Reaction-Videos
von Annekathrin Kohout
3.5.2021

Gestaltete Emotionen

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 47-54]

Die Augen werden weit aufgerissen, die Hände bestürzt vor das Gesicht gehalten oder verlegen in den Nacken gelegt. Es wird ironisch geschmollt, herzhaft gelacht, empört oder entsetzt der Mund verzogen. All diese Gesten sind Reaktionen – starke Reaktionen auf alle möglichen kulturellen Produktionen, seien es Bilder, Videos, Mahlzeiten oder Kommentare, mit denen sich Nutzer vor laufender Kamera konfrontieren. Auf YouTube haben sich solche ›Reaction-Videos‹, kurz auch ›Reacts‹ genannt, als ein eigenes Genre etwa neben ›Pranks‹ oder ›Vlogs‹ etabliert.  

In Wikipedia-Artikeln, Blogbeiträgen, Kommentaren im Netz etc. werden zwei verschiedene Dinge damit bezeichnet: Zum einen Bilder, Gifs oder Videos, die selbst als Reaktionen zum Einsatz kommen – etwa in einem Chatverlauf oder im Kommentarbereich eines Postings. Diese verwendet man – ähnlich wie ein Emoji – stellvertretend für die eigene Mimik und Gestik. Zum anderen sind damit Videos gemeint, die eine oder mehrere Personen zeigen, während sie auf etwas reagieren. Diese Videos werden meistens nicht stellvertretend für die eigenen Emotionen verwendet, sondern man betrachtet die der anderen. Im Folgenden geht es um das letztgenannte Phänomen: Reaction-Videos, nicht Video-Reactions. 

[Video nicht mehr verfügbar]

Reaction-Videos sind eine typische, wenn nicht sogar symptomatische kulturelle Praktik für die »Kultur der Digitalität« (Felix Stalder), weil sie »bestehendes kulturelles Material für die eigene Produktion« nutzen. Diese Referenzialität wird im Reaction-Video durch die Konzentration auf die Reaktion sogar selbst zum Thema, denn ohne bestehendes Material gäbe es keine Reaktion. 

Als ein etabliertes Social-Media-Genre dienen Reaction-Videos nicht nur der Unterhaltung, sondern vor allem der Identifikation, Vernetzung und Interaktion. Da es im Wesentlichen um Emotionen geht, die zudem durch eine oftmals expressive Mimik zum Ausdruck gebracht werden, erzeugen Reaction-Videos Empathie mit dem Dargestellten, sie aktivieren die ›Spiegelneuronen‹, lassen die Betrachter mitlachen, mitweinen, mitfühlen, die dargestellte Geste wiederholen und führen somit zwangsläufig zur Identifikation mit der reagierenden Person.

Reaction-Videos besitzen zudem eine gewisse ›Kick-Off-Qualität‹: Sie regen zu Kommentaren an, in denen man den Emotionen zustimmend oder ablehnend begegnet. Aber sie regen auch zum Nachmachen an, liefern Content-Ideen für andere und entlasten sie demnach von einem gewissen Kreativitätsdruck, der zwangsläufig entsteht, wenn man regelmäßig für Follower Videos produziert bzw. produzieren muss, damit sie das Interesse an dem jeweiligen Kanal oder Profil nicht verlieren.

»Das ist so unglaublich, wow, ich möchte gerade gar nicht sprechen«, sagt ein Protagonist eines Reaction-Videos, in dem klassische Musiker auf das »Black Swan«-Video der global erfolgreichen koreanischen K-Pop-Band BTS reagieren. Wie hypnotisiert starrt er mit einem teils fassungslosen, teils freudigen Blick auf den Bildschirm, auf dem das Musikvideo abgespielt wird. Der junge Musiker ist so mitgerissen, so eingenommen von den Klängen der Instrumente, dem Tanz, den Bildern, dass er schlichtweg keine Distanz dazu herstellen kann. Es ist ihm unmöglich, in diesem Moment der Ergriffenheit auf seinen Verstand zuzugreifen, seine Fähigkeit zur Urteilskraft einzusetzen.

Das ist die Grundidee eines jeden Reaction-Videos: Eine Person wird mit etwas konfrontiert, von dem bereits abzusehen oder zumindest zu erahnen ist, dass es sie ›triggert‹, sprich: starke Emotionen bei ihr auslöst; z.B., weil man ihr etwas vorspielt/zeigt, das sie zuvor noch nie gesehen oder gehört hat und darum eine ›jungfräuliche‹ (und allein deshalb schon mutmaßlich starke) Reaktion provoziert. Gerade weil sie Emotionen zeigen, erwartet man von Reaction-Videos, dass sie authentisch sind, dass sich die Protagonisten ›echt‹ verhalten und nicht verstellt oder aufgesetzt. Diese Authentizität gelingt ihnen interessanterweise wiederum nur durch Künstlichkeit: Das ›Natürliche‹ wird gerade durch Übertreibung, durch eine theatralische Expressivität des Artikulierten zum Ausdruck gebracht. 

Blickt man in die Kunstgeschichte, fällt auf, dass das ikonografisch keinesfalls üblich ist. Denn mit einer ›natürlichen‹ Ausdrucksweise wurde gemeinhin eine sehr viel zurückgenommenere Mimik und Gestik assoziiert. Etwa so wie in einigen um Realismus bemühten ›Reaction-Malereien‹ des 19. Jahrhunderts, auf denen Figuren oder Figurengruppen abgebildet sind, die auf Bücher, klassische Musik oder andere Kunstwerke reagieren. In solchen Gemälden wird Authentizität durch dezente Zurückhaltung hergestellt, durch die Darstellung einer stillen, nachdenklichen Einkehr. Ein gutes Beispiel dafür ist Wladimir Jegorowitsch Makowskis »Am Grammophon« von 1910. Es zeigt eine Hausherrin, die ihren Kindern, der Mutter und einer Bediensteten Musik über das Grammophon vorspielt. Die Zuhörenden sind ganz und gar in sich gekehrt, es gibt keine Interaktion, keine Mimik oder Gestik, die an die anderen oder gar an den Betrachter adressiert ist. Makowski wollte eine intime Szene zeigen, weshalb er das Geschehen auch in einem privaten Raum und in geschlossener Gesellschaft stattfinden lässt. Die Personen sind unter sich.

Wladimir Jegorowitsch Makowski: »Am Grammophon«, 1910

Hier wird ein interessanter Unterschied zu den gegenwärtigen Reaction-Videos deutlich. In ihnen geht es nicht darum, einen intimen, privaten und in diesem Sinne ›natürlichen‹ Augenblick festzuhalten, was das Vorhaben Makowskis gewesen sein mag. Reaction-Videos richten sich gezielt an die digitale Öffentlichkeit, die sich gerade durch die ausgestellte Expressivität unterhalten, inspiriert und animiert fühlen soll. Freilich ist die zurückgenommene Reaktion besagter Malereien aus dem 19. Jahrhundert aber auch den zugrundeliegenden Artefakten geschuldet, die nämlich – anders als die vieler Reaction-Videos auf YouTube – im Bereich der ›hohen Kultur‹ zu verorten sind.

Nicht immer, aber doch sehr oft sind Reaction-Videos Selbstdarstellungen, die YouTuber zeigen sich selbst beim Reagieren. Vor diesem Hintergrund besteht nun die Natürlichkeit der Expressivität und Überspitzung darin, dass sie ›ironisch‹ performt werden. Wie bei einem extremen Duckface oder anderen auf den ersten Blick unnatürlichen Selfie-Posen werden die Protagonisten deshalb als ›authentisch‹ wahrgenommen, weil sie sich selbst nicht allzu ernst nehmen, weil sie die Szene in ihrer Absurdität reflektieren.

Hieran wird deutlich, dass durchaus eine Art Transformationsprozess stattfindet, eine Gestaltung der soeben erlebten Affekte und Emotionen. Die Reaktionen im Video erfolgen in dem Wissen, dass sie vor Publikum stattfinden, und über dieses Wissen soll auch nicht hinweggetäuscht werden. Das wiederum unterstreicht: Die Protagonisten auf den Videos sind den Emotionen nicht unfreiwillig ausgesetzt, sie sind nicht Opfer ihrer eigenen Affekte, zu ›schwach‹, diese zu kontrollieren – sondern die Emotionen werden ganz im Gegenteil eigens provoziert, die Reagierenden kitzeln sie beinahe aus sich selbst heraus. 

Wie sehr gestaltet die Reaktionen in Reaction-Videos sind, zeigt sich auch darin, dass es regelrecht zu einer Challenge geworden ist, besonders ungewöhnliche, überraschende, absurde, verrückte Konstellationen zu erzeugen: Es gibt Teenager, die auf die Google-Such-Historie ihrer Eltern reagieren, Krankenhausmitarbeiter, die auf Danksagungen im Zuge der Covid-Pandemie reagieren, YouTube-Paare, die auf #relationshipgoals im Internet reagieren, Boomer, die auf die Food-Trends von Millennials reagieren, Pakistaner, die zum ersten Mal amerikanische Burger probieren und darauf reagieren, italienische Großmütter, die zum ersten Mal Tiefkühlpizza essen etc.

Es gibt ganze Profile, die sich nur dem Format der Reaction-Videos widmen und diese ungewöhnlichen Konstellationen eigens produzieren, und YouTuber, die sich auf bestimmte Reaction-Videos spezialisiert haben – insbesondere Reaktionen auf Games (z.B. Gronkh), aber auch auf Nachrichten oder Memes. Bei aller Vielfalt lässt sich dennoch eine einfache Klassifikation vornehmen. Es gibt zwei Grundformen oder Genres von Reaction-Videos: Zum einen Videos, in denen die laienhafte Reaktion auf etwas für die Person bislang Unbekanntes im Mittelpunkt steht – zum Beispiel Kinder, die auf technische Geräte vor ihrer Zeit reagieren wie z.B. den Walkman. Zum anderen professionelle Reaktionen – etwa wenn Berufstänzer auf TikTok-Choreografien oder Ärzte auf medizinische Filmszenen reagieren.

Gerade in den Videos des erstgenannten Genres geht es um ›das erste Mal‹, das unschuldige Auge, das nicht voreingenommen, nicht von den Verstrickungen in die Geschichte getrübt ist. Die Videos appellieren an die alte Sehnsucht nach einem ›reinen Sehen‹ oder dem ›reinen Auge‹, das noch frei ist von Vorwissen und damit auch von Vorurteilen. Bildende Künstler sahen in solchen unmittelbaren Reaktionen und im unschuldigen Blick immer schon eine besondere Qualität. Ein interessantes Reaction-Video aus der Vor-Internet-Zeit ist in diesem Zusammenhang Herz Franks Dokumentarfilm »Ten Minutes Older« (1978). In dem Film sieht man buchstäblich dabei zu, wie eine Gruppe von Kindern zehn Minuten älter wird, während sie sich ein Puppentheater ansehen. Die Kinder, die sich der Anwesenheit von Kameras offensichtlich nicht bewusst sind, sehen das Stück ungehemmt und reagieren lebhaft auf das, was vor ihnen geschieht. Eine Reihe von Emotionen wird eingefangen, von Freude über Angst bis Trauer. Man sieht allerdings nicht, was die Kinder sehen, sondern nur die Kinder beim Zuschauen. 

Darin unterscheidet sich die künstlerische Arbeit von den heutigen Reaction-Videos im Netz: Letztere zeigen meistens auch den Gegenstand, auf den reagiert wird. Die Personen laden nicht (nur) zur Betrachtung ihrer Reaktion ein, vielmehr zum gemeinschaftlichen Reagieren. Das Erlebnis soll geteilt werden. Während Frank darauf abzielte, das ›wirkliche‹ Leben einzufangen und künstlerisch zu präsentieren, sind Reaction-Videos im Netz Teil dieses ›wirklichen‹ Lebens. Die Videos stehen keinesfalls für sich, die Betrachter der Videos erleben etwas mit den Protagonisten zusammen, über das sie sich dann später im Kommentarbereich austauschen.

Auch professionelle Reaktionen, bei denen sich die Protagonisten mit etwas konfrontieren, mit dem sie sich grundsätzlich sehr gut auskennen, können durchaus spontan oder gar erstmalig erfolgen, sind allerdings nie »unschuldig«. Die vermeintliche Spontaneität ist vielmehr Mittel zum Zweck. Sie dient den Darstellern dazu, ihr Improvisations-Talent unter Beweis zu stellen. Das nämlich eint alle Reaction-Videos: Sie sind Improvisationen vor laufender Kamera. Sie sind keine durchgeplanten Inszenierungen, entstehen aber durchaus in dem Wissen, dass man für ein Publikum performt. Improvisationen bedürfen einer gewissen Könnerschaft, ja sogar einer Virtuosität des spontanen Agierens und stellen deshalb für die Kritik – besonders aufgrund der schnellen Einforderung eines Urteils – eine Herausforderung dar. 

Als Improvisations-Format erfreuten sich Reaction-Aufnahmen seit Beginn des Fernsehens großer Beliebtheit, man denke nur an die seit 1948 ausgestrahlte amerikanische Reality-TV-Sendung »Candid Camera«, in der – um nur ein Beispiel zu nennen – in den 1960er Jahren eine Sekretärin auf einen Liebesbrief reagiert, den sie von Woody Allen diktiert bekommt. Bis heute sind Reaktions-Formate im Fernsehen außerordentlich beliebt. Michaela Krützen hat die MTV Video Music Awards als großes Reaction-Video beschrieben, werden doch neben dem Ereignis auf der Bühne fortwährend die Reaktionen des Publikums eingefangen. Der staunende Will Smith mit seiner Familie oder die schwatzende Taylor Swift haben dabei freilich auch die Beurteilung des Publikums beeinflusst.

Im deutschen und US-amerikanischen Fernsehen werden Ereignis und Reaktion meistens nacheinander oder im Schuss-Gegenschuss-Verfahren gezeigt. Vorläufer findet die Bild-im-Bild-Ästhetik der gegenwärtigen YouTube-Reaction-Videos nur im japanischen Fernsehen. Lange wurde hierzulande das in dortigen Produktionen bekannte »Gesicht in der Box«, die sog. »waipu«, als Merkwürdigkeit belächelt. Ansatzweise ist man aber auch im deutschen Fernsehen damit vertraut, auch wenn hierzulande keine vergleichbar virtuose Verschmelzung grafischer und fotografischer Elemente erfolgt: In typischen Fernsehshow-Formaten werden standardmäßig Reaktionen des Publikums, der Prominenten oder Teilnehmenden eingeblendet, um die Zuschauer zu einer Beurteilung zu animieren. Sie fungieren hier wie das Einspielen einer Lachkonserve: Die Zuschauer der Shows sollen angestiftet, zu eigenen Reaktionen animiert werden.

Nicht nur, aber besonders bei den professionellen Reaktionen können Reaction-Videos als eine Spielart von Kritik beschrieben werden. So dient die offenkundige Inszenierung der Affekte dazu, die Immersionsstärke oder Suggestivkraft des jeweiligen Artefakts zu belegen. Die Videos sollen vorführen, welch starke Emotionen es hervorzubringen im Stande ist – was fraglos als Kriterium gelten und dann auch als eine Qualität beurteilt werden kann.

Das große Kunststück der Kritik bestehe darin, »in und außer den Sachen« zu sein, hat Marcel Reich-Ranicki einst über die Literaturkritik geschrieben. Gleichzeitig »in und außer den Sachen« zu sein, gelingt im Format der Improvisation besonders gut. Der spontane, praktische Umgang mit einer Information oder mit einem Artefakt verstrickt einen performativ »in die Sache«, gleichzeitig steht man ihr während der mehr oder weniger kreativen Umgangsweise auch gegenüber, bleibt also »außer der Sache«. Wie in der Musik ließe sich auch in der Kritik das Genre der Improvisation noch weiter kultivieren. Da musikalische Improvisation keinesfalls voraussetzungslos erfolgt, sollten auch für die improvisierte Kritik einige Regeln und Maßstäbe gelten: Etwa die Beherrschung verschiedener Werkzeuge der Kritik, eine hinreichende Reflexion über das Verhältnis zur Sache, auf die reagiert wird, aber auch das Ziel, kreativ und innovativ mit ihr umzugehen.

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