Linksalternative Szene, Rockmusik, Kanon, 1980, 2020
von Thomas Hecken
28.12.2020

Die Rezensionen von Wolfgang Welt

Da sich das Jahr dem Ende zuneigt, trifft es sich gut, zwei Bände in die Hand nehmen zu können, die einen ziemlich weit von der Gegenwart wegführen, aber doch genügend Verbindungsglieder aufweisen, um neben Interesse auch Sympathie und ein Verwandtschaftsgefühl aufkommen zu lassen. Der Reiffer Verlag hat neben Essays und Erzählungen die Literatur- und Plattenkritiken Wolfgang Welts auf insgesamt fast 800 Seiten versammelt („Kein Schlaf bis Hammersmith und andere Musiktexte“; „Die Pannschüppe und andere Geschichten und Literaturkritiken“).

Einiges davon ist schon in anderen Ausgaben greifbar gewesen, aber die beiden Bände besitzen ein besseres Layout, zudem darf man nun denken, ‚alles‘ vorliegen zu haben. Zu Wolfgang Welt als Erzähler haben wir auf dieser Website bereits zwei ausführliche Aufsätze veröffentlicht (einen von Moritz Baßler: Wolfgangs Welts Welt: „Peggy Sue“ im popliterarischen Feld der 1980er Jahre – und einen von mir: Der Nimbus des Anti-Glamours: Suhrkamp, Motörhead und Wolfgang Welt), darum soll es in diesem Beitrag nur um die Rezensionen Welts gehen.

In dieser Hinsicht sind die beiden Bände eine Sensation, na, zumindest eigenartig. Ich glaube nicht, dass es jemals zuvor eine Buchveröffentlichung gegeben hat, die kleine Beiträge veröffentlicht hätte, die überwiegend in einem Stadtmagazin erschienen sind – im vorliegenden Fall der Ruhrgebiets-Zeitschrift „Marabo“, für die Welt um 1980 herum eine Vielzahl an Texten schrieb, daneben vereinzelte Veröffentlichungen in „Musikexpress“, „Sounds“ und „Konkret Literatur“.

Stadtmagazine waren seit Mitte der 1970er Jahre ein wichtiges Organ der linksalternativen Szene und ihrer Kultur (zu ihrer Geschichte hier ein lesenswerter „taz“-Artikel von René Martens); in den allermeisten Fällen allerdings nicht besonders politisch radikal, sodass ein stetiger Strom an aktuellen Produkten und Ereignissen der Kulturindustrie in Anzeigen, Veranstaltungshinweisen und Rezensionen den Weg in die monatlich erscheinenden Hefte fand. Sie geben deshalb einen guten Aufschluss über die kulturellen Vorlieben jener jüngeren Leute (sagen wir, zwischen 15 und 35) aus dieser Zeit, die wenig mit Helmut Schmidt, AKWs, Schiller, deutschem Schlager im Sinn hatten. Also ungefähr dieselben Leute wie diejenigen, die heute als 15- bis 65-Jährige wenig Lust auf Friedrich Merz, RTL, Schiller, deutschen Schlager haben.

Was macht nun den Unterschied aus? Gar nicht so viel, denn ‚Linksalternative Szene‘ ist wahrscheinlich teilweise zu hoch gegriffen, um die damalige Szenerie zu beschreiben. Festere Zusammenhänge um K-Parteien, studentische Basisgruppen, Landkommunen, Uni-Seilschaften, linke Buchhandlungen etc. lösten sich zunehmend auf, die Organisationsform der Grünen-Partei konnte das nicht kompensieren. ‚Szene‘ meint darum oft nur noch: Leute, die sich in Programmkinos, (kleinen) Theatern, bei Konzerten und bei pazifistischen Demonstrationen sahen, ohne dass bei den meisten dadurch ein näherer, halbwegs organisierter Austausch stattgefunden hätte – auch nicht auf lokaler Ebene. Mit der Überzeugung, eine gute Form der Kunst, Kultur, Kommunikation zu pflegen, die nicht spießig und rechts ist und darum irgendwie bzw. aus eigener Perspektive ganz sicher politisch wertvoll sei, hatte es oft sein Bewenden.

Ähnlich wie heute, nur wäre damals kaum jemand auf die Idee gekommen, Angela Merkel zu schätzen. Sympathie und Verständnis für die Spitzen der Exekutive, Judikative, Legislative und Unternehmerschaft wollte niemand aufbringen. Nur im Bereich der Kultur war die fundamentale Macht- und Starkritik aufgeweicht.

Wegen dieser im kulturellen Bereich nur noch wenig rigiden szeneinternen Abgrenzungspolitik war es den Stadtzeitungen möglich, frühzeitig Trends der Kulturindustrie aufzugreifen, deren Protagonisten aus dem ein oder anderen Grund als rebellisch oder zumindest nonkonform galten, ohne dass sie einen Großteil besagter loser Szene (bereits) ansprachen. So war dort schon Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre regelmäßig etwas über New Wave und Folgendes zu erfahren, obwohl die Leserschaft weit überwiegend Rory Gallagher und den späten Bob Marley schätzte.

Viele der späteren „Spex“-Autoren haben bei Stadtmagazinen wie „Überblick“, „Szene Hamburg“, „Guckloch“ angefangen zu schreiben oder schrieben bereits neben ihren Artikeln für „Sounds“, dem wichtigen Vorgänger von „Spex“, Artikel für solche meist monatlich erscheinenden Illustrierten, die teils auch überregional an Bahnhofskiosken auslagen, aber fast ausschließlich lokal gelesen wurden. Wenn man bedenkt, dass solche Autoren später im Medienbetrieb zu größeren Blättern vorankamen oder als Einfluss für jüngere Autoren in den heutigen Feuilletons dienten, kann man ohne große Übertreibung sagen, dass die ehemaligen Vorlieben der Stadtmagazine zum heutigen Kanon avanciert sind – falls man unter ‚Kanon‘ die Kunstwerke versteht, die direkt oder indirekt staatliche Unterstützung erhalten und die von jenen Publikationsorganen (FAZ, SZ, Arte, Deutschlandfunk etc.) wiederholt positiv herausgestellt werden, die von staatlichen Kulturbehörden und ihren Mitarbeitern rezipiert werden.

Welt hielt 1981 in einem Beitrag zur Kulturpolitik fest: „Weil man mit Auftritten von Einstürzende Neubauten […] nicht auf den Feuilletonseiten der FAZ erscheint, wird diese Art von Subkultur, die für viele (wie mich zum Beispiel) eine viel wichtigere Kultur ist als die bürgerliche Hochkultur, nicht wahrgenommen, geschweige denn gefördert.“ Das ist zwar mit Blick auf die in den Jahrzehnten zuvor erfolgte Kanonisierung der Avantgarden der 1910er und 1920er Jahre insgesamt eine recht naive Aussage, stimmt aber immerhin für die ‚Neubauten‘ kurze Zeit. Dass Welt selbst unentwegt neben Neo-Rockabilly-Platten und anderen Neuveröffentlichungen, die es damals nicht in die FAZ schafften, aktuelle Prosabände von Thomas Bernhard, Günter Herburger etc. rezensierte, hätte ihn bei seiner Diagnose zum Zustand der „bürgerlichen Hochkultur“ allerdings stutzig machen müssen.

Wie sieht Welts eigener Kanon aus? Seine Musik-Bestenliste 1980/81 enthält etwa Fehlfarben, „Monarchie und Alltag“, The Cure, „Faith“, Public Image Ltd., „The Flowers of Romance“, Throbbing Gristle, „D. o. A.“ und die erste LP der Lounge Lizards. Daneben rangieren vor allem Singer/Songwriter aus dem Rock-Bereich (z.B. John Cale, John Martyn, Willie Nile), was in dieser Kombination damals eher ungewöhnlich war; Welts besondere Vorliebe für Buddy Holly kommt sogar noch hinzu. Der Throbbing-Gristle-Anhänger hätte damals – wenn er überhaupt auf die Idee gekommen wäre, sich für etwas aus den 1950er Jahren zu interessieren (die Konzentration auf die Gegenwart war damals viel stärker ausgeprägt als heute) –, zu abseitigeren Helden gegriffen, etwa:

Dagegen Welts (ausgezeichnete) Wahl:

Welt folgte also dem Kanon des US-amerikanischen „Rolling Stone“. Typischerweise schätzte er darum auch Soul- und Funk-Größen mit autoriellem Anspruch wie Stevie Wonder, Sly Stone, Parliament, und er konnte auch dem US-amerikanischen ‚Popular Song‘ und seinen Starinterpreten wie Sinatra einiges abgewinnen. Hinzu kam aber bei ihm der europäischere, vor allem vom englischen „New Musical Express“ propagierte ‚arty‘ New-Wave-Zugang. In dieser Mischung recht originell und vor allem vorwärtsweisend. Es handelt sich ja um nichts anderes als den heutigen, in der Stilmischung (nicht aber beim künstlerischen Anspruch) sehr plural ausfallenden Kanon, der von seiner 40 Jahre alten Liste weitgehend vorweggenommen wird.

Dennoch oder gerade deswegen fällt ein Unterschied zur heutigen Zeit sofort ins Auge. Popstücke, vor allem Disco-Titel finden sich auf seiner Bestenliste nicht. Erstere werden auch in Rezensionen nur erwähnt, wenn sie einen 50s- oder 60s-Bezug aufweisen, letztere mitunter hämisch als Musterbeispiel des Schlechten aufgerufen. Der manchmal penetrante Sexismus des männlichen Journalismus jener Tage steht damit ‚natürlich‘ in Verbindung.

Darin besteht also der eminente Fortschritt der letzten 40 Jahre – dass der institutionell gut etablierte Kanon von diesem Ausschlussverfahren heute nicht mehr geprägt ist. Sicherlich gibt es noch viele einzelne Feuilletonisten, Kritiker, Blogger, Dozenten etc., bei denen diese Abtrennung so oder so fortwirkt, in der Summe spielt er aber keine große Rolle mehr.

Bei Welt wird dieser erweiterte Kanon auf persönliche Weise vorbereitet. Er hängt stark an den Erinnerungen seiner Kindheit und frühen Jugend, zumindest die Pop-Hits aus dieser Zeit sind für ihn sakrosankt. Rückblick 1965, auf BFN laufen samstags in der Stunde vor Mitternacht die englischen Top Twenty („In dieser Zeit konnte man in einer Stunde ungekürzt zwanzig Platten ohne weiteres unterbringen“), Welt ist da 12 Jahre alt und liegt in seinem Kinderzimmer, das er mit seinem Bruder teilt, im Bett:

„Das Kofferradio von Schaub-Lorenz, das ich heute noch bei meiner Arbeit benutze, lag unter meinem Kopfkissen, weil sich die Lautstärke nicht mehr regulieren ließ, und ich war ganz Ohr. Ich hörte die letzten fünf der Hitparade: P.J. Proby, Gerry and the Pacemakers, The Hollies (sic!), Petula Clark und Keely Smith, bis auf die letztgenannte alle unvergessen.“

Die Erinnerung stimmt, das sind die Charts vom 4. April 1965. Charts 1965, Kanon 2020, dazwischen liegen neben vielem anderen: British Forces Network, Kinderzimmer, Stadtmagazin 1980, spätere Romanveröffentlichungen, gesammelte kleine Schriften postum und diese Rezension am Jahresende.

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