Autokorrektur
von Moritz Baßler und Heinz Drügh
13.9.2021

Ghost in the New Machine

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 90-94]

Seit über zehn Jahren belohnt die Automatische Literaturkritik Texte, die in einer Welt spielen, »in der es das Internet gibt.« Vermutlich wurde jedoch der vom selben Forum ausgelobte, eher idiosynkratisch wirkende Pluspunkt für das »Vorkommen von Nagetieren« in der Gegenwartsliteratur deutlich öfter vergeben. Denn selbst im Pop-Segment ist Netzaffinität keineswegs automatisch gegeben, und das mit Gründen: Die Listen und sophisticated enzyklopädischen Verknüpfungen, die Pop-Literatur und Kritik bis in die späten 1990er prägten, hatten noch Distinktionsgesten ermöglicht, die mit der allgemeinen Verfügbarkeit der Web-Archive obsolet geworden sind – mit Google und YouTube ist alles popkulturelle Wissen nur noch einen Mausklick entfernt; alle wissen alles. Wo aber Leute wie Simon Reynolds und Mark Fisher deshalb das Ende der (Pop-) Geschichte beklagen, erinnert sich Kathrin Passig bei ihrer Poetikdozentur in Münster, wie langweilig es bis dahin auf der Welt war und wie schlagartig aufregend alles wurde mit der allgemeinen Präsenz des Internets. 

Was ja nun auch schon wieder eine Weile her ist. Inzwischen gibt es Literatur, deren Haupteinfall darin besteht, dass es das Internet nicht mehr gibt (Josefine Rieksʼ Roman »Serverland«, 2018). Und auch zwei Roman-Highlights dieses Jahres, Juan S. Guses »Miami Punk« und ›Pixeltänzer« von Berit Glanz, überspringen kühn die popliterarische Gegenwartsstarre gegenüber Netzphänomenen, indem sie einigen von ihnen schon wieder Nostalgiewerte zuordnen. Eine Schlüsselrolle haben dabei Videospiele, deren generationsprägende Kraft im literarischen Pop nie wirklich angekommen ist und die auch Reynolds bei seinem Ruf nach einer »new machine« offenbar schlicht übersehen hat.

Ein Handlungsstrang in »Miami Punk« begleitet eine Gruppe junger Deutscher, die zu einem Counter-Strike-Turnier nach Miami gereist sind – vom Spiel bis zum Setting eine Retro-Veranstaltung. »›Die ganze Situation‹, meinte Rafi, ›erinnert mich an die gute alte Zeit. Zum Beispiel an die CeBIT in Hannover.‹ Das sagte er ohne einen Hauch von Ironie.« Auch der Roman widmet sich mit viel Liebe zum Detail den einzelnen Spielplänen und Abläufen des Turniers, mit gelegentlichen (und gewollten) Parallelen zum Denken und Tun akademischer Teilgesellschaften. Diesen alten Stilgemeinschaften unserer kapitalistischen Gegenwart (»›Kapitalismus, das ist so eine Perspektive, die alle Probleme als lösbares Übel präsentiert.‹ ›Sind sie doch auch!‹«) stehen Versuche neuer Programmierungen gegenüber, von denen man noch nicht genau weiß, wohin sie sich entwickeln werden: die engagierte Literatur des Poetischen Staates, der ebenso geheime wie anarchische Kongress, der in einer evakuierten Betonburg über die Perspektiven der neuen, unverständlichen Zeit berät, und die Versuche der Game-Entwicklerin Robin, jenseits marktförmiger Formate eine Art Spiel des Lebens zu programmieren.

Auch in »Pixeltänzer«, das ohne alle Fantastica-Elemente im hippen Berliner Start-up-Milieu angesiedelt ist, kennt man die Nostalgie nach alten verpixelten Spielästhetiken; und auch hier will die Protagonistin, Beta, mit ihren Freunden die kapitalistischen Erwartungen torpedieren und eine dezidiert unverkäufliche App entwickeln – ein Spiel mit Fliegen (Musca), das von den Preisrichtern dann natürlich umso begeisterter aufgenommen und ausgezeichnet wird. Zugleich forscht Beta in den Tiefen des Webs der (wahren) Geschichte der spätexpressionistischen Tänzerin Lavinia Schulz und ihren Toboggan-Masken nach und damit der Frage, ob Subversion denn vor dem digital-kapitalistischen Dispositiv noch eher möglich gewesen wäre, »in einer Zeit, in der noch nicht alles kommerzialisiert war«. 

Aber eine Rückkehr in den Garten ist letztlich, das haben wir schon bei Donna Haraway gelernt, weder möglich noch wünschenswert. Nagetiere immer gern, aber die Rechtsabbiegerspur in die soundsovielte Neo-Romantik ist hier nicht angelegt. Beide Romane siedeln ihre Figuren vielmehr konsequent in jener augmentierten Realität zwischen Außenwelt und Netz an, die unserer mediengestützten Alltagswirklichkeit entspricht. Immer wieder kommt dabei die Frage auf, ob es in einer Welt, die das Internet kennt, überhaupt noch der realen Lokalitäten bedarf, um sich etwa in eine Person oder Situation einzufühlen – ohne WLAN kommt man Lavinia auch im Spreewald und dem Barock auch in italienischen Kirchen nicht näher. 

Und die Literatur? Welche Rolle kommt ihr in dieser neuen Topografie zu? Der Duden-Verlag bringt in diesen Tagen ein Buch heraus, das die WLAN-Netze und ihre Namen dokumentiert, die wir so kreuzen, wenn wir durch die Straßen wandern (»Pretty Fly for a Wifi«), und die auch in »Pixeltänzer« gelistet werden. Vielleicht ist hier ein Übergang von den Listenreichen des Pop zu den real-virtuellen Zwischenreichen, den non-lieux des Internetzeitalters auszumachen – wie dem Frankfurter Flughafen in Clemens Setzʼ Erzählung »Südliches Lazarettfeld«, die von der missglückten Abreise eines Autors zu einem Literaturfestival in Kanada handelt. Die Leute kommen ihm wie non-playable-characters aus einem Game vor. Es gibt einen Getränkeautomaten, »der mit seinem Greifarm immerzu ins Leere fasste und ihn danach hin und her bewegte, so als könnte er dadurch all die Mineralwasser- und Colaflaschen, die man ihm aufgrund seines Steuerungsfehlers weggenommen hatte, aus der Luft zurückzaubern«. Ein grüner Leuchtpunkt, der auf der Flughafen-Monitorwand hin- und herspringt, lässt den Erzähler fast liebevoll an seinen altersschwachen Drucker zurückdenken, der erst »diese großen runden weißen Stellen«, dann »fast nur noch weiß, aber immer noch langsam und genau« und schließlich »manchmal für mehrere Minuten über einem einzelnen Wort sinnend« vor sich hin druckte: »Dabei blinkte seine kleine grüne Seele am rechten oberen Rand: signal wird empfangen, signal wird empfangen«. HAL in cute. Die Interferenzen zwischen Mensch und magischer Maschinenwelt berühren also das Textuelle. »›Geil es ist doch ein technisches Problem lolz‹«, textet der flugängstliche Autor an seine daheim gebliebene Freundin Marianne, als das Flugzeug partout nicht starten will. »›Ich stürze bestimmt ab es dauert außerdem noch so lang sie suchen wohl eine neue Marianne‹. Ich starrte auf den Autokorrekturfehler. »›Maschine‹, schrieb ich in die nächste Zeile. ›Haha fucking autocorrect.«

Autokorrektur – wo sich magischer Realismus und Netzalgorithmen überlappen, bringt sich plötzlich auch die Ebene der Zeichen wieder in Erinnerung, die im realistischen Dispositiv unserer Literaturlandschaft so ganz abgetaucht schien, entsteht ein neues Interesse für »›Sprache‹, ›Vokale‹, ›Konsonanten‹«, für das es in der Automatischen Literaturkritik noch Abzüge in der B-Note gab. »Otter Otter Otter«, eine weitere Erzählung aus Setzʼ »Der Trost runder Dinge«‹, macht das Titeltier, Prototyp der Web-Cuteness (»Daily Otter«!), zum »Gegenzauber« gegen jene derben Verwünschungen, die ein früherer Lover auf die Wände der Wohnung einer blinden Frau geschmiert hat: »FRISS SCHEISSE SAU SAU SAU rund um eine Steckdose. Generell sehr viel SAU«. Man fühlt sich«, bemerkt der neue Partner (und Erzähler), »hier ja wie in einem Rap-Song eingesperrt.« Doch Google weiß Rat: »Hunderte Treffer, die Menschheit war gütig und hilfsbereit«, beschert die Suchanfrage »Gifts to a blind person«, und so hat der Erzähler für die (ohne ihr Wissen) Gedemütigte und Beleidigte nicht nur »jeden Tag liebe Nachrichten auf der Mobilbox«, sondern auch materielle Gaben parat. Am Wichtigsten aber: das in all dem Textgeschmier »krakelig« auf der Lehne eines Sessels buchstabierte »OTTER«, das, gemurmelt in mythisch-ritueller Dreizahl, als magische Formel nicht zuletzt der hinfälligen Katze des Erzählers behagt (»Daily Kitten«!).

Cuteness als mediales Humanum, da weihnachtet es denn auch schon, was seit Maruan Paschens Roman »Weihnachten« aber auch wieder literaturfähig ist. In Setzʼ Erzählung »Das Christkind« hat Landarzt Dr. Korleuthner im Verbund mit seinen beiden (prä-)pubertierenden Töchtern längst alle Weihnachtsriten aus dem Familienleben verbannt: der Weihnachtsbaum sterbe eh nur vor sich hin »da im Wohnzimmer, und dass man ihn dabei kostümiert«, macht’s nur schlimmer. Vom Vater einer vierjährigen, unheilbar kranken Patientin wird Korleuthner nun jedoch gebeten, am Heiligen Abend eine Blendlaterne in seine Wiese zu stellen und auf SMS-Kommando anzuschalten, damit das kranke Kind sie von zu Hause aus als ›Christkind‹ bewundern kann. Schon läuft sie an, die medienhistorische Assoziationsmaschine: Blendlaternen dieser Art waren zu absolutistischer Zeit verboten, weil Wilddiebe mit ihrem Einsatz den Landesfürsten und ihrem absoluten Jagdmonopol »ihre Strecke an Hasen, Rehen, Hirschen verdarben«, wie Friedrich Kittler erzählt. Zudem wussten barocke Glaubenskrieger die Laterna magica für allerhand propagandistische Illusionierung zu benutzen. Wen trifft das Licht folglich als erstes, als die Lampe mit ihrer »magischen Fernbedienung« ausprobiert wird? Niemand anders als: die Hasen der beiden Mädchen. Double score Automatischer Literaturkritik: »In dem operationshellen Lichtschein hielten die Hasen entsetzt inne, ein überwältigtes, strafgeröntges Volk«. – »Vielleicht stimmte die Ansicht gewisser antiker Philosophen ja doch, dass alles, was wir beleuchten und ansehen, aus einem eigentlich paradiesischen Urzustand vertrieben und an die Oberfläche der grellen, schmerzhaften Erdenverhältnisse gerissen wird«. Beleuchten, ansehen, den Medien anvertrauen: »DANEK«, schreibt der Vater des kranken Kindes per SMS zurück. Fucking autocorrect.

Hier geht es weiter. Pop ist tot, es lebe der Pop! Die Prosa von Guse, Glanz und Setz weiß um das Augmentierte der Realität, ohne ins komplett Virtuelle abzugleiten, in die Schließungsfiguren der neumedialen Filterbubbles, Verschwörungstheorien, Avatare und Kayfabes, die, wenn man Clemens Setzʼ diesjähriger Rede beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt folgt, den Kokons traditionell versponnener Dichterexistenzen gar nicht so unähnlich sind. »Vielleicht neigt meine Seele ja allgemein dazu, immer wieder in derlei bereitstehende Hohlformen zu fallen, um sich dann, Jahre später, mühevoll daraus freiknabbern zu müssen. Und wer weiß, möglicherweise wird es gerade dieser fatalen Neigung anzulasten sein, wenn ich in naher Zukunft, während das bei uns losgeht, was wir später als die Pogrome unserer Zeit erkennen werden, noch immer seelenruhig Hasen- und Ziegenbilder auf Twitter posten werde«.

Knabber dich frei wie die Biberin im Supermarkt, wie Max und Moritz in der Backstube: Geht es dann »Rickeracke! Rickeracke!« schließlich doch »in die Mühle mit Geknacke«? Oder wieder ins Offene, wo du hinter der Vierten Wand stets wieder auf den Markt und seine Logik des lösbaren Problems triffst? Wer einen Babybrei mit einem Baby bewerben möchte, das zunächst »schrecklich weint«, um dann – nach dem Genuss des Produkts versteht sich – »wieder froh« zu werden, der muss, wie Guse erzählt, dieses Baby vorher kalkuliert zum Weinen bringen, z.B. indem er minutenlang durch es hindurch starrt. Boo! »Fun, goofy, wild, weird, or downright crazy« wie (laut Emojipedia) das Ghost-Emoji ist das nicht. Also – genau wie die Literatur, von der hier die Rede war – nicht Pop, aber. Dies im Sinn, legt man postpragmatisch die »Oreo Joy Fills« in seinen Warenkorb und freut sich auf den »anstehenden Fifa-19-Marathon« – und die anderen Weihnachtsgeschenke.

Literatur

Glanz, Berit (2019): Pixeltänzer. Frankfurt am Main.
Guse, Juan S. (2019): Miami Punk. Frankfurt am Main.
Guse, Juan S. (2019): El Ateririzaje fue un Anticlímax. In: Elias Kreuzmair/Moritz Müller-Schwefe (Hg.): Supermarkt. Lob und Kritik. Berlin.
Kittler, Friedrich (2002): Optische Medien. Berlin.
N.N. (2019): Die Biberin. In: die tageszeitung, 11.7., S. 20.
Paschen, Maruan (2018): Weihnachten. Berlin.
Rieks, Josefine (2018): Serverland. München.
Setz, Clemens (2019): Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Berlin.
Setz, Clemens (2019): Kayfabe und Literatur. Rede zur Literatur am Eröffnungsabend der 43. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. https://bachmannpreis.orf.at/stories/2987078/.
Stelthove, Helen (2019): Pretty Fly for a Wifi. Mannheim.

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