Wein und Popkultur
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 50-53]
Wein gilt als Distinktionsgetränk. Gute Weine können viel Geld kosten, und ihre richtige Auswahl setzt Wissen und Erfahrung voraus. Zudem zählt Wein zu jenen Waren, von denen Thorstein Veblen bereits 1899 feststellte, dass, »wer ein Herr ist, wissen muß, wie diese Güter geziemend zu verbrauchen sind.« Das falsche Glas, die falsche Temperatur, die falsche Flasche zur falschen Zeit geöffnet – schon ist das Prestige, das der Erwerb einer teuren Kiste erzeugen kann, ruiniert. In Anbetracht dieser Hochschwelligkeit überrascht es nicht, dass Weingenuss zumeist einem bürgerlichen, Kennerschaft kultivierenden Lebensstil zugeordnet wird, ganz ähnlich der klassischen Hochkultur mit ihrer Wertschätzung kanonisierter Literatur, Kunst und Musik. Unbehagen am als elitär empfundenen Habitus der Weinwelt findet jedoch immer weniger Anhaltspunkte in der aktuellen Weinszene. Eine junge Generation von Weintrinkern hat einen neuen Stil herausgebildet, dessen Ästhetik vom ›look and feel‹ der alten Connaisseurhaftigkeit deutlich abweicht.
»Wein ist eine Art ›Pop-Kultur‹«, resümierte das Magazin »Tweed« in einer Reportage, und Manfred Klimek, einer der rührigsten Akteure der neuen Weinszene, kam ebenfalls zu dem Urteil, »dass Wein Pop braucht«. Da passt es ins Bild, wenn der Münchener Sommelier Justin Leone in seinem Buch »just wine – Weinwissen ohne Bullshit« verkündet, dass »jede Rebsorte ein Rockstar« sei – und sie mit einer Playlist versieht. Bei ihm schmeckt Riesling wie Radiohead, Nebbiolo wie Tom Waits und Malbec wie Johnny Cash. Anbauregionen bekommen Songs zugeordnet, und ein 2015er Château Olivier erinnert ihn an die White Stripes: »75% Jack = Sauvignon Blanc, dazu 25% Meg = Sémillon«. Was für die Musik das Plattencover, ist für den Wein das Flaschenetikett: visuelles Signal einer Stilgemeinschaft. So bietet das 1849 gegründete Pfälzer Prädikatsweingut Reichsrat von Buhl seit kurzem einen Rosé mit dem Namen »Bone Dry« an. Das Etikett ähnelt nicht zufällig der aus 8601 lupenreinen Diamanten besetzten Platinschädel-Skulptur »For the Love of God« des britischen Künstlers Damien Hirst. Es zeigt einen Totenschädel aus Weinreben, das Wappen des Traditionsgut geschickt verfremdend. Der Wein wird mit dem Hashtag #drywinesforsweetpeople beworben. Das Totenkopfetikett kann auch als T-Shirt erworben werden, mit den analytischen Werten des jeweiligen Jahrgangs auf dem Rücken abgedruckt (25 Euro ab Hof).
Von Buhl ist weder das erste noch das einzige Weingut, das die grafische Identität seiner Produkte entstaubt. Zu den Pionieren ästhetischer Erneuerung zählt der Ellerstädter Winzer Markus Schneider, der seinen Weinen so unverwechselbare Namen wie »Ursprung« und »Black Print« gibt – Weiß auf Schwarz gesetzt in klarer Schrifttype. Sie signalisieren, dass der Winzer seine Erzeugnisse als naturnahe, handwerklich hergestellte und charakterstarke Unikate verstanden wissen will. Wenn Lucien Karpik in seiner Untersuchung der Ökonomie von Singularitätsgütern und ihren Märkten den Wein einem sogenannten »Authentizitätsregime« zuschlägt, dann eignen sich die Winzer der neuen Szene bestens als Beleg. Denn dieses Regime, schreibt Karpik, »besteht aus Namen«. Namen wie »Fräulein Hu« oder »Sexy MF«, wie sie die Westhofener Winzerin Katharina Wechsler ihren Weinen gibt. Oder wie »Kaliber 12«, der Bezeichnung eines Spätburgunders aus der Kollektion der rheinhessischen Önologin Simone Adams. Das Etikett hat ein Loch, das an einen Durchschuss erinnert. Adams jagt gerne – Name und grafische Gestaltung verbinden das Produkt mit der Person der Winzerin zu einem Singularität evozierenden Zeichen.
Die neue Weinszene hat nicht nur eine visuelle Signatur, sondern auch eine sprachliche. Ihren Sound hat der österreichische Fotograf und Weinjournalist Manfred Klimek geprägt. Er lobt das Saufen (im Gegensatz zum Genusstrinken) so leidenschaftlich, dass er als der Robert Pfaller des Weinjournalismus gelten darf. 2009 gründete Klimek zusammen mit Marcus Johst den Blog »Captain Cork«, aus dem er 2014 wieder ausstieg. Der Captain duzt und kalauert und tritt respektlos auf. Er will nicht einschüchtern, sondern unterhalten, mit Überschriften wie »Bollinger oder Bollongschee?«, »Hast Du Asche für La Tâche?« oder »Die Winzer am Arsch«. Ein Jahr nach seinem Ausstieg tauchte Klimek als Chefredakteur der neu gegründeten Zeitschrift »Schluck« wieder auf. »Das anstössige Weinmagazin«, so die Selbstbeschreibung, startete mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren, steigerte sich gleich mit dem zweiten Heft auf 15.000 und erreicht seit der dritten Ausgabe zweimal im Jahr 20.000 gedruckte Hefte. Das Erfolgsrezept: ein Editoral, das in den ersten Jahren »Edith Oral« hieß, und Artikel, die mit »Hugh Hefner« (über Gärung), »Sich eines blasen lassen« (über Gläser) oder »Besoffen Liebe machen« betitelt sind. Dazu gab’s einen von Klimek fotografierten »Jungwinzerinnenkalender« – natürlich in Anführungszeichen. Ziel des neuerdings erhobenen, prolligen Tons in der Weinberichterstattung war es seinem Erfinder zufolge, »stinklangweilige Weinforen mit überheblichen Wichtigtuern« durch einen unverkrampfteren, entspannten Stil abzulösen. »Die ganze Weinszene vor 2013«, resümierte Klimek 2018, »war eine Angelegenheit von langweiligen, alten Leuten.«
Aber wie jung ist die neue Weinkenner-Generation wirklich? Und wie neu ist ihr zwischen Derbheit und Lässigkeit changierender Ton? Einige Protagonisten der Szene – wie die drei Star-Sommeliers Justin Leone, Willi Schlögl und Billy Wagner – sind in den 1980er Jahren geboren. Doch Klimek ist Jahrgang 1962; Master Sommelier Hendrik Thoma, der schon seit 2012 auf seinem Video-Blog »Wein am Limit« Weine nach ihrem »Soulfaktor« beurteilt, wurde 1967 geboren, und der britische Weinautor Stuart Pigott, Jahrgang 1960, trat bereits in den 1990er Jahren mit exzentrischer Garderobe und zugänglicher Sprache an, um einen informelleren Stil in die Weinwelt zu bringen. Ganz so eindeutig, wie Klimek behauptet, lässt sich ein Generationenwechsel also nicht markieren. Auch die Gegnerschaft wirkt konstruiert, schaut man auf die gradlinige Urteilsfreude einer Paula Bosch (Leones legendäre Vorgängerin im Münchener Sternerestaurant Tantris) oder die einladende Präzision von Jens Priewe, dem Grandseigneur des deutschen Weinjournalismus. Sie eignen sich sicherlich nicht als Beispiele für »langweilige, alte Leute«.
Auffällig ist, dass viele Akteure der neuen Weinkultur über eine erstklassige Ausbildung, prestigereiche Lebensläufe, profundes Wissen und umfassende Erfahrung verfügen, sich aber ständig bemühen, ihre Kenntnisse in kumpelhaftes Palaver zu verpacken und so zu tun, als schmecke ihnen Wein nur, wenn er laut ist. Zieht man die aufmerksamkeitserregenden Elemente ab, steckt eine Zeitschrift wie »Schluck« voller kompetenter Artikel über so spezielle Themen wie Mineralität beim Wein, geschrieben mit Leidenschaft fürs Thema und Respekt für Winzer und ihre Produkte. Und auch in Justin Leones Weinbuch kommt, wie der Tages-Anzeiger zurecht bemerkte, nach ein paar Seiten »das typische Weinvokabular ins Spiel: Weissweine riechen auch bei Leone nach Zitrone, Ananas und gelbem Apfel; rote Weine nach Sauerkirsche, Brombeere und Feigenkonfitüre«.
Als Roland Barthes 1957 bemerkte, Wein gleiche den Intellektuellen dem Proletarier an, standen ihm Pariser Bistros der Nachkriegszeit vor Augen, nicht hippe Lokale in Berlin-Mitte oder im Münchener Glockenbachviertel. Der Kneipenton der neuen Weinszene hat etwas Entschuldigendes an sich. Man möchte nicht fein sein, nicht ›sophisticated‹ – und ist es uneingestanden doch. Als sei der einzige Weg, Herablassung und Belehrung zu vermeiden, eine nicht minder prätentiöse Selbstproletarisierung. Doch eine Sprache, die unter dem Niveau der besprochenen Tropfen bleibt, verringert den Genuss. Der Code der neuen Weinszene ist nicht weniger ausschließend als derjenige der alten. Er hat lediglich die Krawatte durch das Tattoo ersetzt und steife Etikette durch grelle Etiketten.