Tamagotchi für immer
von Birgit Richard
5.7.2020

Gekommen, um (für immer) zu bleiben

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 14, Frühling 2019, S. 10-17]

Das Tamagotchi ist wieder da. Neben einer zeitgemäßen App-Version für mobile Endgeräte, »My Tamagotchi Forever« genannt, erschien pünktlich zum 20-jährigen Jubiläum Mitte 2017 auch eine miniaturisierte Neuauflage jenes Spielzeugs, das bei seiner Markteinführung weltweit die Gemüter erregt hatte. So sprach z.B. der »Spiegel« (47/1997) »vom heimtückisch-hilfsbedürftigen Bewohner im Plastik-Ei«, welcher vom bevorstehenden »digitalen Großangriff« auf die »Seele junger Menschen« künde. Wie sieht es zwanzig Jahre später aus? Vermag der Archetyp in Anbetracht beständig wuchernder Konkurrenz auch zwei Dekaden später noch die Welt zu erobern und pädagogische Aufregung auszulösen?

Ursprünglich ein digitales c-Spielzeug, war das Tamagotchi der erste Konsumartikel mit implementiertem ›artificial life‹, der eine prägende Wirkung auf die aufkommende digitale Gesellschaft ausübte. Heutzutage wohnt das Tamagotchi auf unserem Smartphone und muss sich in puncto Unterhaltungswert mit einer Vielzahl von anderen virtuellen Haustieren messen, um nicht etwa durch Löschen seiner softwarebasierten Behausung möglicherweise für immer in den Weiten des App-Stores zu verschwinden. Die Sucheingabe »virtual pet« in Google Play listet Ende 2018 über 200 Apps auf, welche von den unterschiedlichsten Kreaturen bevölkert werden: Sei es »Moy«, ein Babytintenfisch mit großen feuchtglänzenden Augen, »Bubbu«, ein rotbraun getigertes, treu dreinblickendes Katzenbaby oder »Pou« bzw. »MyBoo«, deren geometrische Körperform gänzlich ohne Extremitäten auskommt und durch die formale Reduktion die notwendige Essenz virtuellen Lebens veranschaulicht: mimische Ausdrucksfähigkeit zur nonverbalen Kommunikation von Emotionen. Am erstaunlichsten ist jedoch »Cthulhu Virtual Pet«, ein von H. P. Lovecraft inspirierter Oktopus, der gänzlich ohne eindeutigen ›Cuteness-Appeal‹ zumindest den Fans des Schriftstellers als virtuelles Haustier taugt. 

Als erste kostenlose Bewohner des Mobiltelefons mit Farbdisplay motivierten virtuelle Haustiere von Beginn an zu einem bereits herstellerseitig intendierten Verhalten, gilt es doch bis heute, Nutzer*innen so lange wie möglich am mobilen Endgerät zu halten, damit der Datenfluss niemals versiegt. Was wäre hierzu besser geeignet als eine Echtzeitsimulation, die mit einem Sorgerecht für eine wenigstens virtuell lebendige Kreatur einhergeht? Egal ob Hund, Katze, Bär, Axolotl, Panda, Dino, Huhn, Einhorn, Schaf, Elefant oder ›Blob mit Gesicht‹, ob real oder fiktiv, naturalistisch designt oder völlig abstrakt, sie basieren alle auf dem von Bandai konzipierten Spielprinzip und sind daher gewissermaßen die mannigfaltige Nachkommenschaft des Ur-Tamagotchis. 

Inhaltlich fokussiert die Interaktion Ernährung, Sauberkeitserziehung (z.B. Waschen und Toilettengang), soziale Interaktion in Form von Aufmerksamkeit, Zuwendung sowie spielerische Beschäftigung und Schlaf. Die Qualität der Fürsorge und vor allem die Kontinuität der täglich mehrfach, bestenfalls unverzüglich auf Verlangen zu leistenden Care-Arbeit hat unmittelbar Einfluss auf die physische wie psychische Entwicklung der virtuellen Schutzbefohlenen. In Erweiterung der ursprünglichen Game-Logik erfolgt die Individualisierung des zunächst uniform gestalteten Charakters durch die Ausstattung von Frisur, Kleidung und Umgebung. 

Sowohl mentale oder körperliche Zustandsveränderungen als auch Handlungen des virtuellen Wesens wurden im Original durch zusätzliche Icons angezeigt: Bei Gefahr erschien ein totenkopfähnliches Symbol; Herzen deuteten Zuneigung und Liebe an; der Eindruck eines schlafenden Tamagotchis wurde beispielsweise mithilfe von »Zzzzzz« lautmalerisch evoziert. Eine Verdoppelung der Körperkontur symbolisierte Springen. Der zeitgleich aufgerissene Mund zeigte an, dass das Tamagotchi Freude verspürte. Abwehr bzw. Abneigung wurde durch Kopfschütteln und eine Armbewegung signalisiert. Bei aller Simplizität der Darstellung war bereits die Urfassung des Spiels imstande, synästhetische Qualitäten hervorzubringen. Der primitive visuelle Ausdruck von Befindlichkeiten des künstlichen Wesens reicht aus, um selbst erwachsene Menschen zu rühren. Mit der Implementierung von ›artifical life‹ erhalten die virtuellen Wesen eine ›Persönlichkeit‹. Demnach sind nur geringe visuelle Anreize vonnöten, um eine softwarebasierte Figuration als kommunizierendes Gegenüber wahrzunehmen. Im Gegensatz zu Simulationen von künstlichem Leben im Cyberspace, denen biologische Parameter zugrunde liegen, sind diese virtuellen Haustiere keinerlei biologischen Tatsachen, sondern einzig soziokultureller Interaktion verpflichtet.

Ich selbst habe das Ur-Tamagotchi vor zwanzig Jahren als Vorbote für eine Gewöhnung an künstliche Lebensformen eingestuft, da dessen portable Konzeption erstmalig auf tragbare digitale Medien verwies. Anderen ›Artificial-Life‹-Anwendungen, die im Rechner stationär verankert waren, fehlte die mobile, körpergebundene Dimension. Mit der Ansiedelung im Smartphone wird dieses Alleinstellungsmerkmal des Spieles re-aktualisiert. Die App selbst erinnert nur noch schwach an den medialen Urknall vor zwanzig Jahren. Erstaunlich ist jedoch, dass die durch das Tamagotchi etablierten, wegweisenden Grundprinzipien bis heute konstant geblieben sind. Obgleich die ursprüngliche Konzeption des Tamagotchis gezeigt hat, dass wenige emoji-ähnliche, schwarz-weiß gehaltene Zweitongrafiken ausreichen, um Nutzer*innen emotional zu binden und ihnen die Gegenwart eines Lebewesens zu suggerieren, hat sich die visuelle Ausgestaltung des Spielprinzips an die technischen Möglichkeiten von Smartphones angepasst. Stilistisch vergleichbar mit der grafischen Gestaltung der Charaktere in »PokemonGo«, weist die zeitgenössische, deutlich detailliertere Farbdarstellung eindeutige Kawaii- und Cutifizierungsmerkmale auf, die notwendige Ingredienzen von Softwareprodukten des ›artifical life‹ sein müssen. Mit dem grafischen Detailreichtum gehen besser durchgezeichnete Persönlichkeiten einher, die scheinbar erweiterte Handlungsmöglichkeiten besitzen – all das trägt zur ›cuteness‹ der Charaktere bei. »Futabatchi«, das eingangs mittels Fingertab auszubrütende »Babytchi«, erinnert formal an eine – allerdings quicklebendige – Frucht, sprießt auf der Oberseite seines blassgelben Kugelkörpers doch mittig ein junger zweiblättriger Trieb. Die Augen blinzeln unablässig, der vorstehende schnabelartige Mund bewegt sich und die Wangen sind kreisförmig gerötet. Bei Nichtbeachtung zappelt das Neugeborene hyperaktiv herum und gibt regelmäßig glucksende Laute von sich. 

Die ursprüngliche Programmierung kannte keinen speicherbaren Spielstand, galt es doch, ein Lebewesen mit einer kontinuierlichen wie einmaligen Existenz zu konzipieren und derart die Prinzipien von Macht und Ohnmacht, Leben und Tod möglichst realistisch umzusetzen. Sowohl im Retro-Ei als auch in der kostenlosen App-Version erfährt das Spielprinzip eine Erweiterung um Level und Mini-Games, die einerseits dazu dienen, das virtuelle Wesen bei Laune zu halten, und andererseits, Nahrungsmittel oder weitere Mini-Spiele freizuschalten. Einmal auf dem mobilen Endgerät installiert, werden sämtliche virtuellen Haustiere jedoch nicht wie andere Programme beendet; sie laufen bzw. ›leben‹ im Hintergrund weiter. Sie sind immer da und warten lauernd auf die nächste Ausführung des Programms, nur um die User*innen durch zunehmende Verwahrlosung der nicht ordnungsgemäß erbrachten Care-Arbeit zu gemahnen. Dank des eingeführten Endlosspielcharakters sind das Smartphone-Tamagotchi und seine Abkömmlinge in der Lage, sich erfolgreich dem Tod zu widersetzen. Die Simulation künstlichen Lebens kennt folglich kein ›game over‹ mehr; einzige ›Exit-Strategie‹ aus dem Malstrom sklavischer Bedürfnisbefriedigung ist die radikale Deinstallation der Software. 

Je nach Version und Produktvariante erlauben auch Tamagotchi-Eier individuelles sowie vernetztes Spielen. 1997/98 blieben die Tamagotchi-Küken allein, ungeschlechtlich und genetisch unveränderbar. Demgegenüber konnten in »Creatures« (1996), der bekanntesten wie komplexesten Artificial-Life-Simulation für den PC der 1990er Jahre, bis zu sechs Wesen, männliche und weibliche »Norns«, gleichzeitig aufgezogen, gepflegt und unterrichtet werden. Mit »Tamatown« stellt die App 2018 einen urbanen Kontext und vernetzte »Tamagotchi Friends« zur Verfügung. Die Interaktivität betont den kompetitiven Aspekt des Spiels; im direkten Wettstreit gilt es zu klären, wessen Nachwuchs besser geraten ist.

Das Tamagotchi war das erste digitale ›Spielsubjekt‹, gefolgt von elektronischem Plüsch wie dem Furby (1998), das scheinbar wesenhaft eine hohe Aufmerksamkeit erforderte. Vergleichbar mit »Hatchimals« (2016), aus einem großen Kunststoff-Ei schlüpfender tierähnlicher E-Plush, wird die persönliche Beziehung im Anschluss an die elektronische ›Geburt‹ rituell durch die Namensgebung besiegelt. Das Einstellen der Uhr synchronisiert die eigene Lebenszeit mit der des virtuellen Haustiers. 1997/98 war das Tamagotchi mehr als ein Spielzeug, was die monatelange mediale Berichterstattung, die Reaktionen von Soziolog*innen, Psycholog*innen und Pädagog*innen sowie das hysterische Kaufverhalten quer durch alle Altersgruppen anzeigte. Die Diskussion um die Schädlichkeit zeugte von dem qualitativen medialen Sprung, den die Markteinführung des Tamagotchis initiiert hatte: die Implantierung des ›artifical life‹ ins Alltagsleben und dessen ökonomische Funktionalisierung. Gegenwärtig vergleichbar wäre z.B. Amazons Sprachassistenz »Alexa« als Zeichen für cloudbasierte Künstliche Intelligenz in Konsumobjekten der heimischen Sphäre.

Tamagotchis sind von ihrer Anlage her die elektronische Implementierung des Fürsorgeprinzips. Das Spiel hat eher einen bewahrend-konstruktiven als einen destruktiven Charakter. Das virtuelle Wesen am Schlüsselbund soll so lange wie möglich am Leben gehalten werden. Allerdings nutzt sich der Effekt mit wachsender Gewöhnung an das Spielzeug ab, und die Fürsorgehaltung wird mitunter durch Langeweile und Überdruss beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen. »Tamagotchi-Abuse-Seiten« halten Tipps bereit, um dem renitenten Eibewohner schnellstmöglich einen bösen Charakter zu verpassen oder ihn gleich ganz sterben zu lassen, wobei sich die Tötung nur indirekt durch Liebesentzug herbeiführen lässt. Ungeachtet des möglichen Umschlags in den Versuch, das Leben des virtuellen Wesen möglichst schnell beenden zu wollen, vermittelt das Spiel in einer sehr rudimentären Form etwas über die Grundbedürfnisse und die Endlichkeit alles Lebendigen. Diesbezüglich besitzt es einen sehr abstrahierten Simulationscharakter. Anhand einer ›cuten‹ digitalen Entität wird nicht nur die Ambivalenz der Care-Arbeit aufgezeigt, sondern auch, welche verheerenden Folgen Hunger, mangelnde Hygiene und daraus resultierende Krankheit, unzureichende medizinische Versorgung, fehlende Zuneigung und soziale Interaktion, Schlafentzug und Bestrafung haben. 

Es liegt in der Logik dieser künstlichen Lebensformen, dass sie in einen realgesellschaftlich existierenden rituell-symbolischen Kreislauf eingebettet sind. Das tote Tamagotchi verschwindet nicht einfach, die Geister der Ahnen tragen dem Mythos zufolge seine ›Seele‹ zurück ins All. Das Sterben des Tamagotchis ist die notwendige Voraussetzung für sein Leben. Ohne den drohenden Tod verliert das Spiel sofort seinen Reiz. Was bedeutet dies nun für die aktuelle Variante? Alle Altersstufen leben irgendwo in »Tamatown«, und das Tamagotchi scheint nach 14 Tagen automatisch zu sterben.

Die Übertragung der Forschungsergebnisse des ›artifical life‹ auf Spielzeug und, damit einhergehend, die personelle Zuordnung der virtuellen Wesen begünstigt die Entwicklung einer persönlichen, emotionalen Beziehung. Zeugnis hiervon legen nicht zuletzt Online-Friedhöfe, sog. »Tamagotchi Graveyards«, mit Gedenktafeln für verblichene Tamagotchis ab. Diese haben einen ähnlich abstrakten bzw. irrealen Status wie »virtual pet cemeteries«, die online realer Haustiere gedenken. Die Trauer um ein artifizielles Wesen kündet demnach von einer neuen Dimension künstlichen Lebens, und zwar seiner Gleichwertigkeit mit organischem Leben – zumindest im Kontext des World Wide Web.

Plastik-Ei und Apps mit Tamagotchi-Insassen verweisen damals wie heute auf die pausenlose Empfangsbereitschaft des Menschen, die in einer Kommunikations- und Informationsgesellschaft vermeintlich gewährleistet sein muss und im Zeitalter des Smartphones ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Tamagotchis verkörpern Mobilität, das ›Immer-Erreichbar-Sein-Müssen‹, das ›Sich-Immer-Um-Etwas-Kümmern‹ und transponieren dieses gesellschaftliche Leitmotiv auf die Kindheit. Das Piepen des Tamagotchis weist wie bei anderen technischen Geräten auf einen Alarm, eine Nachricht oder – viel entscheidender – auf leere Akkus, also auf Energieverlust hin. Die Hauptaufgabe ist die pausenlose Versorgung des virtuellen Wesens mit elektrischer Energie; eine Trainingseinheit, um den Anforderungen einer immer mehr von gespeicherter, jederzeit abrufbarer Energie abhängigen Gesellschaft gerecht zu werden. Der Knopfdruck bzw. die Wischgeste für Energiezufuhr bedeuten Lebensverlängerung für das virtuelle Wesen und machen eine regelmäßige Betätigung erforderlich. Diese passive Gebärde der Überwachung dient der Zustandskontrolle und -korrektur. Ist diese Geste in der Tamagotchi-App erhalten oder modifiziert worden? Auch mit der besseren Grafik bleibt der Grundcharakter der Interaktion, namentlich Kontrolltätigkeit, bestehen. Dafür werden die Nutzer*innen mit kleinen Herzchen und ›cuten‹ Gesten ihres Schützlings entschädigt. Die ständige Bereitschaft, die das Tamagotchi 1997 prognostizierte, ist heute längst digitale gesellschaftliche Realität. Sie hat 2018 einen beruhigenden Hintergrund: Das virtuelle Wesen ist immer da, es geht nicht weg und steht mir vollständig zur Verfügung. Seine Anwesenheit garantiert die meine und damit die vom Hersteller gewünschte permanente Gerätenutzung, um möglichst viele digitale Spuren, d.h. auswertbare Daten, zu hinterlassen.

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