Materielle Kultur im Netflix-Format »Aufräumen mit Marie Kondo«
Mit der Herausbildung der Konsumgesellschaft zeigen sich Praktiken des Sammelns, der Auswahl und des Ordnens von Dingen als elementare Kulturtechniken, da in Wohlstandsgesellschaften ein ,Zuviel‘ der Gegenstände prinzipiell Selektion erfordert. Aufräumen und Aussortieren sind nicht voraussetzungslos, sondern bedürfen entsprechender Kompetenzen im Bereich des Bewertens und Klassifizierens von Dingen, damit ,Dingwelten‘ inszeniert und ästhetisiert werden können,[1] die soziale Anerkennung erfahren. Dabei sind tradierte, kollektiv geteilte Vorstellungen von Ordnung und Unordnung in Wohnräumen wirkmächtig, wie sich etwa anhand der sozialen Distinktion von ,Messies‘ zeigt, denen eben jene kulturellen Kompetenzen abgesprochen werden. [2]
Praktiken des Wohnens sind ein entsprechend breit erforschtes Feld in den Kultur- und Sozialwissenschaften, wohingegen qualitative Forschung, die sich dem alltäglichen Aufräumen dieser Wohnräume widmet, noch sehr überschaubar ist. Was hingegen diskutiert wird – und indirekt auch das Verhältnis von Wohnen und Aufräumen beschreibt –, sind Fragen nach der Ordnung der Gegenstände, denn Wohnen ist nicht zuletzt das Sammeln, Ordnen und Nutzen von Dingen in einem von der Umwelt abgegrenzten Raum. Der „Alltagsbereich des Wohnens [präsentiert sich als] innig mit der Dingwelt verklammert“[3] konstituiert Manfred Seifert. „Dinge, Wohnen und Raum“ können „nicht unabhängig voneinander gedacht werden.“[4] Beim Aufräumen und Aussortieren handelt es sich also um eine grundlegende sozio-kulturelle Technik, an welche Marie Kondos dezidiert ,Ding-orientierte‘ Ratgeberformate anknüpfen.
Aufräumen mit Marie Kondo
Seit Anfang 2019 steht die von Netflix produzierte Reality-Serie Tidying up with Marie Kondo auf der Streaming-Plattform zur Verfügung. In acht Episoden illustriert die Serie die populären Methoden der „Kaiserin japanischer Aufräumliteratur“[5] – Marie Kondo – und erzählt dabei Geschichten von kalifornischen Paaren und Familien der Mittelschicht. In einem mehrwöchigen Prozess leitet Kondo diese zum Aussortieren an, erteilt Ratschläge, demonstriert spezielle Falt- und Rollmethoden für unterschiedliche Kleidungsstücke oder das ,korrekte‘ senkrechte Verstauen von Gegenständen in Boxen (die Kondos Aufräumimperium freilich eigens vertreibt).
Für Kondo liegt der „ursprüngliche Grund für die Unordnung […] darin, dass zu viele Dinge vorhanden“[6] seien, welche in der Konsequenz großflächig aussortiert werden müssen. Dabei werden verschiedene Anwendungsszenarien und Problemlagen im Umgang mit den eigenen Gegenständen demonstriert. Es verbinden sich Elemente des diegetischen Storytellings, die Beziehungen, private ,Krisen‘ oder familiäre Konflikte verhandeln, mit extradiegetischen Ratgebersequenzen, in denen Kondo auf einer Couch sitzend Ratschläge formuliert und vermeintlich ,persönliche‘ Vorgehensweisen in ihrem eigenen Zuhause schildert.
Die Episoden folgen dabei erkennbar einem dramaturgischen und erzählerischem Schema, das sich sowohl an den von Kondo entwickelten ,Dingkategorien‘ als auch den behaupteten zwischenmenschlichen Dimensionen des Aufräumens orientiert: Marie Kondo kommt beim Wohnort an, es folgt eine überschwängliche Begrüßung und ein Rundgang durch das Haus oder die Wohnung sowie eine Art rituelle ,Begrüßung‘ des Wohnraums durch Kondo. Zuvor wird in einer Exposition meist die (Kennenlern-)Geschichte des Paares oder der Familienkonstellation erzählt und durch Fotografien veranschaulicht. Im Anschluss beginnt in der Erzählung in der Regel die „Erste Lektion“: „Clothing“ – die Auseinandersetzung mit der Kleidung. Kondo rät ihren „Klient*innen“ – wie sie sie nennt – anschließend die Kleidungsstücke einzeln in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, ob diese ,Freude entfachten‘ oder nicht. Je nachdem werden im Anschluss Kleidungsstücke behalten oder sich bei selbigen bedankt, bevor sie aussortiert werden. Im Mittelteil der Episoden schließen sich nun Sequenzen an, die in einer Home-Video-Ästhetik den Prozess des Aussortierens in Abwesenheit von Kondo zeigen.
Marie Kondo kommt zu einem späteren Zeitpunkt zurück und gibt eine neue „Lektion“. Diese widmet sich einem weiteren „Unordnungsfeld“ im Haushalt, in Fortsetzung der 5-teiligen-Ding-Kategorisierung kann es sich dabei um „2. Books“, „3. Paper“, „4. Komono“ oder „5. Sentimentals“ handeln, die in der Regel entlang des Kriteriums des „Freude-Entfachens“ behalten oder aussortiert werden. Hierbei werden häufig Asynchronitäten zwischen den aufräumenden (Ehe-) Partnern thematisiert, die zu kleineren Auseinandersetzungen führten, etwa weil diese in unterschiedlichem Maße an Dingen ,hängen‘[7] oder unterschiedlich engagiert seien.[8] Diese lösen sich jedoch im Zuge des Aufräumens in Wohlgefallen auf, sodass mit dem Aussortieren und Neuordnen auch die Meinungsverschiedenheiten der Paare gelöst werden und in einer neuen Ordnung aufgehen. Zwischenmenschliche Konflikte werden zum Schluss jeder Episode so in eine ,Aufräum-Katharsis‘ überführt.
Stefanie Mallon zufolge sind die Zielgruppe von Aufräum-Ratgebern Erwachsene, „die sich selbst einen Mangel in der Fertigkeit des Aufräumens diagnostizieren und deren Aufräumpraxis ,nicht gelingt‘.“[9] Anders als klassische Ratgeberliteratur und in seiner Erzählstruktur angelehnt an Unterhaltungsformate des Reality-TV, insbesondere an das Subgenre der ,Making-Over’-Formate, ist das Netflix-Format Aufräumen mit Marie Kondo weitaus niedrigschwelliger zugänglich – und zwar für all diejenigen, die die Streaming-Plattform abonniert haben. Dementsprechend klassifiziert Netflix die Serie als „Feelgood“ oder „Herzergreifend“ und ordnet sie gleichermaßen den Kategorien „Serien nach Buchvorlage“, „Serien rund um Haus und Garten“, „Lebensstil“ und „Reality-TV“ zu.
Überfluss und Überforderung
„Der Aufräumprozess“ – wie Kondo ihn nennt – beginnt in jeder Episode mit Kleidungsstücken, die scheinbar nicht selten ungetragen ihr Dasein im Kleiderschrank fristeten und zwecks des Aussortierens nun aus dem Schrank gezogen und auf dem Bett aufgetürmt werden. Kondo erläutert diese Praxis, indem sie ausführt: „Erst, wenn man sieht, wie viel man besitzt, versteht man, was getan werden muss“[10] und nennt dies wiederholt den „Schock-Effekt“, der nötig sei, um zu entscheiden, welche Dinge man „wirklich brauche.“[11] In vielen Episoden entsteht so der Eindruck, die ,Probleme mit den Dingen‘ ergäben sich aus ihrer schieren Menge.
Mit Orvar Löfgren und Barbara Czarniawska[12] lässt sich dieser Prozess als die Markierung von Überfluss verstehen, eine „kulturelle Klassifizierung, die normative Auswirkung habe. Phänomene, die als Überfluss markiert und gelabelt seien, müssten geordnet, geregelt, kurz: gemanagt werden.“[13] Sie provozieren ein schlechtes Gewissen, das das Aussortieren moralisch legitimiere. Die zugrundeliegende Beobachtung lautet, dass sich das Beklagen darüber, dass ,einfach alles zu viel‘ sei, in ,westlichen‘ Gesellschaften häufe und wachsende Anforderungen an Selbstorganisation in allen Lebensbereichen zunehmend als Belastung empfunden würden. [14]
In den Sozialwissenschaften wird dieses Phänomen längst im Kontext zunehmend gouvernementaler Lebensführungen diskutiert und nach dem Zusammenhang moderner Gesellschaftsstrukturen ,westlichen‘ Typs und subjektiv empfundenen Gefühlen der Überforderung gefragt. Wirtschaftliche Wachstumsanforderungen implizierten demnach auch „eine Beschleunigung sozialer Prozesse“ und müssten „auf der Ebene individueller Lebensführung in die Balance gebracht werden.“[15] Typisch für den Ratgeberdiskurs reagiert auch Aufräumen mit Marie Kondo mit einer Responsibilisierung von Individuen, denen vermeintliche Lösungsstrategien für Gefühle der Überforderung angeboten werden, in dem diese auf privater Ebene ihren Alltag ,effizienter‘ gestalten sollten. Der ,Überfluss‘ an Dingen wird in Aufräumen mit Marie Kondo folgerichtig nicht gesellschaftspolitisch problematisiert, sondern im Hinblick auf das individuelle Gefühl der Schuld und des Kontrollverlustes bei ihren Besitzer*innen. Typische Reaktionen auf die Konfrontation mit den eigenen ,Dingbergen‘ lauten etwa: „Ich bin von meiner Kleidung überfordert“[16] oder „Ich weiß garnicht, wie ich das schaffen soll.“[17] Kennzeichnend scheint zu sein, dass die Gegenstände in diesem Zusammenhang nicht mehr einzeln wahrgenommen werden – was bei Kondo ein Wert an sich ist –, sondern als „Gerümpel“, „Kram“ oder „Zeug“ klassifiziert werden („clutter“ oder „stuff“ im englischen Originalton), was mit einer Abwertung einhergeht, die Dinge in den Bereich des ,Überflüssigen‘ rückt und das Aussortieren rechtfertigt.
Bedeutungszuweisungen und Auswahl
Im Anschluss an die Konfrontation mit den eigenen Dingen folgt in den Erzählungen das Bewerten der einzelnen Gegenstände. In Episode 8 (Wenn zwei unordentliche Menschen zusammenziehen) hadert eine junge Frau damit, ein Kleid, das einmal ihrer Großmutter gehört habe, auszusortieren, da es als Erinnerungsstück einen ,emotionalen Wert‘ für sie habe. An diesem Punkt tritt eine Argumentation in Kraft, welche in ähnlicher Weise in vielen Episoden der Serie herangezogen wird: „Ich liebe meine Klamotten, aber ich muss lernen Erinnerungen von Kleidungsstücken zu trennen.“ [18]
Das Aussortieren von Gegenständen wird in Aufräumen mit Marie Kondo mitunter als ,Loslassen‘ von Dingen, als positive, emanzipatorische Praxis erzählt. So greift beim Aussortieren nicht nur das etwas vage Kriterium des „Freude-Entfachens“, sondern auch ein Gefühl der Befreiung von den eigenen materiellen Besitztümern, womit sich scheinbar der finalen Kontrolle über diese versichert wird. Gefühle der (emotionalen) Abhängigkeit des Menschen von ,seinen Dingen‘ werden hier implizit als ,ungesund‘ dargestellt. Je abhängiger sich eine „Klient*in“ von einem Gegenstand fühle, umso größer scheinbar die Notwendigkeit, diesen auszusortieren. Dinge, die eher unverbindlich „Freude entfachten“, erscheinen hingegen als ideales Eigentum.
Die Idee des Auswählens als Kulturtechnik ist keineswegs neu, werde aber „zu einer immer größeren Herausforderung“, so Annina Wettstein. „Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden praktisch keine Auswahlmöglichkeiten. Nur eine kleine Minderheit hatte genügend Macht und Geld, um aus einer Vielfalt von Produkten auswählen zu können. Soziales Distinktionsmerkmal war die Anzahl persönlicher Güter.“ Später, „mit der Herausbildung der Konsumgesellschaft und der zunehmenden Ästhetisierung von alltäglichen Gegenständen […] verlief Distinktion […] nicht mehr über die Quantität der Dinge, sondern verstärkt über deren symbolischen Gehalt und den Geschmack der Besitzerin oder des Besitzers.“[19] Evident wird also, dass die dargestellten Paare und Familien ein hohes Maß an materiellem Wohlstand genießen, der ein großflächiges Aussortieren überhaupt erst möglich macht. Die Reduktion und Neuanordnung der Dinge scheint ihnen in dieser Logik erst wieder einen Wert zu geben, den sie im Zuge des allgegenwärtigen ,Chaos‘ verloren hätten. Chaos, Unordnung, ein ,zu viel‘ der Dinge wird hier also als ursächlich dafür dargestellt, dass die Dinge ,ihre Bedeutung‘ für die Besitzer*innen einbüßten oder für diese ,nicht mehr sichtbar‘ gewesen sei. Es ließe sich fragen, ob dabei eine Mangelhypothese bestätigt wird, wie sie der amerikanische Politologe Ronald Inglehart aufgestellt hat. Den höchsten subjektiven Wert schreibe man Dingen zu, die relativ knapp seien.[20] Daraus folgt, dass die Dinge, je weniger knapp sie sind, an subjektiven Wert verlören. In je höherem Maße Menschen also ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen können, desto stärker schätzen sie Dinge wert, mit denen sie nichtmaterielle Bedürfnisse befriedigen können. Das Aussortieren funktioniert in Aufräumen mit Marie Kondo in diesem Sinne gleichzeitig als Aufwertung der Gegenstände, die verknappt werden, und als Abwertung derjenigen Dinge, die keine „nichtmateriellen Bedürfnisse“ befriedigten, indem sie keine „Freude entfachen“.
Aussortieren und Entsorgen
Die Kehrseite der Aufwertung einiger Dinge, scheint im Format die Abwertung anderer zu sein. „Wir machen Dinge wichtig, indem wir andere Dinge unwichtig machen“,[21] fasst Michael Thompson in der Rubbish Theory zusammen. Wert-volle Gegenstände und Müll lassen sich prinzipiell als zwei Seiten derselben kulturellen Medaille verstehen.
Das Betrachten von Dingen, das Zuschreiben von Bedeutungen und Entscheiden über ihren Verbleib ist der Kern der Erzählungen in Aufräumen mit Marie Kondo. Das Format zeigt dabei eindrücklich, dass ,Objektbiografien‘ nicht zwingend von der „materiellen Dauerhaftigkeit“ der Dinge abhängen, sondern viel mehr von individuellen Wertzuschreibungen, die sich zu gesellschaftlichen Wertvorstellungen verhalten.[22] Es scheint zunächst so, als ob jeder überindividuelle, kollektive Wert von Dingen im Format negiert würde, indem die Entscheidung radikal subjektiviert wird – „Does it spark joy?“ – insofern, als auch gesellschaftlich konstruierte, in finanzielles oder symbolisches Kapital übersetzbare Werte von Dingen nicht als Argumente zum Aussortieren oder Behalten angeführt werden. Was nicht bedeutet, dass diese nicht trotzdem eine Rolle spielen, und lediglich unter jenen Dingen die „Freude entfachen“ subsumiert werden, denn die eigenen Dinge haben notwendigerweise auch „eine kulturell vorgegebene Bedeutung […]. Das Individuum kann allein aus dem vorgefundenen Universum bedeutsamer Objekte auswählen, und nur innerhalb dieses Rahmens kann es Objekte und ihre Bedeutung individualisieren.“[23] Das „Ordnungsmuster ,Abfall‘“ ist – zusammengefasst – „gleichzeitig gesellschaftlich determiniert und variabel.“ [24]
Die Dinge und ihre Anordnung im Wohnraum bilden – mit Mary Douglas gesprochen – einen „Komplex geordneter Beziehungen“, wodurch die Kontaminierung, also die „Übertretung dieser Ordnung“ möglich würde und „Schmutz“, buchstäblich „Über-Flüssiges“, entstehen könne. Dieser verhalte sich relativ zum etablierten Ordnungssystem und sei nichts Absolutes, sondern ein Nebenprodukt des „Klassifizierens von Sachen“, das Grenzen innerhalb dieses Systems überschreitet. Ordnen schließt demnach auch „das Verwerfen ungeeigneter Elemente“ mit ein. „Schmutz verstößt gegen Ordnung.“[25] In Aufräumen mit Marie Kondo entsteht ,Abfall‘ in Form von Dingen, die nicht in jene neue Ordnung gefügt werden sollen, innerhalb derer jeder Gegenstand „Freude entfache“. Was als Müll klassifiziert – also entsorgt – wird, wird radikal ausgeweitet. Hier wird sich nicht nur der Dinge entledigt, die als Wert-los betrachtet werden (alle Dinge die keine „Freude entfachen“), sondern auch solcher, die vermeintlich ,zu viel‘ persönlichen Wert haben und von denen sich Besitzer*innen somit quasi ,emanzipieren‘.
Annina Wettstein beschreibt, dass die Entscheidung darüber, was Müll ist und was nicht, das Ordnen und Sammeln, Behalten oder Wegwerfen, eine Kompetenz implizieren, „darüber zu entscheiden, welche Objekte wichtig oder unwichtig, wertvoll oder wertlos sind. Diese Selektionsleistungen sind nicht nur für Messies eine sich täglich wiederholende Mühsal.“ So sei der Alltag zwar „in gewissen Bereichen durch Technisierung und Digitalisierung immer stärker entmaterialisiert“, trotzdem sind die meisten ,westlichenʻ Haushalte immer noch ,vollgestopft mit Zeugʻ , das kategorisiert und – entlang dieser Kategorisierungen – platziert werden will: “Most Western homes are […] still veritable jungles of clumsy objects and gadgets, utensils and tools, crammed into every available space […]. Homes may be overflowing with semiotic signs, symbolic messages, dreams and longings, but they are above all full of objects, that constantly need to be organized.”[26]
Im Ergebnis nimmt „die Anzahl von Gegenständen […] und damit die Vielfalt von Zuschreibungen, Assoziationen und symbolischen Funktionen“[27] – der Digitalisierung zum Trotz – nach wie vor zu. In den Erzählungen bietet Kondo eine Strategie an, um ihren „Klient*innen“ scheinbar systematisch zu ermöglichen, Dinge anhand eines einzigen Kriteriums („Does it spark joy?“) auszusortieren, was in gewisser Hinsicht die Komplexität der Bedeutungsebenen von Dingen zu reduzieren scheint und so für die Dingbesitzer*innen eine Entscheidung überhaupt erst ermögliche.
Gemessen an den vielen Funktionen, die eigene Gegenstände haben können, priorisiert Kondos Methode die der Beeinflussung von Stimmung und Befindlichkeit. [28]Allerdings werden vielfach auch andere Dingfunktionen von den „Klient*innen“ als Argument angeführt, um Dinge zu behalten, beispielsweise das Symbolisieren von Autonomie oder Selbstdarstellung und symbolische Zukunftsentwürfe.[29] Die Auswahl der Dinge orientiert sich demnach nicht exklusiv an dem von Kondo betonten stimmungshebenden Effekt, sondern auch an identitätsbezogenen und kommunikativen Dimensionen, kurz gesagt daran, was diese – wenn sie sichtbar in der Wohnung platziert werden – über ihre Besitzer*innen ,erzählen‘.
Dingordnungen und Lebensabschnitte
In Episode 7 erklärt der Familienvater Aaron Mattison: „Wir möchten gerne ein drittes Kind, aber vorher müssen wir unser Gerümpel loswerden. Es erdrückt uns. Wir müssen gründlich ausmisten, bevor wir unsere Zukunft angehen.“ In Episode 6 (Ein riesiger Berg) und 7 (Vorbereitungen für das Baby) möchten Familien ,entrümpeln‘, um ,ihr Zuhause auf ein neues Baby vorzubereiten‘, und auch die Erzählungen der übrigen Folgen, orientieren sich an Übergangssituationen in den Leben der Protagonist*innen, die mittels des Aufräumens gestaltet werden. Das Ausgangsszenario jeder Episode von Aufräumen mit Marie Kondo ist dabei ein Haushalt, der nicht für einen kommenden Lebensabschnitt vorbereitet sei. Das Aufräumen dient als Übergangsritual in eine ,neue Ordnung‘, der in den Erzählungen eine große Wirkmacht zugesprochen wird. Davon zeugen bereits viele Episodentitel, wie Studenten oder Erwachsene?, Vorbereitungen für das Baby oder Aufräumen nach einem Verlust.
Das profane ,Aufräumen‘ wirkt durch die symbolischen Handlungen Kondos, wie der Begrüßung der Räumlichkeiten auf Knien, und der kuratierten Abläufe – mit shintoistischen Anklängen – im Umgang mit den Dingen (z.B. dem ,Aufwecken‘ und Bedanken bei diesen), aufgewertet. Diese Vorgänge inszenieren scheinbar bewusst einen Kontrapunkt zur suggerierten willkürlichen Anhäufung von Gegenständen, für die kein fester Platz vorgesehen sei. Die Dinge – die in den Erzählungen Wert-los geworden waren – werden so aufgewertet und mittels dieser eine neue Ordnung etabliert. Tilman Habermas argumentiert im Anschluss an Victor Turner, dass Ritualen mit dinglichen Besitztümern ein symbolischer Wert zukäme, denn diese „symbolisier[en] und stabilisier[en] soziale Struktur, Besitzlosigkeit negiere sie“[30] hingegen. Als eine Form des Übergangsrituals wird durch das Aussortieren und Neuordnen von Dingen eine andere, positive oder sogar „ideale“ Zukunft imaginiert, wie Kondo vielfach beschwört.
Grundsätzlich generiere eine tradierte Anordnung der Dinge im Wohnraum unterschiedliche Handlungsräume. Ensembles von Dingen vermitteln „Anweisungen darüber […], wie wir uns in der Wohnung bewegen sollen, was wir tun sollen, was die hygienischen Standards sind.“[31] Diese Handlungsräume würden demnach „durch Handlungen erschaffen“ und riefen im Ergebnis selbst wieder Handlungen hervor,[32] legten bestimmte (wünschenswerte) Verhaltensweisen im Wohnraum nahe und machten andere unwahrscheinlicher. „Mittels Stabilität und Kontinuität der Umwelt, versichert man sich der eigenen Stabilität und Kontinuität“[33] – demnach suggeriert eine veränderte Ordnung auch die Möglichkeit veränderter Handlungsvollzüge und eine konstante Ordnung die Möglichkeit von (Selbst-)Kontrolle. Auch und insbesondere in der Logik der Ratgeberkultur werden diese Motive angesprochen und ein „transformatives Potenzial“[34] des Aufräumens in Aussicht gestellt. Das Aufräumen erscheint hier folgerichtig nicht als „negative Handlung, sondern [als] positive Anstrengung, die Umwelt zu organisieren“,[35] in der Hoffnung, diese habe die erwartete stabilisierende Rückwirkung auf das eigene Verhalten und den Gefühlshaushalt.
Nie wieder aufräumen?
Sehnita Mattison beklagt in Episode 6: „Egal was ich tue, ich habe immer im Hinterkopf, dass ich noch putzen muss. Ich kann nicht abschalten.“[36] In der Serie werden überwiegend traditionelle Familienkonstellationen gezeigt, innerhalb derer sich mehrheitlich die Mütter für das alltägliche Aufräumen verantwortlich fühlen, was von diesen als Belastung beschrieben wird. Rachel Friend erklärt in Episode 1: „Er arbeitet mehr und ich bin mit den Kindern zuhause“ und: „Es kommt mir vor, als wäre ich mit Kindern und Haushalt überfordert.“ [37]
Die Ordnung innerhalb des Wohnraumes scheint sich im dargestellten Alltag per se in einem prekären Zustand zu befinden und ständig von den zahlreichen Dingen in einem (westlichen) Haushalt bedroht zu sein, die ,wie von selbst‘ die für sie vorgesehenen Plätze verließen, in andere Bereiche „überflössen“ und diese „kontaminierten“.[38] Aus dieser Perspektive könnte das Aufräumen als (Wieder-)Herstellung einer (vormaligen) Ordnung betrachtet werden, die durch die prinzipielle Mobilität der Dinge ständig gefährdet ist. Die Praxis des Aufräumens ist eine anhaltende Anstrengung, um die stetig durch Unordnung gefährdete Ordnung aufrecht zu erhalten: „Ihre vermeintliche Stabilität stellt eine Illusion dar, deren Erhalt kontinuierlichen Aufwand erfordert“,[39] stellt Stefanie Mallon fest. Das Aufräumen – wie Kondo es anleitet – stellt sich in der Netflix-Serie hingegen nicht etwa als „kontinuierlicher Aufwand“,[40] sondern als einmaliger, außeralltäglicher Prozess dar. Aufräumen meint hier viel mehr die Auseinandersetzung mit den eigenen Dingen, deren Bewertung und das anschließende Aussortieren oder Neu-Einordnen nach Kondos Prinzipien („Es geht darum, sich Gedanken zu jedem einzelnen Ding zu machen“[41]). Durch den Fokus auf die Gegenstände und den Entscheidungsprozess über deren Verbleib, erscheint das Aufräumen hier als stark identitätsbezogener, subjektiver Prozess. Der Besuch der Aufräumberaterin Kondo ermöglicht den „Klient*innen“ in den Erzählungen scheinbar eine Reflexion der eigenen Biographie, gegenwärtigen Lebenssituation und wünschenswerten Zukunft, mittels der Kuratierung ihrer Gegenstände.
Fazit
Aus einer Perspektive der materiellen Kultur zeigen sich vielschichtige Bedeutungsebenen von Dingen auf Seiten der dargestellten Paare und Familien, welche mitunter als ursächlich für die Schwierigkeiten, diese auszusortieren, erzählt werden. Die komplexen und konfliktbehafteten Mensch-Ding-Beziehungen – welche die Serie im Zuge des ,Aufräumprozesses‘ abbildet – erstrecken sich dabei auf Gefühle des Kontrollverlusts und der Ohnmacht gegenüber der Menge der privat angesammelten Dinge, Irritationen über deren Bedeutung und ,Ding-Werten‘, private und identitätsbezogene Konflikte, die in sie hineinprojiziert werden, sowie Versagensängste, die sich entlang der permanenten Anforderung des ,Ordnung-haltens‘ manifestieren und insbesondere weibliche Elternteile betreffen. Hierfür bietet Kondo eine vermeintlich einfache Lösungsstrategie an, welche Klarheit suggeriert. Die ,Kondo-Methode‘ verspricht dabei in etwa: Wenn alle Dinge aussortiert werden, die ,keine Freude entfachen‘, bleibe nach dem Aussortieren – folgerichtig – nur noch ,Freude‘.
Ob die Serie und ihre enorme Popularität dabei Ausdruck eines zunehmend postmaterialistischen Wertewandels sind, kann nicht beantwortet werden. Grundsätzlich zeugt das Format aber von einem Umgang mit materieller Kultur, der genauso wie die entsprechenden damit verbundenen „Konzepte, Begriffe und Ideologeme […] historisch wandelbar […] und […] immer auch kontingent“[42] ist. Das intensive ideelle Reflektieren über einzelne Gegenstände, die Möglichkeit, diese großflächig zu entsorgen und dies als subjektiven ,Gewinn‘ zu empfinden, allein kann als Ausdruck eines erheblichen materiellen Wohlstands gelesen werden. Dieser produziert selbst das Bedürfnis nach Reduktion und Minimalismus, da die vielen privat angesammelten Dinge einen zu großen Arbeitsaufwand erfordern, sollen diese in gesellschaftlich anerkannte Ordnungssysteme integriert werden.
Wie gezeigt wurde, ergeben sich kulturelle Widersprüchlichkeiten und Brüche, die ich als grundlegend für die dargestellten Mensch-Ding-Konflikte verstehe. Neben der schlichten materiellen Anforderung, dass die rund 10.000 Gegenstände, die jeder Mensch im Schnitt besäße, in eine grundlegende Ordnung gebracht werden müssten, um diese aufzufinden und nutzen zu können, äußern sich auch Konflikte moderner Lebensführung und traditioneller geschlechtlicher Rollenbilder, Versagensängste und Repräsentationsdruck, und ganz allgemein (vielleicht im Widerspruch zur Prämisse eines postmaterialistischen Lebensstils) eine erhebliche Abhängigkeit von den eigenen Dingen. Diesen wird von ihren Besitzer*innen eine Macht zugesprochen, die das Potenzial hat, Familien und Ehen zu zerstören – oder auch zu legimitieren. In der Konsequenz wird eine Art ,Emanzipation von den Dingen‘ propagiert. Dabei werden in einem Konstruktionsprozess bestimmte Gegenstände – solche die „Freude entfachen“ – aufgewertet und ihre identitätsbezogene und biografische Bedeutung hervorgekehrt. Die ,eigenen Dinge‘ haben eine identitätsstiftende Funktion, gleichzeitig aber sollen sich Kondos Klient*innen als Kurator*innen rigoros von Gegenständen trennen, was den Rückschluss nahelegt, dass es sich beim Aussortieren auch um eine gouvernementale ,Arbeit am Selbst‘ handelt. Dabei gliedert sich das Format in einen Selbsthilfe-Diskurs ein, der zunehmend regelgeleitetes Handeln propagiert und dafür eine Form der Erfolgskontrolle [43]verspricht.
Anmerkungen
[1] Vgl. Kaschuba 2012, S. 234.
[2] Vgl. Wettstein 2005.
[3] Seifert 2003, S. 144.
[4] Depner 2014, S. 284.
[5] Wegner 2019, o.S. (Zeit-online), https://www.zeit.de/kultur/film/2018-12/aufraeumen-marie-kondo-netflix-serie-beseitigung-altlasten-entruempelung. (Letzter Zugriff: 11.04.2020).
[6] Kondo 2017, S. 20.
[7] Vgl. Episode 5 (Studenten oder Erwachsene), 6 (Ein riesiger Berg) und 7 (Vorbereitungen für das Baby).
[8] Vgl. Episode 2 (Ein leeres Nest) und 3 (Verkleinern).
[9] Mallon 2018, S. 277.
[10] Marie Kondo, Episode 1 (Aufräumen mit Kleinkindern).
[11] Marie Kondo, Episode 2 (Ein leeres Nest).
[12] Löfgren/Czarniawska 2012.
[13] Grewe 2017, S. 19. (nach Löfgren/Czarniawska 2012).
[14] Löfgren/Czarniawska 2012, S. 5, 6. („ ,It is simply too much!’ has become a common complaint in contemporary Western societies, where many people often feel they are living in a situation of overflow because they have to deal with a steadily growing amount of commodities, technologies, and time constrains. Too much information, too many market choices, too many mobility.”)
[15] King/Gerisch/Rosa/Schreiber/Salfeld 2018, S. 229. (Vgl. außerdem Rosa 2014 [2005] (unter dem Schlagwort Beschleunigung), Bröckling 2007 (Im Kontext eines unternehmerischen Selbst), u.v.m.).
[16] Wendy Akiama, Episode 2 (Ein leeres Nest).
[17] Sehnita Mattison, Episode 6 (Ein riesiger Berg).
[18] Alishia (Nachname unbekannt), Episode 8 (Wenn zwei unordentliche Menschen zusammenziehen).
[19] Wettstein 2005, S. 70.
[20] Vgl. Inglehart 1998, S. 191.
[21] Thompson 1981, S. 137.
[22] Vgl. Lewe/Othold/Oxen 2016, S. 10. (Im Anschluss an Michael Thompsons „Rubbish Theory“).
[23] Habermas 2012, S. 177.
[24] Wettstein 2005, S. 69.
[25] Douglas 1985, S. 12.
[26] Löfgren 2014, S. 6, 7.
[27] Wettstein 2005, S. 69.
[28] Vgl. Habermas 1999, S. 430.
[29] Vgl. Habermas 1999, S. 420 ff.
[30] Habermas 1999, S. 200.
[31] Omahna 2005, S. 129.
[32] Depner 2014, S. 285.
[33] Kraft Alsop 1996, S. 61.
[34] Vgl. Mallon 2018, S. 312 ff. (Anm.: Titel aus dem Bereich der Aufräumratgeber von Marie Kondo basieren scheinbar auf dieser Argumentationsfigur, etwa: Magic Cleaning. Wie richtiges Aufräumen ihr Leben verändert oder Die KonMari-Methode. Wie du Liebe, Job und Alltag in Ordnung bringst.).
[35] Douglas 1985, S. 12.
[36] Sehnita Mattison, Episode 6 (Ein riesiger Berg).
[37] Rachel Friend, Episode 1 (Aufräumen mit Kleinkindern).
[38] Löfgren/Czarniawska 2012, S. 4.
[39] Mallon 2018, S. 11. [Anm.: Dieser wurde historisch gesehen überwiegend von Frauen erbracht und bis heute besteht hier eine geschlechtliche Differenz, folgt man etwa einer europaweiten Statistik aus dem Jahr 2016. (Vgl. Eurostat-Statistik 2016). Das könnte ein Grund dafür sein, dass Aufräumratgeber tendenziell stärker Frauen adressieren, worauf Stefanie Mallon aufmerksam macht. Mallon diagnostiziert in ihrer Studie zudem eine bis heute wirkmächtige kulturell tradierte (Selbst-)Responsibilisierung von Frauen im Bereich des Aufräumens. Diese bildet sich im Format Aufräumen mit Marie Kondo ebenfalls ab, wie anhand er Fallbeispiele ersichtlich wird. (Vgl. Mallon 2018, S. 81 ff.)].
[40] Mallon 2018, S 11.
[41] Kondo, Episode 8 (Wenn zwei unordentliche Menschen zusammenziehen).
[42] Tauschek 2015, S. 17.
[43] Vgl. Bausinger 2015, S. 21 ff.
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Wettstein, Annina (2005): „Messies“ und das „Zuviel der Dinge“. Zur kulturellen Bedeutung des Auswählens und Ordnens von Gegenständen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 101, S. 67-90.
Quellen
Eurostat-Statistik (2016): „Tägliche Hausarbeit und Kochen. Wie eingebunden sind Frauen und Männer?“, Verfügbar unter (Statistisches Bundesamt online): https://service.destatis.de/DE/FrauenMaennerEuropa/DE_DE_womenmen_core/bloc-3d.html?lang=de. (Letzter Zugriff: 24.09.2019).
Kondo, Marie (2017): Magic Cleaning. Wie sie sich von Ballast befreien und glücklich werden, Hamburg.
Wegner, Jochen (2019): Die Seele des Materialisten wohnt in seinen Dingen. Eine Rezension, veröffentlicht am 01.01.2019 auf Zeit Online. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/film/2018-12/aufraeumen-marie-kondo-netflix-serie-beseitigung-altlasten-entruempelung/komplettansicht. (Letzter Zugriff: 11.04.2020).
Medien
Aufräumen mit Marie Kondo (engl. org.: Tidying Up With Marie Kondo) [Reality-TV-Serie], Staffel 1, veröffentlicht am 01.01.2019, Netflix-Eigenproduktion, auf Netflix erschienen.
Episodenübersicht
Aufräumen mit Kleinkindern (Tidying With Toddlers)
Ein leeres Nest (Empty Nesters)
Verkleinern (The Downsizers)
Aufräumen nach einem Verlust (Sparking Joy After A Loss)
Studenten oder Erwachsene? (From Students To Improvements)
Ein riesiger Berg (Breaking Free from a Mountain of Stuff)
Vorbereitungen für das Baby (Making Room for a Baby)
Wenn zwei unordentliche Menschen zusammenziehen (When Two Messes become one)