Bestenlisten Songs 2020
von Thomas Hecken
4.1.2021

Kritikercharts Wire, New York Times, Pitchfork etc.

Nach dem Jahrzehnt der mehr oder minder personalisierten Listen bei Streamingdiensten spielt etwas Trotz mit, wenn die zuvor mit größerer Gatekeeper-Macht ausgestatteten Medien von ihrer Praxis, am Jahresende eine Bestenliste zu präsentieren, nicht abrücken wollen.

Was gut ist und was schlecht, das wollen sie schon noch festlegen. Die Charts von Spotify und der Musikindustrie sollen nicht das letzte Wort haben. Von den üblichen Charts unterscheidet diese Bestenlisten aber nicht das Prinzip. Auch die Bestenlisten ziehen aus einzelnen Angaben eine Summe und ordnen dann die Ergebnisse hierarchisch an.

Die Bestenlisten verraten ebenfalls nicht, ob die aufgereihten Werke gerne gehört wurden. Bieten die Charts nur die Information, dass etwas gekauft und/oder gestreamt, im Radio etc. gehört wurde, sagen die Bestenlisten bloß, dass etwas ‚gut‘ sei – es kann also sein, dass jemand etwas auf seine Bestenliste geschrieben hat, weil er es für künstlerisch wertvoll erachtet, auch wenn er es selber nicht unbedingt mit Begeisterung hört.

Der Unterschied liegt nur darin, dass die Angaben der Bestenlisten auf einer viel geringeren Zahl an Leuten bzw. Rezeptionsakten beruhen – und dass sie auf das ‚Gute‘ (bei Platz 1 sogar auf das ‚Beste‘) zielen.

Bevor wir auf die Rankings von New York Times, Rolling Stone, Pitchfork etc. näher eingehen (viele weitere sind hier auf yearendlists.com versammelt), muss vorab gesagt werden, dass sie alle in die Irre führen. Das beste Stück des Jahres – und wer sollte mit mehr kulturellem Kapital ausgestattet und darum besser befugt sein, das festzustellen, als eine Pop-Zeitschrift aus Academia – ist nämlich zweifelsfrei:

Nachdem das geklärt wäre, nun zu den anderen Listen. Sie kommen zustande, indem verschiedene Leute – meist eine Handvoll oder ein paar Dutzend – ihre persönliche Top 10 oder Top 20 angeben, danach wird von der Redaktion addiert. Wenn (wie bei unseren Fällen) das Printorgan oder die Website unterschiedliche Hörerkreise ansprechen oder Liberalität beweisen möchten, gehören zu ihren Beiträgern Leute mit unterschiedlichen Spezialgebieten und darauf jeweils geeichtem Geschmack.

Der Gewinner solcher Besten-Auslese muss folgerichtig sein, der in jenes Genre fällt, für das die meisten Beiträger abgestellt worden sind – bzw. als Gewinner geht das sich hinter dem Rücken der Beiträger durchsetzende Hegemoniale hervor – oder der unterstellte Konsens-Titel. Auf Listen, die 20 oder mehr Positionen enthalten, muss das Gesamttableau aber eine ‚interessante‘ Mischung ergeben.

Im Falle des US-amerikanischen Rolling Stone dürfte dies auf die Absicht zurückgehen, die partiell noch vorhandene alte Leserschaft mit imaginärer junger Leserschaft zu verbinden. Das führt zu einer Liste höchsten Perversionsgrads bzw. surrealistischer Konfigurationen (Top 50 hier). Platz 2: Bob Dylan, „Key West (Philosopher Pirate)“, Platz 1: Cardi B feat. Megan Thee Stallion, „WAP“. Noch bessere, wenn auch esoterischere Kombi: Platz 42: J Balvin, „Azul“, Platz 43: John Prine, „I Remember Everything“.

Die Liste des englischen New Musical Express (Top 50 hier) fällt etwas weniger disparat aus, was auch daran liegt, dass der britische Anteil nicht mehr wie früher offensiv nach vorne gepusht wird, deshalb dominiert der Brit-Pop/Ami-Rock-Gegensatz nicht länger und hat seit vielen Jahren der irgendwie elektronischen-poppigen Einheit Platz gemacht (schönste US-Reverenz darum 2020 nicht Velvet Underground, sondern: „Inspired by ‚Flashdance‘“). Wegen mangelnder Anglomania irrtümlich nur auf Platz 17:

Unterschiede zwischen NME und der linksliberalen Tageszeitung Guardian (Top 20 hier) sind kaum mehr vorhanden, Jugend kein trennendes Kriterium mehr, allerdings erstaunlich, dass der Guardian offenbar aus weltanschaulichen Gründen seine seit alters her rockige Print-Leserschaft gegen den Kopf stößt (die einzige Konzession liegt aus Ewigkeitsgründen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle: Bob Dylan). „Over the kind of synthwave bass line best deployed in an 80s sports car on a deserted urban motorway“, lautet die Traum-Prosa zu Dua Lipas „Physical“ (Platz 8), als hätten die Guardian-Leser nie Yuppies gehasst.

Auch die New York Times gibt vor, sich dem „sheer smiley calibrated optimism of this Ok-pop smash“ (BTS, „Dynamite“) ergeben zu haben, schiebt aber als kaum verdeckten Hilferuf „Nada“ (Platz 6) schnell hinterher. Die NYT verzichtet auf eine zusammenaddierte Liste, hier muss darum jeder einzelne Beiträger mit seiner individuellen Aufstellung (hier) die Last des Konsens und der Offenheit schwer tragen.

Wie bei den bisher angeführten Bestenlisten, ist „WAP“ auch bei der Condé-Nast-‚Independent Music Scene‘-Website Pitchfork ganz vorne dabei (Top 100 hier); stark geschmälert wird das aber bei ausnahmslos allen durch die auf dem Fuße folgende Belobigung von Christine and the Queensʼ „People Iʼve Been Sad“. Prinzip „Don Dada“? (Platz 85??)

Das britische Avant-Musikmagazin „Wire“ ist altmodisch ausgerichtet und bietet nur eine Album-Bestenliste auf (Top 50 hier), sodass man sich immerhin das Beste von Platz 1 (Beatrice Dillon, „Workaround“) selbst heraussuchen darf. Aber ist Platz 48 (Wendy Eisenberg, „Auto“) nicht noch besser (bei Verlinkung hat ihr Stück „No Such Luck“ immerhin schon einige hundert Aufrufe auf YouTube)?

Und noch auf dieser Liste hier:

Doja Cat feat. Nicki Minaj: „Say So“

Jenevieve, „Medallion“

Coucou Chloe: „Nobody“

Amaarae: „Hellz Angels“

Loraine James: „Hmm“

Isaiah Rashad: „Why Worry“

Jessy Lanza: „Face“

Gal Costa / Zé Ibarra: „Meu Bem, Meu Mal“

Usw.

 

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