Verschwörungstheorien als Fan Fiction
von Annekathrin Kohout
9.5.2021

Populärkultur und Neue Rechte

„Die wenigsten Dinge passieren einfach aus Zufall.“ Dieser Satz hört sich harmlos an, wie eine wenig durchdachte Alltagsweisheit, oder aber, denkt man sich einen beschwörenden Unterton dazu, wie das Zitat aus einem Film oder einer Serie. Agent Mulder aus „Akte X“ könnte das gesagt haben oder Kommissar Robert Langdon aus den Bestseller-Romanen von Dan Brown. 

Dem Satz „Die wenigsten Dinge passieren einfach aus Zufall“ lässt sich aber nicht nur entnehmen: Es gibt für alles eine Erklärung. Vielmehr wird er oft auch so verstanden: Es gibt für alles auch einen Verantwortlichen. Diesen ausfindig zu machen, ist jedoch die Motivation und das Ziel jeder Verschwörungstheorie beziehungsweise ihrer Anhänger, oder anders gesagt: ihrer Gläubigen. In ihren Augen ist Wahrheit etwas, das absichtlich geheim gehalten wird – und zwar von wenigen Eingeweihten. Auf dieser Annahme bauen auch Neue Rechte ihre Argumentationen und politischen Agitationen auf.

In den letzten Monaten und im Zusammenhang mit Corona wurde über die verschiedensten Verschwörungstheorien berichtet, und es schien oder scheint noch immer ein wenig so, als würden mehr Menschen denn je in Zweifel ziehen, dass das, was über Corona in den etablierten Medien, in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen, berichtet wird, der Wirklichkeit entspreche und demnach wahr sei. Doch schon seit 2015 und der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ wird konspirativen Theorien eine Renaissance nachgesagt,[1] die sich in den populären verschwörerischen Schlagwörtern „Lügenpresse“ oder „Fake News“ bestätigt.

Wie rechts sind Verschwörungstheorien?

Ob es um Corona oder Geflüchtete geht: Die damit verbundenen verschwörerischen Erklärungsmodelle werden in der medialen Öffentlichkeit oftmals kurzgeschlossen mit mal mehr und mal weniger expliziten neurechten Bewegungen. Man erinnere sich nur an die Anti-Corona-Demonstration in Berlin im August letzten Jahres, die in einer gescheiterten Stürmung des Reichstages gipfelte: Wohlwissend, dass es sich um eine „chaotische Anti-Corona-Mixtur“[2] „aus Regenbogen- und Reichskriegsflaggenträgern, aus Meditierenden im Schneidersitz und ‚Putin, Putin‘-Rufern, aus Trommlern im Rasta-Look und Glatzköpfen“[3] handelte, warfen die etablierten Medien sie dennoch „mit Rechtsextremisten in einen Topf.“[4] „Selber schuld“,[5] spöttelte zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung genugtuend. 

Grund für den Kurzschluss Neuer Rechter und Verschwörungstheoretiker dürfte sein, dass sich populistische und konspirative Argumentationsweisen strukturell ähnlich sind, wie Michael Butter in seiner einschlägigen Monografie zu Verschwörungstheorien deutlich gemacht hat.[6] Und für den Populismus wiederum gilt, dass er vor allem im rechten Spektrum verortet ist, auch wenn der Populismus-Vorwurf durchaus auch gegen Linke ins Feld geführt wird.[7] Obwohl Populismus keine Weltanschauung bezeichnet, sondern zunächst einmal ‚nur‘ den Rekurs auf das Volk meint – und damit nicht eindeutig links oder rechts verortet werden kann –, überschneidet er sich mit rechtem Denken und mit Verschwörungstheorien in der Hinsicht, dass beim Populismus ebenjenes Volk „homogen gedacht wird“, wie der Soziologe Andreas Reckwitz es formulierte.[8] Das hat auch Jan-Werner Müller, dessen 2015 veröffentlichter Aufsatz „Populismus. Theorie und Praxis“ im deutschsprachigen Raum viel beachtet wurde, ähnlich beschrieben. So definiert er Populismus als „Politikvorstellung, wonach einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenübergesetzt werden – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht richtig zum Volk gehören.“[9] Der Grundgedanke des Populismus ist demnach selbst bereits in gewisser Weise verschwörerisch.

Die klare Gegenüberstellung von Volk und Elite ist zwar nicht notwendigerweise rechts, wird aber von Rechten seit jeher instrumentalisiert. Dass man aber eigens für einen linken Populismus plädieren und ihn in Abgrenzung von rechtem Populismus konstituieren muss, wie Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe es 2018 tat,[10] zeugt von der offenbar nur schwer zu überwindenden Verflechtung populistischer Strategien und rechter Rhetorik. Bei der Corona-Demonstration erschienen rechte Bewegungen, Populismus und Verschwörungstheorien jedenfalls einmal mehr als eine eng zusammenwirkende Trias.

Doch so oft Verschwörungstheorien rechts sind, so sehr ist eine ihrer Grundannahmen, nämlich dass man der Regierung und den etablierten Institutionen und Medien gegenüber misstrauisch sein sollte, ja dass diese entweder manipuliert oder selbst manipulativ sind, zugleich Konsens der gängigen Medientheorie, besonders der Medienkritik. „Medientheorien […] sind immer auch beziehungsweise immer schon Verschwörungstheorien“, heißt es in der Einleitung zu dem Sammelband „The Parallax View“, der die Medialität der Verschwörung untersucht.[11] Und tatsächlich: Gibt es nicht immer einen Sender, der Inhalte zur Vermittlung auswählt, diese zwar sichtbar macht, indem er sie kommuniziert – andere dafür aber im Verborgenen belässt? Bei weitem sind es also nicht nur Verschwörungstheoretiker, die davon ausgehen, dass sich hinter oder unter der Oberfläche des gemeinhin Sichtbaren und Anerkannten eine Wirklichkeit oder Realität befindet, zu der man über Medien immer nur selektiv, nur partiell zugreifen kann. Verschwörungstheorien und vielen Medienkritiken dürfte gemeinsam sein, dass Medien bestenfalls ein Simulacrum, schlechtestenfalls eine absichtliche Entstellung der Wirklichkeit sein können. In jedem Fall wirken sie in bestimmter Weise auf ihre Rezipienten ein, die in einer medialen und verfälschenden Wirklichkeit leben, die sich von der ‚echten‘, unverfälschten Wirklichkeit unterscheidet und aus der man in irgendeiner Weise „erwachen“ kann. 

Dass die Grundannahme medialer Verfälschung und ihre Übertragung in Rhetoriken zur Beschreibung der Gegenwart bzw. gegenwärtiger Diskurse nicht zwangsläufig ‚rechts’ sind, wird beispielsweise auch am Sprechen von Filter-Bubbles deutlich, als Social-Media-Wirklichkeiten, aus denen man ebenfalls nur schwer „ausbrechen“ kann – oder (und im Zusammenhang mit den jüngeren Rassismus-Debatten) durch die Bezeichnung „Happyland“, das metaphorisch ein Land beschreiben soll, an dem weiße Menschen sich aufhalten, bevor sie ihre Privilegien und ihre rassistische Sozialisation (und damit auch eine andere Wirklichkeit) geprüft und ihre Tragweite erkannt haben, die Konfliktlage erkennen können. Ganz ähnlich wie Neo aus „The Matrix“ entdeckte, dass er nur Sklave in einer computergenerierten Traumwelt ist, oder Truman aus „The Truman Show“ realisierte, dass sein gesamtes Leben beobachtet, kontrolliert und manipuliert wurde – für eine Fernsehshow.

Es gibt einen Plan und Verantwortliche

Stimmt also, was Mark Fenster einst geschrieben hat: „We are all conspiracy theorists now“?[12] Auf den ersten Blick: ja. Denn jede Darstellung einer wie auch immer gearteten ‚Realität‘ ist schon eine Deutung, eine Theorie. Und doch wird Ursache, Wirkung und die Theorie selbst jeweils ganz unterschiedlich bewertet. Anders als Medientheoretiker personifizieren Verschwörungstheoretiker gesellschaftliche Verhältnisse, führen sie auf die Verschwörung einer kleinen Gruppe zurück – und begreifen real existierende Probleme nicht als komplexes strukturelles Problem. In Verschwörungstheorien gibt es daher ein auf den ersten Blick recht schlichtes und klar abgestecktes Verhältnis von Gut und Böse, Richtig und Falsch – keine Unentschiedenheiten, keine Ambiguitäten, keine Kontextabhängigkeiten. Die vorherrschenden Verhältnisse würden vielmehr durch eine böse Gruppe von Menschen absichtlich herbeigeführt – und sind nicht etwa durch ein Zusammenspiel verschiedenster Protagonisten, Entwicklungen, Kontexte entstanden – und schon gar nicht durch Zufall. Das signifikanteste Spezifikum für Verschwörungstheorien ist also, dass es Verschwörer gibt, die einen Plan verfolgen.

Spezifisch für Verschwörungstheorien wie auch für Anhänger neurechter Bewegungen ist also die Schuldzuweisung an eine Gruppe von vermeintlichen Verschwörern, die vielleicht nicht alles, mindestens aber viel Unheil in die Welt gebracht haben. Damit stehen Verschwörungstheorien auch in der Tradition der noch für das Mittelalter typischen Sündenbocktheorien.[13] In beiden Fällen werden erlebte Probleme, Konflikte, Frustrationen nicht bei sich selbst, nicht in der mehr oder weniger komplexen Sache selbst verortet, sondern auf Mitglieder einer anderen, außenstehenden Gruppe projiziert. In beiden Fällen ist Verschwörungsdenken mittels der Abgrenzung durch Schuldzuweisung ein konstitutives Moment zur Ausprägung des Gruppenzusammenhalts.[14] Für neurechte Bewegungen ist die Verschwörungstheorie daher zunächst einmal ein hilfreiches Medium, die eigenen Anhänger, die im Detail durchaus diverse Ansichten vertreten können, als eine Gruppe von Gleichgesinnten zu definieren. Mit Verschwörungstheorien gelingt es, der eigenen Bewegung durch starke Narrative eine gemeinsame Identität zu stiften. Dabei ist auffällig, dass die Mitglieder der Bewegungen innerhalb der Narrative und verschwörungstheoretischen Plots stets die Heldenrolle für sich beanspruchen: Sie sehen sich als Auserwählte, die erkennen, was die allgemeine Bevölkerung nicht zu realisieren vermag: die Wahrheit hinter den manipulativen Medien.  

Das Spezifikum der Schuldzuweisung gilt allerdings für eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien kleinerer und größere Art, und nicht alle sind für neurechte Bewegungen interessant. Überhaupt ist der Begriff beziehungsweise das Phänomen der „Verschwörungstheorie“ oftmals sehr weit gefasst und wird auf die verschiedensten Ereignisse oder Krisen angewandt: Seien es die Mondlandung (die angeblich nicht stattgefunden hat), die Ermordung John F. Kennedys (von der ausgegangen wird, sie wurde von der CIA begangen), die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 (die vermeintlich von den USA selbst durchgeführt wurden), der Geburtsort Barack Obamas (der angeblich nicht in den USA liegt), die Annahme, dass Angela Merkel oder George W. Bush Teil einer Elite außerirdischer Reptilien sind, wir alle von einer sogenannten „Neuen Weltordnung“ kontrolliert werden, die uns mit Impfungen und Chemtrails gefügig hält, oder aber ganz allgemeine angebliche Komplotte der Geheimdienste, der USA, der EU, der Juden, der Illuminaten und diverser anderer Gruppen. All diese Beispiele werden als Verschwörungstheorien an Stammtischen, in den etablierten Medien und in der Wissenschaft behandelt und diskutiert. „Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe“,[15] lautet das intuitive Verständnis über solche Theorien.

Aber die genannten Verschwörungstheorien sind keinesfalls gleicher Art. Es ist ein Unterschied, ob ein ungeklärter Kriminalfall zur Theoriebildung anregt, ja absichtlich – und etwas blumiger gesprochen – die Fantasie beflügelt, wie es bei dem Attentat von JFK der Fall ist, oder ob ein weitgehend geklärtes Ereignis – wie der Ausbruch der Corona-Pandemie – in Frage gestellt und mutwillig durch andere Erklärungen ersetzt wird. Der letztgenannte Verschwörungstheorie-Typ ist gewiss typischer für neurechte Bewegungen, denn er dient ihnen als Mittel zum Zweck, ist ihnen ein politisches Werkzeug. Dabei muss man wiederum zwischen primären und sekundären Verschwörungstheoretikern unterscheiden, jenen, die derartige Theorien in die Welt setzen und aktiv verbreiten, und jenen, die sie schlicht glauben, ihnen ‚angehören‘. Freilich sind sowohl die Grenzen zwischen den Verschwörungstheorie-Typen als auch zwischen den verschiedenen Verschwörungstheoretikern fließend.

Die primären Verschwörungstheoretiker sind oft auch aktivistische oder gar politische Akteure, und sie haben meistens ein höchst widersprüchliches Verhältnis zur ‚Wahrheit.‘ Das ‚Finden und Aufdecken der Wahrheit‘ spielt dabei sogar eine untergeordnete Rolle. Zwar beanspruchen sie permanent ‚die’ Wahrheit für sich – gleichzeitig sind sie sich der Fiktionalität ihrer Theorien aber auch durchaus bewusst, wie ich im Folgenden anhand verschiedener rechter Verschwörungstheorien zeigen möchte.

Kultureller Marxismus: Rechtspopulismus als Antwort auf die postmoderne Hyperkultur

„Die wenigsten Dinge passieren einfach aus Zufall.“ Das eingangs erwähnte Zitat stammt aus einem YouTube-Video mit dem Titel „Die wahre Seuche 2020. Wie die Frankfurter Schule Deutschland zerstörte“, das auf dem rechten Kanal „eigentümlich frei“ am 26. September veröffentlicht wurde.[16] „Eigentümlich frei“ ist eine Monatszeitschrift, die es bereits seit 1998 gibt und von der allgemein bekannt ist, dass sie Überschneidungen mit der Neuen Rechten aufweist,[17] nicht zuletzt wegen ihrer Autoren wie dem Verleger Götz Kubitschek. Website und YouTube-Kanal sind hingegen durchweg politisch rechts einzustufen.

Worum geht es in dem Video? „Das Wesen der Europäer“, raunt der Sprecher im Video, stamme „maßgeblich aus den Tugenden des Christentums“. Aber, wendet er ein, mit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts habe sich das geändert: „Plötzlich wurde der Marxismus immer beliebter, die Scheidungsrate explodierte, es wurden immer weniger Kinder geboren und Sexualität entwickelte sich von einem privaten zu einem öffentlichen Interesse.“ Diese Entwicklungen, wird nun suggeriert, haben keinesfalls unabhängig voneinander stattgefunden, sondern sie hängen kausal miteinander zusammen. Vor allem aber handle es sich dabei um „Trends, die bis heute anhalten und als zufällige, evolutionäre Prozesse hingenommen werden“ – und nicht, lässt sich gedanklich hinzufügen, als Resultate eines perfiden Plans. Damit weist er all jene, die nicht von einer initialen Verschwörung, sondern von einer prozessualen Entwicklung ausgehen, als Ungläubige aus. Aber, das wissen wir bereits: Nichts passiert in der Logik der Gläubigen aus Zufall.

Der Autor des Videos geht schließlich den vermeintlichen Ursprüngen dieser Entwicklungen auf den Grund und macht die Verschwörer konkret aus: es ist die Frankfurter Schule. Adorno, Horkheimer, Marcuse. Warum? Die Leitlinie der Frankfurter Schule sei, zischt der Sprecher ins Mikrofon, ein kurzes Zitat von Karl Marx gewesen: „Neue Menschen brauchen wir.“ Der angestrebte Marxismus forderte eine Veränderung der Menschen – und nicht ihrer Umstände, erklärt der Sprecher. Deshalb habe die Frankfurter Schule „alle bis dahin geltenden Moralvorstellungen hinterfragt“. Er blendet die Begriffe „Familie und Ehe“, „Disziplin und Leistung“, „Respekt“, „Tradition und Heimat“ und „Sittlichkeit“ ein und fasst zusammen: Das Feindbild der Frankfurter Schule sei „die bürgerlich freiheitliche Gesellschaft zusammen mit dem Christentum und Marktwirtschaft“ gewesen. Das nenne man „kultureller Marxismus“. 

Dass es sich beim „kulturellen Marxismus“ um eine Verschwörungstheorie handelt, merkt man spätestens, wenn der Sprecher beteuert, viele wüssten nicht, dass diese Prozesse gesteuert wurden und „in welchem Interesse sie eigentlich handeln“. Ja, dass alles einem ganz bestimmten Plan folgt. Dass das, was sie für „normal“ halten (er meint aber „natürlich“), eigentlich gar nicht „normal“ ist (er meint künstlich hervorgebracht), sondern ihnen von der Frankfurter Schule auferlegt wurde: die „Ablehnung von Familien und traditionellen Geschlechterrollen. Normalisierung aller sexueller Tabus, Aufleben der antiautoritären Erziehung, Verhässlichung von Kunst, Kultur und Musik, Verharmlosung jeglicher Drogen, Ablehnung des Christentums und seiner Werte“. Auch sei den Menschen von der Frankfurter Schule eingetrichtert worden, dass jeder seine eigene Wahrheit habe und alles relativ sei. Oftmals ist in diesem verschwörungstheoretischen Plot daher auch anstatt von ‚die Frankfurter Schule‘ von ‚den Postmodernisten‘ die Rede. 

Bei den US-amerikanischen Neuen Rechten ist der sogenannte „cultural marxism“ schon lange ein geläufiger Kampfbegriff, nur dass er dort nicht „Deutschland zerstört“ hat, sondern die Kultur und Moral der USA. Durch solche offenbar unfallfreien Importe zeigt sich auch, wie austauschbar bzw. leicht zu adaptieren die musterhaften Verschwörungstheorien sind. Auf YouTube gibt es nun unzählige Filme in verschiedenen Versionen, die diesen verschwörungstheoretischen Plot verbreiten – entweder in Form von Erklärvideos, wie das eben besprochene (sie zeichnen sich aus durch eine eher neutrale Sprecherstimme, die im O-Ton über eingeblendete Grafiken spricht), oder in Form von dokufiktionalen Videos (sie zeichnen sich weitgehend durch kommentiertes Found Footage-Material aus) oder aber in Form von Wutreden (bei diesen Videos spricht eine in Nahaufnahme eingeblendete Person wütend über ein bestimmtes Thema in die Kamera, oft adressiert sie dabei die Zuschauer konfrontativ). 

Ein gutes Beispiel für Wutreden sind die Videos von Paul Joseph Watson, einem selbstbewussten und erklärten Vertreter der Neuen Rechten aus Großbritannien. Neben seinem YouTube-Kanal, der mehr als eine Millionen Follower zählt, schreibt er regelmäßig für infowars.com, eine der populärsten Plattformen für „Fake News“ in Amerika. Seine Videos mit Titel im Muster von „The Truth about XY“ sind Verschwörungstheorien im YouTube-Format. Denn als Wahrheit wird auch hier zunächst einmal deklariert, dass das, von dem alle glauben, es habe sich einfach so entwickelt, eigentlich von Anfang an geplant, eine Verschwörung war. 

In einem populärkulturkritschen Video mit dem Titel „The Truth about popular culture“, über das ich schon an anderer Stelle auf dieser Website ausführlicher geschrieben habe,[18] macht er einmal mehr die Postmodernisten als Verschwörer aus. Sie würden daran arbeiten, das Bild der Gesellschaft gänzlich umzugestalten. Dadurch hätten sie alles hässlich gemacht. Er zeigt seinen Zuschauern verschiedene Bilder, um visuell zu bezeugen, wie hässlich alles geworden ist: die Architektur, die Kunst und die Stars – alles hässlich. „The goal? To completely undermine the foundation of western civilization and leave us open to subversion and capitulation“, mutmaßt Watson über die Absichten der „Postmodernisten“.[19]

Watson gelangt im Gern seines Videos zu der Schlussfolgerung, dass „die Postmodernisten“ absichtlich die Grenze zwischen high und low verwischen, sprich, einen gezielten Angriff auf die westliche Zivilisation ausüben: „Postmodernists seek to invade the distinction between high culture and popular culture.“ Als Beispiel führt er Readymades an, die er als brillant geplante Volksverdummung betrachtet. Bewusst scheint er sogar Readymades als Integrationsversuch trivialer Gegenstände in die Sphäre der Hochkultur zu interpretieren. Wie wir jeden Flüchtling in unser Land lassen, wird auch jede Trivialität in die Kunst aufgenommen – so die Logik.[20] Auf eine komplexere Ursachenforschung wird zugunsten einer schlichten Verschwörungstheorie verzichtet, die insofern auch hervorragend zu seiner Weltanschauung passt, als sie ebenfalls Grenzen zieht, eindeutige Verursacher kennt, und stets Gut und Böse klar voneinander zu unterscheiden weiß.[21]

Verschwörungstheorien als Fan Fiction

Sosehr sich Watson einerseits über die schmutzige, leere, bedeutungslose Populärkultur aufregt, ist er gleichzeitig auch Befürworter, ja ein ‚Fan‘ von vielem, das sie hervorgebracht hat. Eine ganze Reihe von Videos widmet er beispielsweise Todd Philips „Joker“ von 2019. „The joker was undoubtedly the most authentic watershed cultural moments of the last 10 years“, raunt er in die Kamera und stellt den Zuschauern die rhetorische Frage: „How do we know for sure that it was so good? Because all the right people hated it!“ Das hört sich zunächst wie ein harmloser, oberflächlicher Streit unter Fans an – wie sich Fans einst immer klar zugeordnet haben: „The Beatles“ oder „The Rolling Stones“, „Die Ärtze“ oder „Die Toten Hosen“. Tatsächlich bezieht sich Watson hier aber auf die erbitterten Debatten vor der Filmpremiere von Philips „Joker“. Kritiker stritten sich darüber, ob die Interpretation von Jokers Alter Ego Arthur Fleck als gekränktem außenseitereschem Mann, als Incel, eine treffende Analyse des gegenwärtigen Amerika sei, und mutmaßten, ob er nicht ein gefährlicher Anreiz für genau diesen Typ von Amokläufer sein könnte. 

Aufgeheizt wurde die Debatte noch, als bekannt wurde, dass die US-Armee ihre Mitglieder vor Attentaten möglicher Incels anlässlich der Joker-Premiere in amerikanischen Kinos gewarnt hatte. Denn die Hauptfigur, Arthur Fleck, mordet im Film aus Verzweiflung an seiner schlechten Lebenssituation und auch beruflich verzwickten Lage, die durch seine Kündigung eine Zuspitzung erfährt. Als sich sein ehemaliger Chef in einem Fernsehinterview zu den Morden abfällig über „nicht-reiche“ Menschen äußert, Neid als Motiv für die Morde verantwortlich macht und diese missverständlich als Clowns bezeichnet, entsteht auf den Straßen eine Protestbewegung gegen das Establishment, deren Teilnehmer in Anspielung auf die Aussage Clownskostüme und -masken tragen. Zurecht stellte man sich also in Reaktion auf den Film Fragen wie „Ist die Figur ein Kommentar auf den gekränkten alten weißen Mann, auf die soziale Kälte, auf den verordneten Optimismus Amerikas, auf die Selbstermächtigung durch Gewalt und ihre Rolle in der amerikanischen Psyche?“[22] 

Als eines der Vorbilder der Szene gilt wiederum der Attentäter James Holmes, der während einer Vorstellung des Batman-Epos „The Dark Knight Rises“ im Juli 2012 zwölf Menschen in einem Kinosaal in Aurora erschossen hat. Der damalige Polizeichef New Yorks hatte nach der Tat bei einer Pressekonferenz gesagt, Holmes habe behauptet, er sei der Joker. Dieses  Gerücht blieb in der Welt: Die fiktionale Comic- und Film-Schurkenfigur Joker habe einen Menschen zu einer realen Mordtat inspiriert.[23] Die Autorin Josephine Livingstone stellte sogar die Frage, ob „Joker“ wirklich nur ein Film sei, und meinte damit den Plot und die vom Film aufgerufenen und aus der US-amerikanischen Realität gut vertrauten Narrative.

Realität oder Fiktion – diese Frage interessiert Watson reichlich wenig. Er nimmt den Film schlicht für wahr, zeige er doch „the true reason“, den wahren Grund, warum unsere Gesellschaft so krank sei, eine Gesellschaft, die „gebrainwashed“ wurde und nur mit Lifestyle und Konsum still gehalten werde. Alles, was für die gängige Lesart eine Gefahr darstelle, würde zensiert und gecancelt. Verantwortlich dafür seien „die Sozialen Medien“, „Silicon Valley“ und diverse „Empörungs-Mobs“. 

In den Videos von Watson wird deutlich, wie die Rhetorik von Verschwörungstheorien regelrecht als ein Stil eingesetzt wird – denn de facto sind es oft sehr langweilige, wenig aufregende oder gar unterhaltsame Theorien. Diese Rhetorik besteht in der Verwendung typischer und aus Film und Fernsehen vertrauter Topoi und Plots – z.B. die Feststellung, alles folge einem Plan, oder die Entlarvung von wenigen Verantwortlichen oder die Inszenierung einer „Erleuchtung“, eines „Erwachens“, einer „Augenöffnung“. Diese Topoi und Plots zur Gegenwartsbeschreibung und für politische Kommunikation zu verwenden, ist durchaus strategisch, knüpft es doch an das kulturelle Gedächtnis der Zuschauer an, denen das Erzählte vertraut und damit auch plausibel vorkommt. Deshalb referieren auch Neue Rechte immer wieder gerne auf die populäre Kultur: „It’s incredibly important to red pill Generation Z“, wendet sich Watson in einem Kommentar an seine Zuschauer. Das ist ein gängiges Motiv: Oft wird in der rechten Szene auf die rote Pille im Film Matrix angespielt, die als Synonym für „Wahrheit“ gilt. Gleichzeitig wird damit eine Welt beschrieben, die sich als Illusion darstellt, mit der Absicht, die unschöne „Wahrheit“ zu vertuschen.[24]

Aber nicht nur im Heimatland Hollywoods, sondern auch im deutschsprachigen Raum nehmen die Plots und Mythen der populären Kultur eine immer größere Rolle ein. Neue Rechte, besonders auch die Identitäre Bewegung, beziehen sich keinesfalls nur auf Ernst Jüngers „Waldgang“ oder die Schriften Martin Heideggers, sondern längst auch auf eine Reihe von Comics und Filmen. Mario Alexander Müller, der das Identitäre Projekt „Kontrakultur Halle“ gegründet hat, veröffentlichte 2017 im Antaios Verlag eine Art Lexikon der Identitären Bewegung, und besonders die popkulturellen Einträge liefern interessante Einblicke in das Selbstverständnis der Neuen Rechten. Der erste Eintrag ist zu „Abenteuer“ – also einem populärkulturellen Genre. Dort heißt es dann: „Wir sind die Nachfahren von Eroberern und Entdeckern, von Kreuzrittern und Königinnen, von Freibeutern und Friedlichen Revolutionären. Voller Bewunderung und Eifer lesen wir die Geschichte ihrer heroischen Siege und tragischen Niederlagen.“[25] Dabei identifizieren sich die Identitären besonders auch mit fiktiven Helden: Da ist etwa Asterix, der „nach jedem Abenteuer beim gemeinsamen Festmahl im Dorf der Widerständler“ die „Erkenntnis feiert, daß es nirgendwo auf der Welt so schön ist wie daheim!“;[26] oder der namenlose Kapitänleutnant aus dem Film „Das Boot“, den sie dafür bewundern, dass er mit seinem 30 Jahren von der Mannschaft „der Alte“ genannt wird und insgesamt eine „solidarische Haltung zum Ausdruck“ kommt: „Treue, Kameradschaft, Kampfgeist und Pflichterfüllung.“;[27] oder der namenlose Protagonist aus Fight Club, einem „weißen, heterosexuellen und männlichen Sklaven der modernen Zivilisation“, der von seiner Sinnkrise erlöst wird, indem er mit dem Anarchofaschisten Tyler Durden einen Kampfclub gründet, in dem sich „Männer in archaischen Kämpfen gegenseitig die Zähne ausschlagen und zu neuem Leben erwachen“; oder Christopher McCandless aus „Into the Wild“, der der Zivilisation entfliehen will und den die Identitären als „mutigen Pionier“ würdigen.[28] 

Das ist nur eine Auswahl von Beispielen, die zeigt, wie wichtig die Plots und Figuren der populären Kultur auch für neurechte Bewegungen sind. In Amerika sind die Überschneidungen von Populärkultur und Politik schon lange Thema, mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten erlebte es aber eine Renaissance. An ihm zeigte sich mehr denn je, das zwischen Filmen und der Realität kein Unterschied mehr ausgemacht wurde. Für viele war Trump offenbar vielmehr die auf eine Art durchaus liebenswürdige Film- und Serienfigur mit Gastauftritten in „Kevin Allein Zuhause“ oder „Die Nanny“. In seinem Buch „Trump!: POPulismus als Politik“ hat Georg Seeßlen gezeigt, wie ununterscheidbar mediale Fiktion und politische Realität geworden waren: „Wir leben in einer großen Erzählung der Demokratie. Aber wir leben auch in einer großen Blase des Entertainment, der Kulturindustrie und der populären Mythologie. In der ersten Erzählung geht es um Interessen, um Erklärungen, Informationen, um rationale Entscheidungen, um Gesetze, Verträge und Verhandlungen. In der zweiten Erzählung indes geht es um Bilder, Mythen, Emotionen, Identifikationen, Spiele, Fantasien. Politik spielt sich längst in beiden Erzählungen ab, Politiker verkaufen sich wie Pop-Stars, und die sozialen Wahrheiten werden nicht in Regierungserklärungen, sondern in Kriminalromanen, Hollywood-Filmen und Comedy Shows verhandelt. Bislang schien es freilich, dass die meisten Menschen sehr wohl unterscheiden können zwischen den Sphären von politischer Realität und medialer Fiktion. Aber offensichtlich fällt diese Unterscheidung immer schwerer.“[29] 

Diese Diagnose bestätigt sich nicht nur in den Erzählungen über Trump, die kaum einmal ohne Filmreferenzen auskommen. Adrian Daub hat gezeigt, wie der amerikanische Journalismus Trumps Regentschaft nicht nur gern entlang von Filmen wie „Eine Frage der Ehre“, „Der Pate“ oder „Chinatown“ erzählt –,[30] sondern allen voran an Verschwörungstheorien, die, wie man etwa auch an der Covid-19-Infektion Trumps sehen konnte, nicht mehr nur den Neuen Rechten plausibel vorkam: War Trumps Erkrankung nicht eine bloße Inszenierung in einem ohnehin irrsinnigen Wahlkampf? Bei Spiegel Online schrieb man: „Was für ein Coup. Wäre ‚Trump – The White House Years‘ eine Serie auf Netflix, ein talentierter Autorenpool hätte sich so kurz vor der Wahl keinen effektiveren Plot-Twist ausdenken können.“[31]

Fernsehen und Film liefern aber nicht nur das Design für Verschwörungstheorien. Die zunehmende Übereinstimmung von Filmplots – wie beispielsweise aus „Matrix“, „The Truman Show“ oder auch „JFK – Tatort Dallas“ – und auf die Realität bezogenen Verschwörungstheorien zeugt davon, dass es ein allgemeines Bewusstsein für ihre Fiktionalität gibt. Dass die Welt als ‚theatrum mundi’ oder, anders formuliert, als Filmset begriffen wird. 

„Haben Sie eine Theorie?“ fragt Scully Mulder in Anblick ihres ersten gemeinsamen Falles in der ersten Folge von „Akte X“. Und er antwortet mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht:  „Ich habe massenhaft Theorien“. Mulder fragt zurück: „Glauben Sie vielleicht an die Existenz von Außerirdischen?“ Darauf Scully: „Streng logisch gesehen müsste ich wohl sagen ‚nein‘. Schon allein die riesigen Entfernungen, die im Weltall zu überwinden sind, würden die Energiekapazität eines Raumschiffes bei weitem übersteigen“, dann unterbricht Mulder Scully mit zynischer Abgeklärtheit: „Konventionelle Weisheiten.“ Mulder geht es nicht um ‚logisch‘ oder nicht. Mulder, das merkt man in jeder einzelnen Episode ganz deutlich, hat Freude an der Theoriebildung, er verbindet einen gewissen Werkcharakter mit dem Verknüpfen von Informationen.[32] 

Gleiches merkt man auch bei den Anhängern vermeintlich echter Verschwörungen – z.B. der rechten Theorie über den großen Austausch, in der davon ausgegangen wird, dass „die Globalisten“, „die Eliten“, „die Privatwirtschaft“, „die Juden“, „Multikulturalisten“ oder auch Organisationen wie die Europäische Union oder die Vereinten Nationen den geheimen Plan verfolgen würden, die weiße Mehrheitsbevölkerungen gegen muslimische oder nicht-weiße Einwanderer auszutauschen. Im Netz, in YouTube-Videos, Blogpostings, Tweets, bilden sie diese Theorie immer weiter, durch die Benennung immer neuer kleinteiliger Indizien oder vermeintlicher Beweise. Wie im Genre der Fan-Fiction wird der Plot der Verschwörungstheorie permanent ergänzt, fortgeschrieben, in Details verändert. Wie in der Fan-Fiction wird das aktuelle Zeitgeschehen permanent in den Plot bzw. die Theorie eingebunden: „5G-Mäste? Vorbereitung für den Chip! Impfungen, gar eine mögliche Pflicht dazu? Unterdrückung des menschlichen Immunsystems, um ein autarkes Überleben unmöglich zu machen. Die sich verstärkenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen? Herbeiführen eines Casus Belli für den finalen Krieg. Verrückte Geschichten von Politikern, die eigentlich Reptilienmenschen sind und sich im Inneren der hohlen Erde mit Aliens austauschen? Absichtlich von Geheimdiensten verbreitete, schwachsinnige Pseudoverschwörungstheorien, die das Hinterfragen der großen, wahren Weltverschwörung bloßstellen sollen. Und nun auch noch das: Maskenpflicht? Ein besonders genialer Schachzug, um gesellschaftliche Konflikte hochkochen zu lassen.“[33] 

„Conspiracy theory demands continual interpretation. There is always something more to know about.“ schreibt Mark Fenster in seinem Buch „Conspiracy Theories: Secrecy and Power in American Culture“,[34] in dem er gezeigt hat, dass Verschwörungstheorien auch spielerisch und auf Unterhaltung ausgerichtet sind. So berichtet er unter anderem vom Besuch der „Phenomicon convention“ im Jahr 1992. Die Teilnehmenden, die hier unter anderem an zahlreichen Panels zu Verschwörungstheorien teilnahmen, pflegten laut Fenster einen betont lustvollen und spielerischen Umgang mit der Materie, eine, wie er schreibt „playful irony“.[35] 

Der Wahrheitsverzicht der Neuen Rechten

Das bestätigt sich auch in einem Artikel, der 2020 in „Die Zeit“ veröffentlicht wurde und in dem der Autor (ein Ex-Verschwörungstheoretiker) seine Erfahrungen mit Verschwörungstheorien schildert, an die er mittlerweile nicht mehr glaubt. Über seine Motivation ist zu lesen: „Ich wollte mich nicht etwa, wie mir oft unterstellt wurde, von persönlichen Problemen ablenken. Ich wollte einfach glauben. Glaube: nicht etwas Politisches. Etwas Poetisches.“[36] Er beschreibt seinen unbedingten Willen zum Glauben, zum Unwahrscheinlichen und Mythischen, zur Spiritualisierung von Politik: „Das Einzige, wovor Verschwörungstheoretiker sich noch mehr fürchten als vor der Verwirklichung ihrer Ängste, ist der Rückfall in die Zeit vor ihrer ‚Erleuchtung‘, als die Welt noch keinen Sinn ergab.“[37]

In seinen Aussagen wird etwas deutlich, was auch für die Neuen Rechten gilt: Sie werden nicht durch Denkverzicht zu Verschwörungstheoretikern – sondern durch Wahrheitsverzicht. Eine gute, plausible Fiktion ist für Verschwörungstheoretiker mehr wert als eine schlechte, unplausible Wahrheit.

Wie ist es also um das Verhältnis der Neuen Rechten zur Wahrheit bestellt? Ich hatte zu Beginn ihre Vorliebe für Begriffe wie „Lügenpresse“ und „Fake News“ erwähnt, die suggerieren, dass sie es mit der Wahrheit ernst meinen, ja dass sie ein hohes Ethos haben und Ehrenmänner im Kampf gegen die Lügen sind. Ich hoffe, dass ich deutlich machen konnte, dass es ihnen jedoch weder um die Lüge noch um die Wahrheit geht, sondern schlicht um den Plot, der von dieser Polarität erzeugt wird. Und tatsächlich sind ja die Lüge und die Fiktion zwei Spielarten von Nicht-Realität. So produzieren sie ohne jede Hemmung unentwegt, wovon sie sich – würden sie es genau nehmen – selbst abzugrenzen versuchen. Es ist unwichtig, ob die fiktive Wahrheit richtig ist oder falsch, Hauptsache sie macht innerhalb der Erzählung Sinn, ist innerhalb des Plots plausibel, ‚realistisch‘.

Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat in seinem 1986 erstmals erschienen Essay „On Bullshit“ Lügen von Bullshit unterschieden. Wovon sich die Leute eigentlich provoziert fühlen, wenn sie Trumps Tweets lesen oder den Argumenten rechter Verschwörungstheoretiker lauschen, das ist der Bullshit. Mit Bullshit meint er Geschwafel, das Verschleiern von Themen, ein Reden, ohne dass man etwas sagt. Während die Lüge bei einer konkreten Wahrheit ansetzt und diese gerade in ihrer Verschleierung ernst nimmt, interessiert sich Bullshit überhaupt nicht für die Wahrheit. Das gilt auch für die Theorien und Thesen der Neuen Rechten: Sie sind Mittel zum Zweck in einem Kulturkampf, die Inhalte sind für die Mitglieder aber weitgehend folgenlos. Das lässt sich nirgendwo so gut erkennen wie in ihrem Verhältnis zur Populären Kultur und zum Postmodernismus, den sie deshalb verachten, weil er Grenzen aufgelöst habe – sei es zwischen high und low, den Geschlechtern oder im Konzept der multikulturellen Gesellschaft.

Ironischerweise liefert die Theorie des Cultural Marxism zugleich auch die Erklärung für die teilweise relativistische Sichtweise der Neuen Rechten auf das, was ‚wahr‘ ist. In dem Video „Crazy Theories?!“ der rechten YouTuberin Naomi Seibt aus Münster wehrt sich die junge Frau gegen die Vorwürfe, sie vertrete Verschwörungstheorien, weil sie auf der Grundlage „eigener unabhängiger Recherche“ nicht allen Theorien zustimme, auf die sie in den etablierten Medien treffe. Vielmehr vertraue sie auf „ihre eigene, persönliche, holistische Perspektive“ auf die Gesellschaft. Sie stehe für Individualismus, davon seien ihre Theorien Ausdruck.[38]

Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Akteure neurechter Bewegungen bei all ihrer Kritik an der Auflösung von Grenzen eine entscheidende Grenze durchbrochen haben: die zwischen Realität und Fiktion. Allen anderen, allen gegenwärtigen Geschehnissen und Entwicklungen einen kalkulierten Plan zu unterstellen, für den wenige verantwortlich sind, zeugt umgekehrt vor allem davon, dass sie selbst einen Plan verfolgen. Sie sind wie die Bösewichte bei Inspektor Columbo: Helfen fleißig beim Ausfindigmachen der Täter mit – und stellen sich am Ende selbst als die Täter heraus.

 

Anmerkungen

[1] Z.B. Michael Butter: „Nichts ist wie es scheint.“ Über Verschwörungstheorien. Frankfurt am Main 2017, S. 10.
[2] rbb24: Brandenburger Verfassungsschutzchef spricht von „chaotischer Anti-Corona-Mixtur“, 3.9.2020 (https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/09/verfassungschutzchef-brandenburg-demos-corona-berlin.html)
[3] Detlef Esslingen: Nur ein Völkchen, nicht das Volk, in: Süddeutsche Zeitung, 30.8.2020 (https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-berlin-demonstration-covid-19-1.5014513)
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Vgl. Butter 2017; Vgl. Frank Decker: Der neue Rechtspopulismus. Opladen 2004, S. 29.
[7] Vgl. Clemens Knobloch: Einige Beobachtungen über den Gebrauch des Stigmawortes „Populismus“, in: Stephan Habscheid und Michael Klemm (Hg.): Sprachhandeln und Medienstrukturen in der politischen Kommunikation. Tübingen 2007, S. 113-131. Knobloch charakterisiert die Verwendung des Populismus-Begriffs und dessen Folgen wie folgt: „Tendenziell scheint sich der Gebrauch des Stigmawortes ‚Populismus‘ auf Phänomene einzupendeln, die sich rhetorisch-strategisch oder auch machtpolitisch real dem hegemonialen Einheitssound der ‚Globalisierung‘ entziehen oder verweigern. In dieses Feld fallen neuerdings sozialstaatliche Werte und Deutungsmuster ebenso wie dezidiert nationale Bestände der politischen Rede. Im politischen Kampf um das ‚Heißen‘ spielt die Verschiebung und Verwischung semantischer Fronten immer eine Rolle. Dass sozialstaatlich abgesicherte Verhältnisse zusehends als für den ‚Standort‘ fatale nationale ‚Egoismen‘ […] codiert werden, gehört insofern zum Bild. Wer die Einhaltung landesüblicher Tarife und Sozialstandards fordert, der ist nach den Regeln der neuen Konstellation bereits ’national‘  und somit diskreditiert. Im Effekt trägt das dazu bei, im öffentlichen Bewusstsein ‚rechte‘ und ‚linke‘ Positionen einander anzunähern, was zur ganz gewöhnlichen Funktionsweise der politischen ‚Gleichgewichtswaage‘ gehört. In dieser begründet sich die Legitimität der ‚Mitte‘ gerade aus der Gleichsetzung des ‚rechten‘ und des ‚linken‘ Pols.“ (S. 115)
[8] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, S. 415.
[9] Jan-Werner Müller: Populismus. Theorie und Praxis, in: Merkur 69, Heft 795, S. 28-37. Hier S. 30. In seinem Überblick über die Populismus-Forschung würdigt Wolfgang Knöbel zwar die Definition von Populisten als dezidierte Antipluralisten, doch wirft sie in seinen Augen das Problem auf, „ob und welche sozialwissenschaftlichen Fragen sich eigentlich noch an ein Phänomen wie den Populismus richten lassen.“ (Wolfgang Knöbel: Über alte und neue Gespenster. Historisch-systematische Anmerkungen zum „Populismus“, in: Mittelweg 36, 25. Jg., Nr. 6 (2016/2017), S. 8-35, hier S. 32.)
[10] Vgl. Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. Frankfurt am Main 2020
[11] Marcus Krause, Arno Meteling, Markus Stauff (Hg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. München 2011. S. 12.
[12] Mark Fenster: Conspiracy Theories: Secrecy and Power in American Culture. Minneapolis 2008, S. 7.
[13] Marcus Krause, Arno Meteling, Markus Stauff (Hg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. München 2001, S. 21.
[14] Vgl. Mary Douglas: How Institutions Think, Syracuse: New York 1986, S. 41. Zit. nach Krause, Meteling, Stauff S. 20.
[15] Butter 2017, S. 5.
[16] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=KGlq49qUxGM
[17] Z.B. Christian Fuch, Paul Middlehoff: Bis in den letzten, rechten Winkel, in: Die Zeit, 12.5.2018 (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/neue-rechte-verteilung-deutschlandkarte)
[18] Vgl. Annekathrin Kohout: Wie der Diskurs über ‚high & low‘ politisch instrumentalisiert wird, in: pop-zeitschrift.de, 16.7.2018 (https://pop-zeitschrift.de/2018/07/17/wie-der-diskurs-ueber-high-low-politisch-instrumentalisiert-wirdvon-annekathrin-kohout16-7-2018/)
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Adrian Daub: Der gekränkte Clown, in: Die Zeit, 7.10.2019 (https://www.zeit.de/kultur/film/2019-10/joker-figur-film-todd-phillips-joaquin-phoenix)
[23] Ebd.
[24] Kohout 2018.
[25] Mario Alexander Müller: Kontrakultur. Schnellroda 2017, S. 15.
[25] Ebd. S. 32.
[26] Ebd. S. 41/42.
[27] Ebd.
[28] Ebd. S. 88/89.
[29] Georg Seeßlen: Trump!: POPulismus als Politik. Berlin 2017, S.7.
[30] Adrian Daub: Wir sind hier nicht in einem Film, in: Die Zeit, 30.10.2019.
(https://www.zeit.de/kultur/2019-10/donald-trump-us-praesident-erzaehlweise-film-journalismus-wahrheit)
[31] Arno Frank: Sein eigenes Drehbuch, in: Der Spiegel, 2.10.2020 (https://www.spiegel.de/kultur/donald-trump-und-die-corona-diagnose-sein-eigenes-drehbuch-a-4b3c84c5-1981-492b-b38c-0a8b84548a48)
[32] Vgl. Interview mit Christian Schiffer: „Instrumente der Angst und Radikalisierung“, in: tagesschau, 28.06.2020 (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/verschwoerungsmythen-popkultur-117.html)
[33] Alexander Eydlin: Ich sah das Schlachtfeld, in: Die Zeit, 5.9.2020 (https://www.zeit.de/kultur/2020-09/verschwoerungstheorien-anhaenger-erfahrung-umgang-vorurteile-coronavirus#comments)
[34] Fenster 2008, S. 93.
[35] John David Seidler: Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld 2016, S. 67.
[36] Eydlin 2020.
[37] Ebd.
[38] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=DdYhpBC8DZE [Video nicht mehr verfügbar]

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