Erfolgsformel Hip-Hop!
von Tobias Kargoll
17.1.2022 

Eine Kontroverse (Teil 2)

Hi Martin, danke für die Besprechung unseres Buchs [der Beitrag von Martin Seeliger steht hier]. Wir stecken hier in einem ziemlichen FDP–SPD-Grabenkampf. Ich bin in Schreckstarre verfallen, als ich mich im FDP-Graben wiederfand. Natürlich, die Glorifizierung der Selbstwirksamkeit des marginalisierten Individuums ist ein Affront für marxistische Kapitalismuskritik. Es hat aber auch einen Grund, dass sich in der bürgerlichen Klasse eher Linke zu Hip-Hop hingezogen fühlen als Christian Lindner. Hip-Hop will eben nicht den Status quo erhalten, sondern die Methode sein, durch die man ihn (für sich) ändern kann. Hip-Hop ist Piratentum. Dass Piratentum keine nachhaltige Lösung ist, zumal nicht auf gesellschaftlicher Ebene, ist eine nachvollziehbare Kritik. Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich ihr aber gerne widersprechen und ein Plädoyer fürs Piratentum halten.

Wir beschreiben in unserem Buch „Erfolgsformel Hip-Hop. Ambition und Underdog-Mindset als Businessfaktor“ (Campus Verlag) die Erfolgsformel der bedeutendsten popkulturellen Strömung unserer Zeit, um sie verständlich und nutzbar zu machen. Du hinterfragst die gesellschaftlichen Auswirkungen der beschriebenen Mechanismen. Damit bringst du die Thesen unserer kultursoziologisch argumentierenden Ratgeberliteratur in einen wirtschaftssoziologischen Diskurs. Das geht über die Absicht des Buchs hinaus, ist aber richtig und wichtig.

Wir behaupten, dass der Erfolg der Hip-Hop-Kultur – von Rap über Streetart bis Streetwear – Ergebnis von Werten, Normen, Narrativen und Techniken ist, die in der DNA der Hip-Hop-Kultur liegen. Hip-Hop ist eine Reaktion auf die klassistischen und rassistischen Ausgrenzungsmechanismen der westlichen Marktwirtschaft. Er liefert primär denen, die von der Realisierung des American Dream bis dahin ausgeschlossen sind, das Werkzeug für die Verwirklichung dieses marktwirtschaftlichen Versprechens. Dabei ist das Hip-Hop-Narrativ über die Gruppe der Marginalisierten hinaus attraktiv und wirksam. Plötzlich will jeder Pirat sein.

Du schaust auf diesen Werkzeugkasten für individuelle materielle Selbstermächtigung und fragst “so what? Was ändert das an der Gesellschaft?” Du konterst unsere Zelebration des “American Dream für Ausgeschlossene” mit einer klassischen Kritik am Amercian Dream: Opium fürs Volk! Das Problem der sozialen Ungleichheit wird nicht an seiner Wurzel (Produktionsverhältnisse!) gepackt, sondern nur individuell überwunden! Wie viele Gescheiterte kommen auf die in den Anekdoten überhöhten Systembesieger? Unsere “Erfolgsformel Hip-Hop” sei ein systemerhaltender Teil des Problems und keine Lösung. Ich unterstelle, dass dir eine rein individuelle Überwindung von Klassismus und Rassismus auch deshalb zu wenig ist, weil du dir von Popkultur und Hip-Hop im Speziellen mehr versprochen hast. Zu Recht!

Zu einem Zeitpunkt, an dem Hip-Hop auch in Deutschland im Zenit steht, macht es Sinn, sich zu fragen, ob die Kultur auch hierzulande (vor allem migrantisch-gelesenen oder durch Armut marginalisierten-) Menschen Wege zur Selbstermächtigung eröffnet oder ob sie sich dem System verkauft hat. Ich behaupte: verkauft hat sie sich nicht. Hip-Hop war nie Gegenkultur, sondern eine Methode, in der Mehrheitsgesellschaft mit all ihren Mechanismen zu existieren und zu prosperieren. Hip-Hop war nie die kapitalismuskritische Bewegung, die das linksliberale Bürgertum in ihm sehen wollte. Was er stattdessen ist, ist aber noch viel besser und macht absolut einen Unterschied. Nicht nur für einzelne Jay-Zs, Dr. Dres, Banksys und Sidos, sondern für uns alle.

Du betonst die Unüberwindbarkeit der Rahmenbedingungen, degradierst unsere Fallbeispiele zu Einzelfällen, attestierst uns „ein entfremdetes Verständnis der Produktionsverhältnisse“. Der anekdotische Beweis führe in die Irre, sei gefährlich, selbst wenn er „mitunter inspirierend“ sei. Was uns immer wieder als „geniale Schöpfungsleistung“ erscheint, sei doch nur ein „Schritt innerhalb einer Wertschöpfungskette“. Hier können wir konkret werden:

Wir erklären die Kulturtechniken des Samplings, also der kreativen Anders-Verwendung von Vorgefundenem, und des Hackings, also kreativer Problemlösung. Wenn wir euphorisch beschreiben, wie Kids, die kein Geld für die Musikschule haben, Plattenspieler zum Instrument machen, antwortest du: “Dass Eltern, die keine Gitarre bezahlen wollen (oder können) […] womöglich auch über keine Plattensammlung verfügen.“ Wir sind also bei Produktionsmitteln angekommen. Kann man durch kreative Improvisation den Mangel an Produktionsmitteln überwinden?

Es gibt keine Abhängigkeit von der Plattensammlung. DJ Kool Herc lieh? kaufte? klaute? seine Schallplatten doppelt, wechselte dann vom Exemplar auf dem einen Plattenspieler zu dem Exemplar auf dem anderen und schuf so, durch den unendlich verlängerten Breakbeat, das neue Musikgenre. Die Genialität liegt in der Umfunktionierung des Vorhandenen (den Breaks der Soul- und Funk-Songs), durch das man fehlende (Musik-)Produktionsmittel ersetzte. 

Diese Hackermentalität fand sich nicht nur beim Auflegen. Hatte man keine Lautsprecher, baute man sich welche aus Elektroschrott. Was machte man also ohne Schallplatten? Auf dem Tisch trommeln. Ohne Tisch? Beatboxen. Die Technik der Umfunktionierung von Vorhandenem setzt nur irgendein materielles oder kulturelles Vorhandenes voraus. Graffiti Writer nutzten Lackdosen zum Malen und Zugwaggons als Leinwand sowie Galerie-Ersatz. Darauf muss man erstmal kommen. Sampling egalisiert Produktionsmittel. Entscheidend ist die Methode, nicht das Mittel.

Die zentralen Hip-Hop-Kulturtechniken lassen sich auch in den Erfolgsgeschichten von Capital Bra und Virgil Abloh finden, aber ich will hier nicht das Buch wiederholen. Spannender: Der beschriebene Prozess ist für die digitalisierte, marktwirtschaftliche Überflussgesellschaft viel kennzeichnender als die Frage, wem das Land und die Rohstoffe gehören.

Nicht, dass Immobilien und Silizium egal wären. Aber welche Produktionsmittel braucht der Einzelne heute? Für vieles braucht man nur Laptop und Internetzugang. Die Hindernisse für das Prekariat liegen vielmehr im sozialen und psychosozialen Bereich. Man bekommt den Job/das Büro/das Venture Capital nicht. Diese materiellen Dinge machen es schwerer, aber nicht unmöglich. Die Diskriminierung macht es vor allem mental schwerer. Es ist hart, im marktwirtschaftlichen Wettbewerb Höchstleistungen abzuliefern, wenn man ein Leben lang kleingeredet wurde und sozial bedingte Probleme den Alltag prägen. Hier enthält unsere typisch ratgeberliterarische Thematisierung des Mindsets, den Hip-Hop liefert, einen Hinweis darauf, wie eine Popkultur ein gesellschaftliches Problem lindern kann. Wenn die Hindernisse im sozialen und psychosozialen Bereich liegen, kann Kultur sie eher lösen, als wenn es am Zugang zu Roheisen und einem Hochofen scheitert. Eine Subkultur kann Menschen ermächtigen und positiv auf die Kultur der Mehrheitsgesellschaft wirken.

Virgil Abloh wurde durch Hip-Hop-Kulturtechniken, allen voran das Sampling, Chefdesigner bei Louis Vuitton. Er war der erste Schwarze in dieser Position. Sein Erfolg ist nicht nur ein „popkulturelles Kompensationsangebot für die eigene Handlungsunfähigkeit“, wie du es an einer Stelle nennst. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass er wirklich anderen Türen öffnet: Weil die soziale Akzeptanz für jemanden, der schwarz ist und nie Modedesign studiert hat, durch seinen Präzedenzfall steigt.

Du erwähnst Luc Boltanski und Éve Chiapello. Die beiden haben einst den “Managementdiskurs” erforscht, ähnlich wie du es jetzt mit unserem kulturhistorischen Selbstermächtigungsratgeber tust. Wenn ich die These vom ‚Neuen Geist des Kapitalismus‘ richtig interpretiere, beschreibt sie die Wandelbarkeit des Kapitalismus. Der muss sich immer neu rechtfertigen, immer weiter attraktiv halten, damit an ihm teilgenommen wird. Konkret führen Menschen im Management Veränderungen herbei, um neue Generationen von Mitarbeitern für “ihre” Unternehmen zu gewinnen. Dadurch findet sich heute der Geist der 68er in aktuellen Unternehmensführungstheorien: Man musste ihn aufnehmen, um die Generation für sich zu gewinnen. Das unterstellt all den positivistischen Managementbüchern Opportunismus. Kicker, Yoga-Kurs und Obstkorb sind nur Fallen, mit denen der Arbeitnehmer gefangen gehalten werden soll. Das ist der Gen-Z auch aufgefallen. Aber es ist doch schön: Der Kapitalismus nimmt Kritik an. Wenn die Generation Yoga und Mitbestimmung will, bekommt sie Yoga und Mitbestimmung. Auch die Gen-Z kann also Entgegenkommen erwarten, weil das System lieber eine Reform bietet, als eine Revolution zu riskieren.

Warum sollte es Hip-Hop nicht gehen wie den 68ern? Ob sich da eine Kultur dem Kapitalismus verkauft oder ob sie ihn von innen reformiert, die Veränderung ist da, die Wirksamkeit ist da. Auf gesellschaftlicher Ebene, über den individuellen Einzelfall hinaus.

Es geht nicht nur darum, ob die Modeindustrie durch Virgil Abloh Personal anders auswählt und ob die Wünsche der Generation-Hip-Hop erhört werden. Es geht vor allem auch im die Frage, welche Folgen die Rezeption des Rags-to-riches-Narrativs der Hip-Hop-Kultur hat – sei es in Gangsterrap oder unserem Buch. 

Deinen Vorschlag, Ratgeberliteratur vermehrter Rezeptionsforschung zu unterziehen, finde ich spannend. In unserem Fall reicht die bestehende Rezeptionsforschung aber vielleicht schon aus, denn vor allem “präfabrizieren” wir ja als “Zwischenhändler” die Anwendung von Hip-Hop, wie du richtig sagst.

Unterhaltungsmedien werden sicher auch als kathartische Kompensatoren für gefühlte Mankos im eigenen Leben eingesetzt, wie du befürchtest. Unterhaltungsmedien ermöglichen aber auch Mood Management. Gangsterrap gibt einem zum Beispiel Energie, ein Gefühl von Stärke, was (mehr noch als der Reiz des Verbotenenen) die wichtigste Erklärung für seinen Erfolg ist. Unterhaltungsmedien sind ein wichtiger Faktor in der (Selbst-)Sozialisation von Menschen. Sie spielen auch bei Erwachsenen eine Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung. Im Hip-Hop existieren viele Lebensstile, viele Milieus, die Menschen, der Identitätstheorie zufolge, Leitbilder liefern, durch die sie ihre soziale Identität konstruieren.[1] Dadurch beeinflussen sie unser Denken, Fühlen und Handeln. Popkultur ist immer mehr als ein Kompensationsangebot und Hip-Hop im Speziellen ist immer auch Handlungsaufforderung. 

Die Hinweise auf die Rezeption, die wir haben, bestehen in dem Feedback, dass wir auf das Buch bekommen. Das taugt nicht für empirische Aussagen, ich würde aber gerne anhand einer Nachricht erneut anekdotisch argumentieren:

„Ich habe immer gedacht, ich bin halt einfacher Konsument. Ich habe in eurem Buch erkennen müssen, dass mein Werdegang ziemlich viel mit den aufgezeigten Mechanismen von Hip-Hop gemeinsam hat. Ich habe erkannt, dass ich vielleicht kein aktiver Teil der Hip-Hop Kultur als solches bin, aber die Kultur sehr tief in mir verankert ist.“

Ich glaube, dass sehr viele die DNA der Hip-Hop-Kultur durch die Rezeption medialer Inhalte verinnerlicht haben, dass Hip-Hop-Kultur dadurch gesellschaftlich wirkt. Das deckt sich mit Annahmen aus der Identitätstheorie, Medienwirkungs- und Sozialisationsforschung. Das zu beweisen und zu spezifizieren, ist die Art der Rezeptionsforschung, die mich persönlich umtreibt und für die ich Partner suche. Da meinen wir wahrscheinlich das gleiche.

Das Hip-Hop-Piratentum strebt ausschließlich eine individuelle Problemlösung an, es ist kein kollektivistischer Ansatz. Dadurch, dass sich so viele an den diversen Ausprägungen der immer-gleichen Hip-Hop-DNA ausrichten, entsteht aber eine Massenwirkung. Nicht jeder wird Milliardär wie Jay-Z oder Dr. Dre, Säulenheilige sind aber auch nicht dazu da, von jedem egalisiert zu werden. Das Problem an der Wurzel zu packen, muss nicht heißen, Produktionsverhältnisse zu ändern. Soziale und psychosoziale Verhältnisse zu ändern, ist wichtiger. Das tut Hip-Hop und das macht Hip-Hop auch wirtschaftssoziologisch relevant.

 

Anmerkung

[1] Vgl. Hörning, K. H.  und Michailow, M. Zum Wandel von Sozialstruktur und sozialer Integration. In: Berger, Peter A. (Hg): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Göttingen 1990. S. 503-524

Schreibe einen Kommentar