegyo-Ausdrucksformen wie zum Beispiel Flüstern, das Erhöhen der Stimme oder eine infantilisierte oder verkleinernde Wortwahl.

Man denkt dabei zurecht an Szenen aus Comics, Manga und Animes. Oft werden beim Aegyo karikierende Effekte und Gesten nachempfunden, so erinnert zum Beispiel das einst von Lee Jong-Suk in »High Kick 3« zur Perfektion gebrachte »bbuing bbuing« an ein stilisiertes kindliches Augenreiben, wie es aus japanischen Animes oder südkoreanischen Manhwas bekannt ist.

Aegyo bezeichnet also immer eine gespielte Niedlichkeit, »eine kalkulierte Performance«.[1] Ein solch süßes Schauspiel ist natürlich nicht nur in der südkoreanischen Alltags- und Popkultur zu finden, sondern auch in anderen ostasiatischen Ländern und in deutlich kleinerem Ausmaß auch in westlichen Kulturen, wodurch Aegyo weltweit anschlussfähig ist. Wer kennt sie nicht, die absichtlich weit nach vorne geschobene Unterlippe, mit der sich ein kindlicher Schmollmund formen lässt? Infantilisierende Gesten sind auch hierzulande keinesfalls unvertraut, auch wenn sie noch weitaus seltener in Alltag und Popkultur gebräuchlich sind. Das merkt man spätestens dann, wenn man das Verhalten zu benennen versucht und feststellt, dass es keine eigene äquivalente Bezeichnung zu ›Aegyo‹ im Südkoreanischen dafür gibt.

»Baby Spice« und die westliche Kritik an der Niedlichkeitsperfomance

Das hat höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass die Ästhetik des Niedlichen sexuell codiert und Ausdruck einer komplizierten Machtbeziehung zwischen den Geschlechtern ist: Niedlichkeit steht für eine Ästhetik des Kindlich-Mädchenhaften, weshalb noch immer vor allem Frauen das Attribut ›süß‹ erhalten oder es sich selbst geben. Die Fremdzuschreibung hat häufig den Effekt, dass sie als klein, machtlos und unselbstständig markiert werden, worin sich das tradierte Rollenverhältnis bestätigt, indem (schwache) Frauen als Objekte von (starken) Männersubjekten besessen, kontrolliert, patriarchal dominiert werden.[2] In US-Amerika und Westeuropa haben viele Feministinnen kritisiert, das dies zudem zu einer Selbstinfantilisierung der Frauen geführt habe, in der sie zwar vermeintlich aus eigener Entscheidung und mit dem Ziel, ihrerseits Macht auszuüben (z.B. um ein bestimmtes Ziel zu erreichen), niedlich agieren (was wiederum dem Aegyo sehr ähnlich ist), am Ende aber dennoch die Asymmetrie des Machtverhältnisses aufrecht erhalten würde.

Das spiegelt sich in der westlichen Popkultur auch in diversen niedlichen Mädchen-Typen, wie etwa dem »Süßen Mädel« des Wiener Fin de Siècle bis hin zum heute noch existierenden »Girl«. Man erinnere sich nur an die Spice Girls, die nichts Geringeres als damals vorherrschende Rollenbilder für junge Frauen repräsentieren sollten. Eine davon war Emma Bunton als sogenannte »Baby Spice«. Sie trug häufig zwei Zöpfe, also eine typische Kinderfrisur, und weiße oder rosafarbene Kleider, die Unschuld bekunden sollten. Vor allem aber machte sie etwas, dass dem südkoreanischen Aegyo sehr nahekommt: permanent performativ Niedlichkeit und Kindlichkeit zum Ausdruck bringen. Sie stellte sich mit leichten X-Beinen hin oder spielte verträumt mit einzelnen Haarsträhnen – Gesten, die für Unerfahrenheit und Unsicherheit stehen.

Auch Britney Spears verkörperte zu Beginn ihrer Karriere das niedliche Mädchen von nebenan und wurde zum Teil wie eine Spielzeugpuppe vermarktet, wenn ihr Sätze wie »I was born to make you happy« von meist männlichen Autoren in den Mund gelegt wurden. Dadurch kommt wiederum eine sexuelle Aufladung hinzu, die aber keinesfalls im Widerspruch zur Niedlichkeit steht. Sosehr dieses Rollenbild mit Kindlichkeit und Unschuld verbunden ist, beinhaltet es nämlich noch einen anderen Aspekt: So ist das Sprechen über Cuteness dominiert von dem Vorwurf, dass es manipulativ und verführerisch sei.

Dass solche Frauenfiguren der Popkultur unter dem Slogan »Girl Power« zudem als Feministinnen auftraten, hat hierzulande die Diagnose provoziert, dass ein solcher sogenannter Postfeminismus, was die Geschlechterrollen angeht, eher ein »Backlash« sei – und nicht sehr progressiv. In diesem Zusammenhang hat Angela McRobbie kritisiert: »Der Postfeminismus setzt den Feminismus für seine Zwecke ein, um ein ganzes Repertoire an neuen Inhalten zu propagieren, die allesamt suggerieren, letzterer habe seine Aufgabe erfüllt und werde nicht mehr benötigt, denn Gleichberechtigung sei längst erreicht.«[3] Sie strahlten also aus: Da man sich selbst dazu entschied, klein, süß und sexy zu sein, sei das feministische Ziel erreicht.

Intellektuelle Feminist:innen und emanzipierte Personen mieden deshalb lange niedliche Performances, weil es als eine »Ästhetik der Machtlosigkeit« galt, als eine sich selbst entmächtigende Geste,[4] auch wenn diese selbstbestimmt und strategisch zum Einsatz gebracht wurde. Auch in der gegenwärtigen westlichen Popkultur (und im Unterschied zum K-Pop) ist die Auseinandersetzung mit dem Niedlichen weitgehend stark sexuell codiert oder explizit kritisch.

Südkoreanische Niedlichkeit

Nun lässt sich die beschriebene westliche Niedlichkeit nicht eins zu eins mit der südkoreanischen vergleichen, auch wenn man geneigt ist, das zu tun, und auch wenn es sicherlich Überschneidungen gibt. Das gilt auch für deren Bewertung.

Vor der Demokratisierung im Jahre 1987 wurde in Südkorea die Meinungs- und Pressefreiheit unterdrückt. Daher konnten soziale Bewegungen erst relativ spät große Wirkung erzielen. Eine mit der westlichen nachindustriellen Frauenbewegung vergleichbare Dynamik entstand in den 1980er Jahren und im Zuge der Simin-Bewegung, die sich von der bis dahin dominanten Minjung-Bewegung unterschied.[5] Während Letztere zum Großteil aus Arbeiter:innen, Bäuer:innen und der armen Stadtbevölkerung bestand, »ein Konglomerat von Marxismus und Befreiungstheologie« war und »auf einen radikalen, gesamtgesellschaftlichen Wandel« abzielte, durch den die kapitalistische Entwicklung verhindert, die diktatorische Regierung abgelöst und die Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea angestrebt werden sollte, kamen die Anhänger:innen der Simin-Bewegung vor allem aus der Mittelschicht. Es waren Angestellte, Selbstständige, Intellektuelle, Studierende und Hausfrauen, die eher eine »allmähliche Gesellschaftsreform« und die »Einflussnahme auf den staatlichen Bereich durch die Aktivierung der Zivilgesellschaft« anstrebten.[6] Die Simin-Bewegung befasste sich mit klassenübergreifenden Themen wie der Eindämmung von Korruption, der Verwirklichung eines transparenten Marktprinzips, der Umwelt – und vor allem auch der Geschlechtergleichheit.[7]

Neben dem erst spät und dann in enormer Geschwindigkeit einsetzenden Modernisierungsprozess kommt zudem hinzu, dass dessen ökonomische, politische und soziokulturelle Entwicklung nicht gleichzeitig abläuft. So gibt es in Südkorea eine große Diskrepanz zwischen der ökonomischen und der politischen Entwicklung. Bis heute ist die südkoreanische Gesellschaft sehr hierarchisch, wobei Höflichkeit eine strukturierende Rolle spielt. Das ist auch in der Sprache verankert, die bis zu sieben verschiedene Höflichkeitsstufen kennt, welche je nach sozialem Status des Gesprächspartners zum Einsatz kommen. Es ist daher sehr üblich, den Gegenüber nach der beruflichen Position oder dem Alter zu fragen, um die angemessene Verbkonjunktion beim Sprechen zu verwenden.

Aegyo gestaltet die geschlechtsspezifischen und klassengebundenen Kartografien der Macht in Südkorea mit. Die gespielte Niedlichkeit wird nicht nur zwischen Familienmitgliedern, in Partnerschaften oder unter Freunden ausgeübt, sondern auch in weniger intimen Bereichen, etwa am Arbeitsplatz oder in zwanglosen Gesprächen mit Fremden. Gerade in öffentlichen Situationen und in beruflichen Beziehungen wird Aegyo häufig als soziale Fähigkeit und Karrierewerkzeug zum Einsatz gebracht. Und zwar meistens von jüngeren Frauen und infolge der mangelnden Gleichberechtigung. Indem sie sich künstlich verkleinern, stellen die vom Gegenüber erwartete Geschlechterhierarchie wieder her, die zum Beispiel durch eine gleichrangige Position innerhalb des Arbeitsplatzes gefährdet ist. Für Frauen ist Aegyo also eine der wenigen Möglichkeiten, effektiv mit Machthabern zu kommunizieren.

Aegyo umfasst demnach nicht nur die beschriebenen Verhaltensmuster, sondern auch situative Kontexte. Das heißt, es bezieht sich auf angemessene soziale Zeiten und Orte. Aegyo ist eine Norm und Ausdruck von sozialer Intelligenz. Man benutzt es, um etwas zu erbitten oder um Gefälligkeiten und Freundlichkeit einzufordern. Genauso wird es aber auch dazu verwendet, soziale Verpflichtungen oder Forderungen sanft abzulehnen, indem man sich ihnen durch die Infantilisierung subtil entzieht. Die gespielte Niedlichkeit wird nicht nur als normal angesehen, sondern oft sogar als erforderlich. Sie kann in manchen Situation etwas bewahren, das man in Südkorea »chemyon« nennt: das »soziale Gesicht«. Man könnte vielleicht auch von Ansehen und Stolz sprechen. Für das Sozialleben spielt die Bewahrung des sozialen Gesichts eine große Rolle, was zur Folge hat, dass sowohl Forderungen als auch Ablehnungen in der Regel so artikuliert werden sollen, dass keine der Parteien peinlich berührt oder beschämt wird. Aegyo wird oft durch das Bedürfnis ausgelöst, mögliche Unstimmigkeiten zu harmonisieren oder zwischenmenschliche Spannungen zu beseitigen. Es verwischt vorübergehend die Grenzen von öffentlich und privat, täuscht dem Gegenüber Nähe vor. Wer Aegyo benutzt, kann sich zumindest teilweise von der sozialen Verantwortung befreien, das eigene soziale Gesicht und das der anderen bewahren, indem er:sie vorgibt, wie ein Kind zu sein – ein scheinbar sorgloses (wenn auch stark reglementiertes und abhängiges) Mitglied einer Gemeinschaft.

Aegyo im K-Pop

Obwohl im K-Pop generell Aegyo performt wird, spielt es auch hier für Girlgroups eine größere Rolle. Da die meisten K-Gruppen zunächst im ostasiatischen Raum vermarktet werden (bevor sie auch nach US-Amerika und Westeuropa exportiert werden) und in diesen Ländern Cuteness von jungen Frauen geradezu erwartet wird, affirmieren Girlgroups beim Start ihrer Karrieren oftmals das damit verbundene Konzept. Exemplarisch dafür ist der Hit »Gee« von Girls’ Generation.

Nicht nur im Video und mithilfe von Aegyo-Gesten wird Schüchternheit und Unschuld zum Ausdruck gebracht, sondern auch im Liedtext. Darin wird die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das sich zum ersten Mal verliebt. Ich übersetze einmal, wie das Mädchen im Liedtext ihre Emotionen beschreibt: »Ich fühle mich so peinlich… Ich bin schüchtern… Ich kann dich nicht ansehen… Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?… Ich bin eine Närrin… Ich kann nicht einmal etwas sagen… […] Meine Augen sind geblendet [weil die Jungs so schön sind]… ich kann nicht atmen, weil ich zittere… mein zitterndes Herz…« usw. In diesen Aussagen transportieren sich zweifellos Unterwürfigkeit, Schüchternheit, Hilflosigkeit, Verletzlichkeit und Ohnmacht, denn sie ist völlig bewegungslos und unfähig zu reagieren. Außerdem wird durch die wiederholte Verwendung der Worte »Was soll ich tun«, »zitternd« und »hilflose Närrin« eindeutig das Bild eines äußerst passiven und unterwürfigen Mädchens gezeichnet. Aber, das muss dazugesagt werden, all das ist Aegyo – also gespielt, kalkuliert – oder etwas positiver formuliert: kokett. Die Tatsache, dass südkoreanische Girlgroups es schaffen, eine globale Fan-Community mit Aegyo zu erobern, beweist, dass Niedlichkeit ihnen zu einer mächtigen Waffe geworden ist.

Mittlerweile erfahren sie eine ähnliche Kritik, wie sie in US-Amerika und Westeuropa dem Popfeminismus gegenüber formuliert wurde: Die ›wahre‹ Macht der Girlgroups läge in ihrer Fähigkeit, die eigene Machtlosigkeit aufrecht zu erhalten. Sie müssten sich unterwürfiger, dümmer und unwissender darstellen, als sie sind. Das würde die Kluft zwischen den Geschlechtern nicht überwinden, sondern sogar vergrößern. Die wachsende Macht der Girlgroups trage demnach nicht zur Gleichheit bei, sondern erzeuge nur eine falsche Vorstellung davon.[8] Die Kulturwissenschaftlerin Moon Kyuwon sieht im Aegyo letztlich nur eine Reproduktion des Male Gaze: Es »ist der Inbegriff der im patriarchalischen Korea diskursiv konstruierten Geschlechterideologie. Aegyo ist tief in den kulturellen und moralischen Standards der Nation verwurzelt […]. [Es] ist ein Beispiel dafür, wie kulturelle Bedeutungsprozesse durch den männlichen Blick ein bestimmtes Bild von Frauen konstruieren und verbreiten.«[9]

Man könnte an dieser Stelle noch seitenweise über die Rolle von Aegyo in der südkoreanischen Beauty-Industrie sprechen, die ein enges Schönheitsideal hervorgebracht hat. Bei weitem nicht nur, aber doch vor allem für Frauen. Herzförmige Lippen, ein heller rosiger Teint und die sogenannte »Aegyo sal« – sozusagen süße puffige Augenringe – sind nur wenige unter vielen guten Beauty-Markern. An dieser Stelle soll es wenigstens Erwähnung finden.

Aegyo und die »Softe Maskulinität« männlicher K-Pop-Idols

Wer sich ein bisschen mit K-Pop auskennt, wird wenig überrascht sein, dass die Mitglieder von BTS Meister im Aegyo sind. Im BTS-Wiki ist ›Aegyo‹ ein eigenes Lemma und wird als »Engelsverhalten« definiert, außerdem fällt bei der Charakterisierung das Wort »Bescheidenheit«. Im K-Pop, wo es üblich ist, dass auch männliche Idols sich cute geben, kommt eine weitere Funktion von gespielter Niedlichkeit zum Vorschein: Es dient ihnen dazu, auf eine bestimmte Weise mit ihren Fans zu kommunizieren. Durch Aegyo schaffen sie ein Näheverhältnis, ja eine Intimität, die den Fans auf anderen Ebenen (z.B. durch Einblicke in das Privatleben) von der K-Pop-Industrie meistens weitgehend verwehrt bleibt.

Aber Aegyo macht männliche Idols noch auf eine andere Weise anschlussfähig, insbesondere in der westlichen Rezeption. Ihre Niedlichkeit ist Teil dessen, was Jung Sun »Softe Maskulinität« genannt hat.[10] Es ist ein einflussreiches neues Männlichkeitsmodell, das in der Populärkultur der gesamten Region zu finden ist, weshalb Jung von »pan-ostasiatischer« Maskulinität spricht.[11] Was aber zeichnet die Softe Maskulinität aus? In visueller Hinsicht wird sie als ein Männlichkeitsbild beschrieben, das für die für westlichen Augen außergewöhnlich weiblich ist[12] – nicht nur weil sie ›mädchenhaft‹ aussehen, sondern sich durch Aegyo auch ›mädchenhaft‹ verhalten.[13] Softe Männer sind aufmerksam und fürsorglich. Sie sind weniger aggressiv, übergriffig und sexuell dominant, sondern feingeistig und zurückhaltend. Ihre Beziehungen basieren auf Liebe und Freundschaft. Softe Männer sind schön und machen Aegyo. Solche Konstruktionen zeugen von Sensibilität und Verständnis, Frauen werden im Spiegel dieses Männlichkeitsideal als Freunde und nicht notwendigerweise als Sexobjekte konstruiert werden.[14]

Dieses im K-Pop vorherrschende Männerideal knüpft durchaus an bestehende ostasiatische Traditionen an: »Unter den Namen ›Hwarang‹, der sich aus den chinesischen Schriftzeichen für Blume 花 und junger Mann 郞 zusammensetzt, waren die Männer der Militäreinheiten in der Silla-Zeit bekannt, die in Philosophie, Instrumentalmusik, Gesang oder in anderen schöngeistigen Bereichen ausgebildet wurden.«[15] Geprägt vom Schamanismus trugen sie Schminke und wurden für ihr junges, weiches, makelloses Aussehen verehrt.[16] Doch die kulturellen Ikonen der Soften Maskulinität sind größtenteils seit der Jahrtausendwende entstanden und fallen mit dem Aufkommen der Sozialen Medien und dem damit verbundenen globalen Erfolg von Idols zusammen, aber auch – und besonders im Hinblick auf die K-Pop-Industrie – mit der gestiegenen Kaufkraft von Frauen.[17]

Doch gerade aus US-amerikanischer und westeuropäischer Perspektive repräsentieren die niedlichen Idols ein flexibleres und inklusiveres Männlichkeitsmodell,[18] weshalb die Softe Maskulinität zurecht auch als Teil eines transkulturellen Hybridisierungsprozesses angesehen wird, in dem sich globale und traditionelle koreanische Männlichkeitsvorstellungen treffen.

Aegyo in der LGBTQ+-Community

Ich habe mich neulich mit unserem Autor Lukas Brennecke über das Männlichkeitsbild der Idols unterhalten. Er hat sich viel mit der K-Pop-Tanzszene auseinandergesetzt und ist selbst langjähriger K-Pop-Fan, der auf unzähligen Konzerten war. Er schilderte mir anschaulich seine Eindrücke von der Community. Besonders interessant fand ich, wie die Fans die Softheit oder Feminität der männlichen Idols zum Anlass und Ausgangspunkt nehmen, um ihre eigene Queerness zu artikulieren. Wie sie in der Inszenierung offenbar eine Genderfluidität erkennen, die als solche in den Performances nicht angelegt ist – oder zumindest lange nicht explizit angelegt war. Heute ist das etwas anders, dazu gleich mehr.

In der südkoreanischen Gesellschaft ist Homosexualität noch immer nicht gern gesehen. Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz der Menschen werden von der Regierungspartei nicht angestrebt, und nicht-heteronormative Liebe wird noch immer problematisiert. Das wurde einmal mehr an der Reaktion auf Hollands erstes Musikvideo zu »Neverland« deutlich. Holland war einer der ersten offen schwulen Künstler in der K-Pop-Branche und wurde für viele LGBTQ+-Fans zum Vorbild. Sein Video, in dem er einen anderen Mann küsst, erhielt jedoch eine Altersfreigabe ab 19 Jahren. Es wurde als »für junge Zuschauer ungeeignet« eingestuft.[19]

Ohne es eigens anzustreben, sind K-Pop-Idols zu Ikonen der westlichen LGBTQ+-Communtiy geworden: »Die Annahme einer rein heterosexuellen Begehrensstruktur wird von den BTS-Fans […] öffentlich wirksam durchkreuzt«.[20] Elena Beregow hat am Beispiel von BTS darauf hingewiesen, dass sie dafür im Westen nicht nur gefeiert, sondern auch angefeindet werden: »Dass sich Homophobie im Pop – scheinbar paradoxerweise – gegen Objekte heterosexuellen weiblichen Begehrens richtet, bekamen nahezu alle Boygroups der Geschichte von den Beatles bis zu Tokio Hotel zu spüren. Doch das Männlichkeitsbild, das BTS verkörpern, erweist sich auch deshalb als eine solche Provokation, weil es sich freimütig-naiv, d.h. ohne kritische Absicht dem Konzept des Kawaii bedient.«[21] Kawaii nennt man die japanische Niedlichkeitskultur.

Rückwirkung der westlichen Rezeption auf die K-Pop-Industrie: Queerbaiting

K-Pop ist ein Exportprodukt (mehr dazu in Teil 1 dieser Textserie) und reagiert sehr stark auf die Nachfrage und die Rezeption der jeweiligen Länder. Liedtexte, Musikvideos, Stylings etc. werden teilweise individuell angepasst. Womöglich ist das auch der wesentliche Grund dafür, dass so etwas wie eine globale Popkultur entstehen konnte, in der es zunehmend schwierig wird, zu bestimmen, wer eigentlich als Urheber auszumachen ist. Daher bleibt natürlich auch die starke Resonanz der LGBTQ+-Community nicht folgenlos für die K-Pop-Industrie. Trotz der in Südkorea noch längst nicht vorherrschenden Akzeptanz von Queerness und der noch immer stark patriarchalen und hierarchischen Gesellschaft produzieren die Entertainment-Companys zunehmend für die queere internationale Fanbase und lassen auch etablierte Idols die LGBTQ+-Community öffentlichkeitswirksam unterstützen.

So sehr, dass unter den alteingesessenen K-Pop-Fans und kritischen Beobachter:innen wiederum von »Queerbaiting« die Rede ist. Queerbaiting meint, dass in Filmen oder Musikvideos oder anderen Inszenierungen sexuelle Zweideutigkeiten, zum Beispiel in intimen gleichgeschlechtlichen Freundschaften, angedeutet werden, ohne aber jemals die Nicht-Heterosexualität der betreffenden Figuren zu bestätigen. Das diene, so die Kritik, lediglich dazu, auch Zuschauer:innen anzusprechen, die an LGBTQ+-Erzählungen interessiert sind. Es handle sich dabei also um »einen Marketingtrick, den Prominente, Fernseh- und Filmautoren und -Autorinnen anwenden, um ein LGBTQ+-Publikum anzusprechen, ohne dass das Hauptpublikum verschreckt wird, indem es sich nie vollständig zu einer queeren Sexualität bekennt«, so Chelsea Ritschel.[22] Man kann es aber auch – wie David Tizzard das gemacht hat – »Fanservice« nennen.[23]

Wie bei vielen Fan-Communitys gibt es auch unter der des K-Pop ein Großteil von Expert:innen, die sich diesen Entwicklungen und Mechanismen durchaus bewusst sind und keine Mühe scheuen, über ›gute‹ und ›schlechte‹, angemessene und unangemessene Repräsentationen nachzudenken und diese zu differenzieren.[24]

Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass ein Großteil der Infragestellungen der Absichten der Idols bzw. ihrer Companys in Bezug auf die Sexualität ebenfalls nicht aus Südkorea, sondern aus dem Ausland kommt. Themen wie »Cultural Appropriation« und Queerbaiting werden vor allem durch die westliche Rezeption an ihr Entstehungsland herangetragen. Es sind tendenziell US-amerikanische Importe. Hier entstehen gerade neue Dynamiken, die es lohnt, im Blick zu behalten. Während ostasiatische Phänomene wie das Aegyo zunehmend auch die westliche Populär- und Alltagskultur prägen – man denke nur an die süßen Filter und Masken, mit denen die ›Kimchiiii‹-geformten Gesichter bearbeitet werden –, wirken deren westliche Aneignungsformen als genderfluide Stilmittel auf den K-Pop zurück. Man kann sich kaum vorstellen, dass die südkoreanische Gesellschaft davon völlig unberührt bleibt.

 

Die anderen Beiträge dieser Textserie können hier nachgelesen werden:

Hallyu und die Globalisierung von K-Pop (Teil 1)

K-Dramas: Anmerkungen zum Genre (Teil 2)

 

Anmerkungen

[1] Stephen Epstein/James Turnbull (2014): Girls‘ Generation? Gender, (Dis)Empowerment, and K-pop, in: Kyung Hyun Kim, Youngmin Choe (Hg.): The Korean Popular Culture Reader. Durham and London: Duke University Press, S. 314-337, hier S. 319.
[2] Birgit Richard/Katja Gunkel/Jana Müller (2020): »Felt cute, might delete later« – Zur polyvalenten Ästhetik des Niedlichen. In: Dies: #cute. Eine Ästhetik des Niedlichen zwischen Natur und Kunst. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag, 7–35, hier S. 19.
[3] Angela McRobbie (2010): Top Girls: Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 16.
[4] Ngai, Sianne (2015): Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge/Massachusetts: Harvard University Press.
[5] Hong Mihee (2005): Der Wandel des Geschlechterverhältnisses und die Frauenbewegung in Südkorea. Inaugurationsschrift, https://d-nb.info/978504739/34.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Stephen Epstein and James Turnbull (2014): Girls‘ Generation? Gender, (Dis)Empowerment and K-pop, in: Choe Youngmin, Kim Kyung Hyun (Hg.): The Korean Popular Culture Reader. Durham and London: Duke University Press, S. 314-337; Kim Goojong (2018): From Factory Girls to K-Pop Idol Girls: Cultural Politics of Developmentalism, Patriarchy, and Neoliberalism in South Korea’s Popular Music Industry. Lanham: Lexington Books.
[9] Moon Kyuwon: Authenticating the fake: Linguistic resources of aegyo and its media assessments. Unveröffentlichtes Manuskript (https://web.stanford.edu/~eckert/Courses/l1562018/Readings/MoonUnderReview.pdf).
[10] Sun Jung (2009): The Shared Imagination of Bishonen, Pan-East Asian Soft Masculinity: Reading DBSK, Youtube.com and Transcultural New Media Consumption, in: Intersections: Gender and Sex- uality in Asia and the Pacific. Vol. 20.
[11] Ebd.
[12] Song Geng (2016): Changing Masculinities in East Asian Pop Culture, in: East Asian Forum Quarterly, Vol. 8, No. 2.
[13] K. H. Louie (2012): Popular Culture and Masculinity Ideals in East Asia with Special Reference to China, in: The Journal of Asian Studies. Vol. 71, No. 4.
[14] Ebd.
[15] Vanessa Hinz (2019): Die Blütezeit der „Flower Boys“, in: Koreanisches Kulturzentrum: https://kulturkorea.org/de/magazin/die-bluetezeit-der-flower-boys
[16] Ebd.; siehe auch: Lo Kwai-Cheung (2010): Excess and masculinity in Asian cultural productions. Albany: State University of New York Press; Mary J. Ainslie (2018): Korean Soft Masculinity vs. Malay hegemony: Malaysian masculinity and Hallyu fandom, in: Korea Observer 48 (3), S. 609-638.
[17] K.H. Louie (2012): Popular Culture and Masculinity Ideals in East Asia, with Special Reference to China, in: The Journal of Asian Studies. Vol. 71, No. 4, S. 933, zit. nach Ainslie (2018).
[18] Crystal S. Anderson (2014): That’s My Man! Overlapping Masculinities in Korean Popular Music, in: Yasue Kuwahara (Hg.): The Korean Wave: Korean Popular Culture in Global Context. London: Palgrave Macmillan, S. 117-131.
[19] David Tizzard (2021): K-pop dictionary: Queerbaiting, in: The Korea Times (https://m.koreatimes.co.kr/pages/article.asp?newsIdx=303622).
[20] Elena Beregow (2019): Kugelsichere Cuteness. Über BTS, K-Pop, Boygroups, in: Pop. Kultur und Kritik, Heft 15, Herbst 2019, S. 24-33 (https://pop-zeitschrift.de/2021/08/02/kugelsichere-cuteness-ueber-bts-k-pop-boygroupsautorvon-elena-beregow-autordatum2-8-2021-datum/)
[21] Ebd.
[22] Chelsea Ritschel (2019): Queer-Baiting: What is it and why is it harmful?, in: The Independent, 9.4.2019, zit. Nach Tizzard (2021).
[23] Tizzard (2021).
[24] Z.B. Ingrid Jones (2021): The Queer Concept. Queerbaiting in the K-Pop-Industry, in: Women’s Republic (https://www.womensrepublic.net/the-queer-concept-queerbaiting-in-the-kpop-industry/).

Schreibe einen Kommentar