Der Virus als Metapher als Virus
von Anne Gräfe und Ellen Wagner
29.3.2021

Zusammenhalt in Krisenzeiten: „something like you said yes to the same magazine subscription“

In nicht allzu ferner spekulativer Zukunft wird die soziale Realität durch künstliche Intelligenz reguliert. Was dem Einzelnen im Durchschnitt gut und dem Ganzen der Gesellschaft am besten tut, entscheidet ein Code, der auch sich selbst unermüdlich an Effizienz steigert. So stellt es uns zumindest Melanie Gilligans 5-teilige Miniserie Popular Unrest (2010) vor, die eine Gesellschaft zeigt, welche ihre sozialen Interaktionen und alltäglichen Abläufe von der Gesundheitsvorsorge bis zur Ernährung und Abgabe von Körperwärme zugunsten des „großen Ganzen“ durchkalkuliert und algorithmisiert hat.

Filmstill aus Melanie Gilligans „Popular Unrest“ (2010) ©Melanie Gilligan

Doch in die oberflächliche Reibungslosigkeit brechen plötzlich unerwartete Ereignisketten ein: Eine Serie unerklärlicher, scheinbar „urheberloser“ Morde reißt überall auf der Welt Individuen aus dieser vermeintlich perfekt funktionierenden Gemeinschaft. Parallel ist zu beobachten, wie sich ebenfalls weltweit vermehrt Gruppen aus einander bisher unbekannten Menschen zusammenfinden, die ein spezielles Gefühl der Nähe und Zugehörigkeit verbindet. Obwohl in Herkunft und Lebensweise einander fremd und unterschiedlich, verbindet sie ein unerklärliches Gemeinschaftsgefühl. Doch ist dieses, wie allmählich deutlich wird, von eben jenem „Spirit“ inspiriert, welcher auch die unerklärlichen Morde verantwortet. Es scheint, als seien sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft in Gänze wie von einem Virus infiziert. Als „measuring device“ für das, was, algorithmisch besehen, zum Wohle aller zusammengehört oder aussortiert werden muss, steht der „Spirit“ Pate für das kapitalistische System. Dieser „Spirit“ regelt einem Weltgeist gleich weltumspannend das Leben und sortiert Einheiten nach dem Kriterium des Warenwerts: Geld verbindet, unterscheidet, bewertet, hierarchisiert, transformiert.[1] Das System scheint wie von einem Virus befallen. Ursprünglich vom Menschen programmiert, ist dieser Weltgeist, dem herbeigerufenen Besen des Zauberlehrlings ähnlich: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“.

Filmstill aus Melanie Gilligans „Popular Unrest“ (2010) ©Melanie Gilligan

Was zuvor als beherrschbares Laborprodukt erschien, verselbstständigt sich nun, mutiert und verbreitet sich schnell, indem es weltweit Menschen zu verbinden, anzustecken vermag. In der Prämisse dieses kapitalistisch organisierten Systems wird das Paradox von Gemeinwohl und Individuum deutlich: Der Spirit „optimiert“ das Zusammenleben, indem er destruktiv in es eingreift. Die Grenzen zwischen positiven und negativen Konnotationen dieser neuen Art von „Team Spirit“ verschwimmen. So klingt „Grouping“, wie das Phänomen der spontanen Gruppenbildungen genannt wird, bereits selbst weniger nach einer Gruppe von Menschen als nach einer Gruppierung von einander ähnelnden Dingen oder Datensätzen.

Filmstill aus Melanie Gilligans „Popular Unrest“ (2010) ©Melanie Gilligan

Die hier verwendete Virusmetapher macht dabei deutlich, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung je nach Perspektive zwischen dem bösen Außen, das ein Innen angreift, und dem, was aus der Perspektive des „bösen Anderen“ das Gute sein könnte, changiert: Wer ist wodurch erkrankt und wer muss wodurch geheilt werden? Individuum oder Gesellschaft? Wird Solidarität selbst zum „Virus“, wenn Vernetzung zum Prinzip „gesellschaftlichen Zusammenhalts“ gerät? Ist der „Spirit“ „Patient 0“ einer „kapitalistischen Krankheit“? Oder trägt er den Erreger nur weiter? Ist der Algorithmus selbst der Virus, der mutiert und sich ins Destruktive kehrt? Oder steht er für das Übermaß an Kontrolle eines Systems, welches noch gar nicht befallen wurde, sich aber gegen jede mögliche Abweichung von der Norm zur Wehr setzt?

Stanya Kahns Don’t Go Back To Sleep (2014) zeigt Ärztinnen und Pfleger, gespielt von Laiendarsteller*innen, beim improvisierten Versuch, stetig neue, aus den eigenen Reihen zusammenbrechende Verletzte zu versorgen.

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

Badewannen und Billardtische werden auf Tauglichkeit als medizinisches Mobiliar hin inspiziert. Der Kühlschrankinhalt wird auf antiseptische Eigenschaften überprüft. Was die Verwundungen – fast alle Akteure sind blutverschmiert und tragen Verbände – verursacht, bleibt unklar. Die Protagonist*innen bewegen sich in einer kulissenhaften Architektur, die doch „vorgefunden“ in der Realität ist: eine aufgrund der Wirtschaftskrise nie fertiggestellte, unbewohnte Neubausiedlung in Kansas City, Missouri. „Squatting empty suburban developments and luxury highrises, depressed with the aura of so many displaced by the U.S. housing market catastrophe“, beschreibt es Kahn selbst, „nurses and doctors establish make-shift treatment centers within the architectural mundane […]. As they perform haphazard triage, mostly on each other, we realize they may be the only survivors against a dangerous State.“[2] Die mysteriöse Krankheit scheint also auch hier auf eine Fehlfunktion im gesellschaftlichen System – des Gesundheitssystems oder generell einer Struktur sozialen Zusammenhalts zu verweisen.

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

Es wird deutlich, dass die Unsicherheit, die die virale Ansteckung auslöst, sowohl in Vorsicht und den Versuch der Kontrolle, aber auch in Solidarität kippen kann. Und so bleibt in beiden Arbeiten zwangsläufig unklar, für was genau der Virus steht: Wurden die jeweils unsichtbar bleibenden „Systeme“, der „Spirit“-Algorithmus oder auch die „Supplier“, über welche Kahns Pflegepersonal vergeblich medizinische Ausstattung zu ordern versucht, von einem Bug oder Glitch befallen? Brachten sie selbst im Ansatz schon die Logik mit, die die eigene Steigerung an Effizienz auf eine höchste Ebene stellt und damit eine destruktive Kraft auf jene entfaltet, denen sie ursprünglich Struktur und Halt geben, ein „Service“ sein sollten?

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

In abstrakt kontrollierten Umgebungen stehen Kahns und Gilligans Protagonist*innen vor besonderen Herausforderungen der Interaktion und der Kommunikation zu einem Innen und Außen. Als „Teile des Ganzen“ beginnen die Menschen in den „Groupings“ immer stärker miteinander mitzufühlen, als wachse zwischen ihnen eine (mutierende) Netzwerkverbindung. Die „Symbiose“ bereichert die Gemeinschaft, bedroht aber auch die Individualität, da neue Mitglieder sich nicht aus bewusster Entscheidung heraus „assimilieren“. Der algorithmische „Spirit“ hat eine Vergleichbarkeit hergestellt, deren Grundlage sich den Einzelnen verschließt. Was all die Individuen zu „Groupings“, in denen sich Personen sehr diverser Herkunft jeweils als „aspect“ oder „attribute of a whole“ begreifen, zusammengeführt hat, bleibt undurchsichtig. Ein „part“ des Groupings vermutet, der „Spirit“ habe aufgrund eines von allen Gruppenmitgliedern abgeschlossenen Zeitschriftenabonnements auf deren soziale Anschlussfähigkeit geschlossen.

Fragen nach dem Aufgehen des Individuums in einer sozialen Gruppe oder in einem abstrakten System sowie nach unterschiedlichen Graden der Selbst- und Fremdbestimmung kommen auf. Kann Solidarität innerhalb einer Peer Group als Ausweg aus einem System der Verwertung fungieren? Oder bietet sie, in mutierter Form, nur Anschlussstellen für weitere Vernetzung nach Marktinteressen? Macht uns die ständige Zerlegung und Neukombination kleinster Partikel unseres Selbst, wie sie Algorithmen schon heute betreiben, wirklich durchlässiger und anschlussfähiger füreinander? Oder begünstigt sie gesellschaftliche (Unter-)Teilung nach oberflächlich empfundenen Ähnlichkeiten, die alles, was (hinsichtlich eines scheinbar zufälligen Kriteriums) „nicht ähnlich genug“ ausfällt, tilgt, so wie der „Spirit“ Menschen einerseits gruppiert und andererseits aussortiert?

Filmstill aus Melanie Gilligans „Popular Unrest“ (2010) ©Melanie Gilligan

Auch in Don’t Go Back to Sleep ist unklar, aus welchem Grund die Protagonist*innen sich ausgerechnet an diesem, von Infrastrukturen abgeschnittenen Ort zusammengefunden haben. Die Kontaktaufnahme zur Außenwelt verläuft schleppend. Die Überforderung kapituliert in Partystimmung, aufgelockert durch den Schnaps, der parallel zum Betäuben der OP-Patienten dient. Kleine Gesten zwischen Routine und Improvisation zeugen von der Sorge der Behandelnden füreinander, Haare werden zurückgestrichen, Brote geschmiert, doch ist das Personal zugleich körperlich mehr als gefordert, die Verstorbenen in Laken nach draußen zu bringen.

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

Bildhaft außer Kontrolle: Die Metapher des Viralen

So bildgewaltig wie die Szenarien Kahns und Gilligans fällt auch der Gebrauch von Virusmetaphern im alltäglichen Sprachgebrauch, in der Presse und vermehrt auch in geisteswissenschaftlichen Essays aus. Zu anspielungsreich, aufmerksamkeitsheischend, allumfassend erscheinen die großen Worte, die sich mit der Ansteckung und der Immunität verbinden, als dass man auf sie verzichten zu können glaubt. Nicht zuletzt ist die Virusmetapher fester Bestandteil von kanonischen philosophischen Texten: So schreibt William Burroughs von Worten und Bildern als „Viren“, deren einzige Absicht ihr Überleben auf Kosten anderer darstelle; Deleuze und Guattari stellen das Virale als rhizomatisches Prinzip den Hierarchien der Abstammung und Vererbung gegenüber; dabei wird die Parallele zum Viralen von den Autoren meist „als Einschub, Nachtrag oder beispielhafte Randbemerkung“ eingebracht, „als etwas, das nur nebenbei angesprochen wird und doch wesentlich zum Argument des Textes beizutragen scheint“.[3] Die Metapher scheint also selbst subversiv als Virus zu agieren, der, zunächst unbemerkt, zwischen den Diskursen überspringt und in der Bedeutung mutiert. Die Virusmetapher taucht im Umgang mit Terrorismus von außen und innen, einer Biopolitik, die unser Innerstes zersetzt, und auch in der Rede von selbstreproduzierenden Computerprogrammen auf.

Dabei sind Metaphern nicht nur fähig, den Blick assoziativ zu weiten. Sie können als mehrdeutige Darstellung die Wahrnehmung auch trüben und verwirren. Besonders prominent legte Susan Sontag 1978 in Illness as Metaphor dar, wie die metaphorische Verwendung von Krankheitsbezeichnungen zu moralischen und psychologischen Urteilen über die Erkrankten bzw. die über die Krankheit verbildlichte Situation und deren mutmaßliche Ursachen führt. In der unterschiedlichen Verwendung der Virusmetapher deuten sich verschiedene Weltbilder an: Die einen begegnen „Invasionen“ des Unbekannten mit „harter Kante“, Kontrolle, Autorität und einer „Wahrheit“ über die Zusammenhänge eines „funktionierenden“ Systems, die „Fehlfunktionen“ entlarven soll. Die anderen hingegen versuchen aufzuzeigen, dass die Welt eine komplizierte ist, deren Krisen nur beizukommen ist, wenn gemeinsam Verantwortung übernommen wird – ganz im Sinne der Latour’schen „matters of concern“, die ein Lagerdenken in „richtig“ und „falsch“, ein Innen und Außen des Systems überwinden. In letzterem Fall wird die Virusmetapher positiv ausdeutbar: als Veränderung in Richtung Diversität und Dividualität – eine positive Version jedoch, die im Verzicht auf abgeschlossene Interpretation der „Lage“ charakteristischerweise ambivalent bleiben muss.

Spätestens in der Berührung mit den „echten“ Epidemien, ob Milzbrand, AIDS oder Covid-19, zeigt der Einsatz der Virus-Metapher seine problematische Qualität. Sie wird zum schillernden „Trickster“ in der Dreieckskonstellation von Biologie, Informationstechnologie und Militärwesen. Ihr schlagwortartiger Gebrauch dient meist einer Dramatisierung, der phobischen Konstruktion eines Anderen, nicht ganz Vorstellbaren, das in unserer aufgeklärten Welt naturwissenschaftlich erklärt werden muss. Ein Übermaß an Sicherheit führt schnell zur, mitunter paranoiden, Bedrohungsangst vor dem Unerwartbaren, Unerklärlichen, Unbekannten. Das Übermaß kehrt sich gegen sich selbst. Doch welche Dynamik beschreibt das „Virale“ eigentlich? „Viral“ verbreitet sich meist etwas ohne Autor – „wie von selbst“, etwas wird, der Formulierung nach, nicht (von Person x oder y) „viral verbreitet“, sondern entfaltet einen unheimlichen Sog der Ansteckung und Kontamination.

Dies wiederum befördert eine Spaltung in unserem Denken zwischen Kategorien des Eigenen und des Fremden – dichotome Einteilungen, die keine Graustufen und Farbverläufe mehr zulassen, kein paradoxes Weder-Noch bzw. Sowohl-als-auch. Wer von einer sog. „Risikobegegnung“ alarmiert ist, hat, scheint es, wenig Zeit für Abwägung und Differenzierung. Im Alltags-Überlebensmodus gilt es schnell zu entscheiden, zu isolieren, und als Kriterium gefragt sind dann Affekte, Ängste, Vorbehalte. An Einfluss gewinnen Bildmacht und inkommensurable, singularisierte Ereignisse, Personen und „personalities“, die das Nachzeichnen größerer Kontexte ersetzen.[4] Nicht zuletzt ist von „viraler Verbreitung“ die Rede, wenn Inhalte in digitalen Netzwerken (gemeint sind oft die Social Media) so rasend schnell die Runde machen, dass kaum noch auszumachen ist, wer ein Bild, ein Zitat, eine Nachricht, zuerst geäußert hat – und, davon abhängend – welcher Wahrheitsgrad dieser Information zuzusprechen ist. Die Nachverfolgung der „Infektionskette“, um im Bild zu bleiben, zeigt sich als das gravierendste Problem. Gemeint ist dann nicht mehr primär eine unbemerkt subversive Unterwanderung bestehender Machtstrukturen, wie es Theoretiker*innen der Postmoderne in der Rede vom Viralen legten, sondern das Lauthalse, eine strategisch einzusetzende Unaufhaltsamkeit, die ganz explizit „marktschreierisch“, orientiert an Tauschwerten der Aufmerksamkeitsökonomie, agiert.

Um eine Aneignung dieser Form von Viralität in der Kunst geht es dem Kunsthistoriker David Joselit in seinem im Frühjahr 2020 publizierten Essay Virus as Metaphor. Hier bezweifelt er, dass Kunst in einem „post-faktischen“ Umfeld, in dem virale Verbreitung wichtiger als Validierung erscheint, noch eine kritische Rolle über ihre Praxis des Mehrdeutig-Machens spielen könne. Vielmehr müsse sie sich die medialen Mechanismen, wie sie „fake news“, „shit storms“, Memes und Trollereien als Vehikel nutzen, sie kapern, um dann – mit den politisch „richtigen“ Inhalten – selbst „viral“ zu gehen.[5] Joselit widmet sich damit der Aneignung einer neuen Ausprägung des Viralen, die nicht mehr dem Verständnis von Baudrillard, Deleuze & Co. entspricht – nicht mehr leises Eindringen in herrschende Diskurse durch dekonstruierende Lektüre, sondern offenherzig mit der Rhetorik der Emotionalisierung und Dramatisierung spielend. Die Metapher ist im Sprachgebrauch also mutiert. Will man sie allerdings tatsächlich fruchtbar machen für eine Annäherung an künstlerische Methoden in der Darstellung von Krisen, gilt es sich weiter bewusst zu halten: Die angeeignete Rhetorik lässt die Aneignenden nicht unberührt. Ein Virus, auch wenn es sich um eine strategisch eingesetzte Äußerung handelt, ist nicht kontrollierbar in dem, wo er ankommt und was er dort anrichtet, im Positiven wie im Negativen. Dies prägt seine Poetik: Ein Virus kennt keinen Autor und vergisst seinen Schöpfer.[6] Das „Eigene“ beeinflusst das „Fremde“, das „Fremde“ prägt das „Eigene“ – und scheinbar nebenbei wird deutlich, dass die Grenze zwischen beiden immer schon porös war. In dieser Stoßrichtung machen „virale Dynamiken“ Verstrickungen von Anliegen, Abhängigkeiten und Handlungsspielräumen sichtbar, die bereits seit längerem die Wirklichkeit eines „Systems“ ausmachen.

Virale Realitäten im Medium der Kunst

Wenn schon wissenschaftliche Diagramme konstruieren müssen, was unter dem Elektronenmikroskop so gar nicht eindeutig sichtbar wird, tut jede (künstlerische) Formulierung, die den Virus „überträgt“ auf etwas anderes, gut daran, Bildebenen und -fragmente im Plural als lückenhafte zu überlagern, statt plakative Einzelmotive herauszupräparieren. Nur so erscheint es möglich, aus gesellschaftlichen Komplexitäten, in den Social Media oder in medialen Diskussionen generell, nicht das uniformierte Echo derer herauszuhören, die am lautesten zu kanalisieren verstehen. Die „virale Dynamik“ lässt als eine subversive auch ihre eigene vordergründige inhaltliche Botschaft instabil werden.

Nimmt man sie als eine solche in der metaphorischen Übertragung auf künstlerische Praktiken ernst, gilt es Blick und Ohr darauf zu richten, wie im medialen Durcheinander Anliegen, die vom Einzelnen oder einer Gruppe aus die ganze Gesellschaft angehen, einander überlagern und transformieren. In Bezug auf die Kunst ist dabei besonders wichtig: Wie verhält sich das mediale Agieren eines Virus, als was auch immer er in der Realität oder Fiktion in Erscheinung treten mag, zum Handeln und Sprechen der von ihm betroffenen Personen? Der Effekt ist, dass das, was Joselit als sein Anliegen propagiert, nämlich die (inhaltlich gedachte) Repräsentation bisher wenig gehörter Stimmen, auf struktureller Ebene ins Zentrum rückt – ohne dass es explizit um identitätspolitische Sachthemen gehen muss. Der aufmerksame Blick auf die jeweiligen Formate einer künstlerischen Arbeit, die Joselit vor allem durch die Brille der Distributionsweite sieht, wird nämlich in genau dem Moment spannend, wo Kunst unsere alltäglichen medialen Sehgewohnheiten auffängt und uns aus der geübten Zuschauer*innen- und Konsument*innenrolle heraus auf Umwege der Vorstellungskraft lenkt.

Die  vorgestellten Arbeiten von Gilligan und Kahn bekräftigen zunächst die scheinbare Autor*innenlosigkeit des „Virus“. Sie wirken wie eine Diagnose gegenwärtiger Überforderung. Dennoch lädt ihre mehrdeutige Atmosphäre ein, eigene Mit-Autor*innenschaft an den scheinbar rätselhaften Phänomenen und Grenzziehungen innerhalb eines Systems zu übernehmen. Eine hypnotische Atmosphäre lässt uns hier „nicht abschalten“, um unsere am Unterhaltungsfernsehen geschulte Spannung über assoziative Umwege auf selbstreflexiven Kurs zu setzen.

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

Halb geskriptet, halb improvisiert mit einer stetig den Fokus verlierenden Kameraführung, mutet Don’t Go Back To Sleep wie eine surreale Doku-Reality-Soap an. Die Arbeit macht sich subtil einem Format ähnlich, das Authentizität und Intimität genauso produziert wie stereotype Charaktere und Beziehungen. Es kommt zu einer unauflösbaren Verwicklung von Vorstellungen eines „Wesenhaften“ mit dessen eigenem Klischee. Popular Unrest wiederum ist halb schauspielerisch inszeniert, halb aus Found Footage-Nachrichtenfragmenten gespeist. Die Miniserie lehnt sich stilistisch stark an forensische US-Krimiserien der 2000er Jahre an, etwa Criminal Minds, CSI oder Bones. Alles wirkt wissenschaftlich ausgerichtet auf professionelles „profiling“, bei gleichzeitiger verschwörungstheoretischer Unsicherheit darüber, wem im System eigentlich noch zu trauen sei.

Filmstill aus Melanie Gilligans „Popular Unrest“ (2010) ©Melanie Gilligan

Diese Art der Vermischung von Film-, Gesprächs- und Geräuschmaterial wiederholt eine Grenzverwischung zwischen fiktiven Inhalten und der „realen“ Politik, wie wir sie im medialen Alltag wahrnehmen. So werden die täglichen Nachrichten „aus aller Welt“ von vielen bereits wie eine sich unendlich fortsetzende „postfaktische“ Serie mit (oft makabrem) Unterhaltungsfaktor konsumiert. Dass Donald Trumps präsidiale Karriere von seinem Auftreten in der Reality-Sendung The Apprentice präfiguriert wird, in der er als Firmenmogul showtaugliches Durchgreifen demonstriert und sich damit bereits auf drastisch konsequenzverminderter Ebene als Oberhaupt (von was eigentlich?) empfahl, verwundert kaum. Wenn Politik gespielt und geskriptet erscheint und Netflix, polemisch gesagt, die noch denkbarsten Wirklichkeitsentwürfe bereitstellt, durchmischen sich die Realitätsebenen. Um der bloßen Unterhaltung willen die immer nächste „Staffel“ von Ereignissen zu ersehnen, kann allerdings die ganz realen Krisen und Katastrophen zu „Cliffhangern“ werden lassen, die, anders als auf Amazon Prime, Auswirkungen auf das „echte“ Zusammenleben haben.[7]

Die Chance neben dieser Problematik liegt jedoch darin, insbesondere Science-Fiction-Serien als faszinierende und bedrohliche Szenarien zugleich zu sehen, die zur Imagination und Spekulation auf alternative Zukünfte (die hoffnungsvollen wie die dystopischen) provozieren. Dass die gezeigten Abläufe so bekannt aus dem Abendfernsehen wie auch aus dem (Beinahe-)Ist-Zustand der Datenverarbeitung erscheinen, lässt Fiktion und Realität in einen Plural möglicher Entwicklungen kippen – die wir selbst jedoch beeinflussen können. Kahn und Gilligan konfrontieren uns mit Anklängen an eine „virale“ Rhetorik der Unterhaltungsmedien. Sie verweisen darauf, dass jeder Virus, jedes „viral“ genannte Phänomen, was auch immer es ist, immer schon oder gar in erster Linie ein „media virus“ ist.[8] Besonders deutlich zeigt sich das mediale Agieren des „Higher Spirit“ in Gilligans Darstellung der algorithmisch eingeleiteten Morde: Diese vollziehen sich nahezu eins zu eins als Imitation der ikonischen Duschszene in Hitchcocks Psycho. Zu sehen sind hauptsächlich Messer und Blut, der Täter bleibt unsichtbar, das Opfer zerstückelt in Fragmente der Kameraperspektive. Der mörderische „Spirit“ scheint primär durch die Bilder unseres kollektiven Gedächtnisses hindurch zu wirken.

Um aber kollektiv die Gegenwart und Zukunft zu gestalten, braucht es den Austausch über Sehgewohnheiten und Handlungsmuster. Tatsächlich stehen auch im Zentrum beider Filme Gespräche unter zunächst Fremden, die in Ausnahmesituationen eine gemeinsame Mission zu erfüllen haben. Oft drehen sich diese um ein „Warum“, das spielerisch umkreist (bei Kahn) oder forensisch erforscht (bei Gilligan) wird. Unabhängig davon, welche scheinbar „klaren“, „alternativlosen“ Antworten im Raum stehen, rückt das aktive (Hinter-)Fragen in den Fokus: von ideologischen Hintergründen und konkreten Erscheinungsweisen eines gesellschaftlichen Systems, von Kausalitäten, denen man nachgehen muss (und mögen sie noch so undurchdringlich erscheinen), von Setzungen dessen, was überhaupt relevante Fragen sein könnten. Die Dialoge in Don‘t Go Back to Sleep handeln von Kindheitserinnerungen, Aliens, Ernährungsvorlieben, schlagen aber auch Brücken zu größeren Kontexten, z.B. zur Rolle des Menschen im Zusammenhang mit biologischen und technologischen Entwicklungen, Transnationalität und Globalisierung, mit „invasiven“ Pflanzenarten und resistenten Mutationen oder auch zur Distribution von Lebensmitteln. Fragmenthaft kommt es so zur Diversifizierung der Fragestellungen außerhalb und abseits eines „What is profitable?“, statt einer Engführung auf die „richtige“ Haltung.

Der Umgang mit den Stimmen der Protagonist*innen spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle. So sprechen in Popular Unrest die zu einer kollektiven Identität verschmolzenen „Teile“ des „groupings“ im vibrierenden Chor, als sei jede Stimme ein Echo der anderen. „It’s not me“ – erklären sich die Einzelnen in dem Moment, als sie in den „Spirit“ eintreten, um die Motivation für die Morde zu ergründen, doch gleich darauf gefolgt von: „It’s not the spirit  […] it’s us, we are the thoughts the totality thinks […] as us but not us […] what if we let us go?“ Der „Spirit“ kontrolliert weniger die Einzelnen als vielmehr die Gesamtheit aller Interaktionen der Menschen auf der Erde. Seine Handlungen speisen sich jedoch aus Berechnungen anhand von Daten und persönlichen Motivationen aller Einzelnen, die in Popular Unrest in ihrer ambivalenten Zwischenposition von Manipulierbarkeit und der Erkenntnis von individueller wie kollektiver Handlungsfähigkeit gezeigt werden.

In Don’t Go Back To Sleep wiederholen sich akustisch schwer verständliche Dialoge, die in den Neubauten widerhallen, etwa wenn die Akteure in mehreren parallel geführten Telefonaten mit Lieferanten verhandeln. In fast schon lautdenkendem Smalltalk greifen die Gedanken der Protagonist*innen assoziativ ineinander. Sie ergänzen die Erinnerungen und Traumbilder des Gegenübers um die eigenen. Das Wort wird wie bei Burroughs zum Virus, das ansteckt, sich verbreitet, verbindet, mutiert.

Ganz nebenbei werden vom Sofa oder Liegestuhl aus Wirklichkeitsgrade innerhalb der bestehenden oder auch kaum schon wahrnehmbaren Realität reflektiert: Beim Streifzug durch die Musterwohnungen („They just don’t look real“), meditierend über Paranormales, Schamanismus, Religion („We can’t be the only thing in the galaxy“), das Zwischenmenschliche anlysierend („If someone betrays you and lies to you repeatedly, over and over and over again, no matter how many times they’ve told you the truth before that, it all becomes suspect. And if you spent any length of time with them, it’s your entire life that becomes suspect“). Formen des Kontrollverlustes über eine bestimmte Version der Wirklichkeit, die lange Zeit die eigene war, sich nun als fremde und gar ausgedachte entpuppt, stehen neben Spekulationen, die das Unerwartete gelassen in Empfang nehmen. Hinzu kommen wie aus dem Nichts in den Film geschnittene Szenen, in denen eine Figur im Fischli-Weiß-artigen Nagetier-Kostüm auf dem Mountainbike, ohne Verbindung zur mutmaßlichen „Haupthandlung“ die Landschaft durchquert und als allegorischer „Wanderer zwischen den Welten“ lesbar wird. Der Gegenwartsbezug zum Alltag in der Pandemie scheint evident. Auch in diesem tauschen vormals Absurdes und Alltägliches die Rollen. Hätten wir nicht alle noch 2019 gedacht, wir seien im falschen Film, wenn wir im Alltag der Corona-Pandemie aufgewacht wären, wo wir nun täglich mit Maske einkaufen und Bahnfahren gehen?

Filmstill aus Stanya Kahns „Don’t Go Back to Sleep“ (2014) ©Stanya Kahn

In beiden künstlerischen Arbeiten markiert das Virus das Hereinbrechen einer neuen Realität in die bestehende – oder: eine Differenzierung der Wirklichkeitsgrade und Realitätsebenen. Und diese hat mit unserem Blickwechsel zu tun, der Aktiv und Passiv in Bezug auf uns Selbst in der Welt neu perspektiviert. Philipp Sarasin fasst für den Kontext der Milzbrand-Verbreitung zusammen: „Dass ein Bakterium, das es außerhalb einiger Hochsicherheitslabor nicht geben darf, plötzlich in unserem Alltag auftaucht, ist so unglaublich, wie Flugzeuge, die in Hochhäuser rasen.“[9] Die bedrohliche „Virealität“, so scheint es, ist also eine Wirklichkeit, die es so nicht geben darf. Und trotzdem ist sie da, nein: sie war schon immer da, nur in der Illusion der Abgeschiedenheit von dem, was wir „gesellschaftliche Ordnung“ nennen. Sie ist aber, und das kann die Kunst uns zeigen, bedrohlich vor allem für ein statisches Verständnis von gesellschaftlichem Gleichgewicht, und hat die Kraft, uns mehrdeutig miteinander verbunden und voneinander bewegt zu zeigen.

 

Anmerkungen

[1] Ganz ähnlich wie es sich Heinz-Dieter Kittsteiner in der Triade Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht seines gleichnamigen Buches als Abgesang auf rechte wie linke Kritiker der Demokratie wohl gedacht hat. In einem Parforceritt bewegt er sich in diesem durch die Geschichte des Kapitalismus und arbeitet mit Smith, Hegel, Marx, Weber, Keynes, Schmitt u.a. die Apokalypse der Gegenwart heraus, in der der hegelianische Weltgeist sich zum Weltmarkt entwickelte. Dieser – nicht etwa die Geschichte – beherrscht und richtet, anders als noch bei Hegel gedacht, als Weltgericht. Vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner: Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, Paderborn 2007.
[2] Stanya Kahn: Don’t Go Back to Sleep, Homepage der Künstlerin, https://stanyakahn.com/files/Document3_v2.pdf (12.12.2020).
[3] Ruth Mayer/Brigitte Weingart: »Viren zirkulieren. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hgg.): Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld 2004, S. 7–41.
[4] Vgl. Kolja Reichert: »Die Autonomie der Kunst ist nicht die Autonomie des Künstlers. Möglichkeiten von Kunstkritik in der Gesellschaft der Singularitäten«, in: 52. Internationaler AICA-Kongress, Kongressakten, unveröffentl.
[5] Mit dem Griff zur „Virusmetapher“ knüpft Joselit, in gesteigert problematischer Weise, an seine Schilderung der Kunst „nach der Kunst“ als Formate an, die sich wie ein unsichtbarer elektrischer Strom verbreiten solle (After Art, Princeton, NJ 2012).
[6] Von einem einseitig kontrollierbaren Akt des Subjekts über ein Material auszugehen, wie es Joselit andeutet, war bereits für die Appropriation Art und ist noch heute zu kurz gegriffen, vgl. z.B. Isabelle Graw: »Dedication Replacing Appropriation: Fascination, Subversion, and Dispossession in Appropriation Art«, in: Tanja Baudoin, Frédérique Bergholtz, Vivian Ziher (Hgg.): Re-Reading Appropriation. Ed. V – Appropriation and Dedication, Amsterdam 2015, S. 143–165; Dies.: »Wo Aneignung war, soll Zueignung werden. Ansteckung, Subversion und Enteignung in der Appropriation Art«, in: Mayer/Weingart: Virus! Mutationen einer Metapher, S. 293–312.
[7] Vgl. hierzu Maren Lickhardt: »Leben in der Zeit der Serialität«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 852 (2020), S. 66–72.
[8] Vgl. Philipp Sarasin: »Fremdkörper/Infektionen: ›Anthrax‹ als Medienvirus«, in: Mayer/Weingart: Virus! Mutationen einer Metapher, S. 131–147.
[9] Sarasin, S. 135.

 

Anne Gräfe beendet derzeit ihre Doktorarbeit zur Kontingenzbewältigung in der Gegenwartskunst bei Juliane Rebentisch und Andreas Reckwitz. Sie arbeitet an der AdBK Müchen am Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetische Theorie und war zuvor als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HfG Offenbach am Main am Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik tätig (2015–2019) sowie als Wissenschaftliche Koordinatorin der deutsch-französischen Gastprofessur „Pensées Françaises Contemporaines“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) (2013–2016).

Ellen Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HfG Offenbach am Main, wo sie 2019 zu künstlerischen Strategien der Mimikry in der „Post-Internet Art“ promovierte (erscheint im Mai 2021 bei Diaphanes). Sie ist Vorstandsmitglied des Offenbacher Kunstvereins Mañana Bold sowie der deutschen Sektion des internationalen Kunstkritiker-Verbandes AICATexte von ihr erschienen unter anderem bereits in der Springerin, auf dem Artblog Cologne sowie auf Faust Kultur.

 

Schreibe einen Kommentar