TikTok
von Miriam Zeh
4.5.2020

Musikgebrauch

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 16, Frühling 2020, S. 10-15]

Von 1993 bis 2004 lief auf dem deutschen Musikvideosender Viva, kurz für Videoverwertungsanstalt, die Nachmittags-Sendung »Interaktiv«. Hier war der Name Programm – zumindest im begrenzten Rahmen damaliger technischer Möglichkeiten.  Während der zahlreichen Interviews mit Musik- und Teeniestars, bei Gewinnspielen oder für Lebensratschläge verschiedenster Art konnten sich die jugendlichen Zuschauerinnen und Zuschauer telefonisch in die mehrstündige Sendung einschalten. Ab den 2000er Jahren lief außerdem ein SMS-Band durch den unteren Bildschirmrand, auf dem die Kurzmitteilungen von Zuschauern eingeblendet wurden: +++ »Moni, ich liebe dich!!!!« +++ »Irgendne Muschi aus Hürth grad Bock auf Ficken?« +++ »Viva, m8 weiter so, i love u!« +++ »Alder, ich sag echt sorry. Ruf an, Mann! Dein Freddy« +++

Viva, dieser knallig bunte, authentische oder auch: fürchterlich unerfahrene Unterhaltungskanal, war im Kern genauso wie dieses zum endlosen Fremdschämen fortlaufende SMS-Banner: ein Forum. Mehr wollte der Sender nie sein. So moderierte Heike Makatsch mit jener Unbekümmertheit der 1990er Jahre von Anruferinnen vorgebrachte Vorfälle von Alkoholismus und Kindesmisshandlung ab, ohne dass danach die Telefonnummer irgendeiner Anlaufstelle eingeblendet würde (im heutigen therapeutischen Zeitalter undenkbar). Und nach einem schwarzen Bildschirm am 11. September 2001 quälten sich Tobias Schlegl und Jessica Schwarz am Folgetag drei lange Stunden durch ein Interaktiv-Spezial, bei dem sie nicht oft genug betonen konnten, nur ein Unterhaltungssender zu sein und deshalb Informationen weder bereitzustellen noch einzuordnen. Schlegl: »Wir wollen hier nicht großartig politisch diskutieren und jetzt genau wissen, was da in Afghanistan los ist, was da passiert ist. Also, ich glaube, ihr habt das alles mitbekommen.«

Bei Viva durfte alles raus, es wurde gehört – aber nicht kommentiert. Beim Musikfernsehen war den popligen Zuschauern damit vieles erlaubt, was sie sonst nicht durften – mitreden zum Beispiel, obwohl sie erst 14 Jahre alt waren und keinen Schimmer hatten, wie die Bundeskanzlerin gewählt wird. Nach den Call-in-Formaten bedeutete deshalb auch die SMS-Endlosschleife von Interaktiv eine wegweisende, ja sogar untergangsweisende Neuerung für Viva. Sie zeigte, dass diese Art von Forum keine Moderatoren braucht. Natürlich waren Mola Adebisi, Aleksandra Bechtel oder Nilz Bokelberg Identifikationsfiguren und Vorbilder, deren Frisuren, Styles und überdrehte Art zu sprechen von einer ganzen Generation kopiert wurden.

Aber als die Digitalisierung die Musikbranche neu strukturierte und Stars via Social Media eigene Wege fanden, zum Fan zu sprechen, vaporisierte ihre Rolle als erstes. Heute findet das Forum, i.e. die Community sich sowie ihre Musik ohne exponierte Mittler- oder Moderationsfigur. Seit letztem Jahr geschieht dies besonders auf TikTok. Die mitunter auch als Mitmach-Fernsehen bezeichnete Video-App der chinesischen Mutterfirma ByteDance ist wie Vivas endlos weiterrasendes SMS-Band: ein von unsichtbarer Hand rund um ihre Lieblingsmusik kuratierter, von außen betrachtet reichlich banaler Ausstoß seiner jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer. Nur dass die maximal 15-sekündigen, hochformatigen Videoschleifen, die sich bei TikTok aneinanderreihen, noch bunter und effektgeladener sind, als es sich ein SMS-tippender Teenager jemals hätte ausmalen können.

Vor allem Kinder und Jugendliche nutzen die Videoplattform, der seit Ende 2019 prognostiziert wird, ›the next big thing‹ in Sachen Social Media zu sein. In die Erwachsenenwelt und Medienaufmerksamkeit schaffte es TikTok im vergangenen Jahr eher mit Negativ-Schlagzeilen. Immer wieder kamen Zensurvorwürfe auf. Videos von Menschen mit Behinderungen sollen vom Algorithmus diskriminiert und systematisch ausgeblendet werden. Amerikanische Behörden leiteten aus Sorge, China könnte TikTok zu Spionagezwecken missbrauchen, eine Sicherheitsprüfung der App ein. In Indien, dem weltweit größten TikTok-Markt, wurde der Download für mehrere Tage gesperrt wegen des Verdachts auf Förderung pornografischer und missbräuchlicher Inhalte. Auch in Deutschland warnte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien kürzlich vor »Missbrauchsmotivierten«, die durch die »sexualisierte Selbstdarstellung« junger Nutzerinnen und Nutzer angelockt werden. Extremismusforscher warnten bereits bei der Gaming-Plattform Steam, dass Fake News, rechtsradikale Randgruppen und Verschwörungstheorien bei unmoderierten Formaten, wie auch TikTok eines ist, leichtes Spiel haben. Doch aller Bedenken zum Trotz wächst TikTok seit seinem Launch im Jahr 2017 schneller als jedes andere Soziale Netzwerk der Welt. Jetzt bereits hat es mehr aktive Nutzer pro Monat als Twitter und Snapchat zusammen, etwa 800 Millionen weltweit, davon 5,5 Millionen in Deutschland.

Füttert man die App mit den Daten einer 31-jährigen Frau (ohne Altersangabe lässt sich TikTok nur eingeschränkt nutzen) und einem deutschen Standort, wird zuerst ein Mädchen im Teenageralter angezeigt, das in seinem Kinderzimmer zu Culcha Candelas »No Tengo Problema« Playback singt und tanzt. Als nächstes erscheint eine junge Frau mit strengem Pferdeschwanz, die zum mechanisch-repetitiven »Dance Monkey« von Tones and I Hosen faltet, Hashtag #lifehack. Ein drittes Mädchen singt wieder Playback in ihrem Schlafzimmer, wobei ihre Beine, wie ein kleiner Zauberstab-Icon am unteren linken Bildrand verrät, mit einem »Super Long Leg«-Filter ins Unmenschliche verlängert sind, passend zur Songzeile, mit der das 6-sekündige Video unterlegt ist: »They tried to put me on the cover of Vogue, but my legs were too long!«

Die meisten TikTok-Videos motivieren eine Textzeile oder ein Melodieschnipsel. Aus einem Aufkauf der Karaoke-App Musical.ly hervorgegangen, folgt der TikTok-Feed aus Videos, die geliket, kommentiert und geteilt werden können, aber einem noch intelligenteren Empfehlungs-Algorithmus als bei Facebook oder Instagram. TikTok ist wesentlich schneller und besser darin geworden, Vorlieben zu antizipieren und hat sich im Gegenzug vollständig davon verabschiedet, Überschneidungen mit dem sozialen Umfeld seiner Nutzer im realen Leben zu forcieren. Sämtliche ›alten‹ Sozialen Netzwerke, von lokalisten.de oder studiVZ bis hin zu Facebook funktionierten nach diesem Prinzip und hielten damit eine Verbindung zur analogen Welt aufrecht. TikTok aber fragt nicht nach E-Mail-Adressen oder Telefonnummern, die ich in meinem Handy gespeichert habe, und antizipiert doch schon nach wenigen Interaktionen meine Vorlieben. Nachdem ich manche Videos mehrmals angesehen oder geliket, andere unterbrochen habe, sehe ich keine kleinen Mädchen mehr, sondern Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers zu Gangster-Rapper E-40 lippensingen. Fragen wie »Gibt es Ärger, wenn du dich versprichst?« und »Suchst du deine Kleidung selbst aus?« werden eingeblendet, worauf Rakers mit E-40s Song »Choices« entweder »Yup« oder »No« antwortet.

Dieser Rap-Schnipsel ist nur eine jener Sequenzen, die innerhalb der TikTok-Community gerade beliebt sind, weil sie sich besonders gut für das plattformtypische Storytelling im Miniformat eignen. Antworten können Nutzer auf Videos nämlich nicht nur im Textformat, sondern auch mit einem eigenen Video, das auf dieselbe Musiksequenz abgestimmt ist wie die Ausgangsfolie. Besonders erfolgreiche Videos, bestimmte Punchlines, Bewegungsabläufe oder Tänze werden so zu ikonografischen Memes, die sich einfach imitieren oder adaptieren lassen (ähnlich wie die Ice Bucket Challenge vor fünf Jahren auf Facebook). Eine Reihe einfach zu bedienender Bearbeitungswerkzeuge gibt der Aufnahme den letzten spielerischen technischen Schliff. Denn genau das steht bei den Videos im Vordergrund: ein schneller Gag, eine rasche Pointe, ein Spiel. Während sich bei Twitter und Instagram in den letzten Jahren immer mehr Nutzer erfolgreich als Marke etabliert haben und mittlerweile auch zahlreiche Unternehmen und Medienhäuser mit mehr oder weniger konzeptuell ausgefeilten Accounts unterwegs sind, findet sich auf TikTok noch weit mehr amateurhafter und selbstzweckhafter Content. »I found it both freeing and disturbing to spend time on a platform that didn’t ask me to pretend that I was on the Internet for a good reason.«, schreibt selbst Internet-Essayistin Jia Tolentino im »New Yorker« Ende letzten Jahres über TikTok.

Anders als bei Instagram lassen sich TikTok-Slides weder mit einer längeren Caption (Bildunterschrift) versehen noch mehrere Folien aneinanderhängen, und anders als bei Twitter kann von TikTok auch nicht auf externe Links (Zeitungsartikel etwa oder Blogposts) verlinkt werden. Stattdessen müssen TikTok-Memes auf einem großen Anteil von implizitem Wissen basieren, um von anderen Nutzern erfasst und – was in der Meme-Maschinerie ebenfalls fortlaufend passiert – selbst wieder ironisiert zu werden. Diese Dynamik entwickelt sich zwar bei allen Sozialen Netzwerken, bei TikTok aber aufgrund seiner Kürze und Geschwindigkeit in extremer Form. Das macht die Plattform für Erwachsene so rätselhaft.

Wagen sich Kulturjournalistinnen und Medienwissenschaftler jenseits der 30 auf TikTok, zeigen sie sich deshalb vor allem von dieser Hermetik und der Geschwindigkeit beeindruckt (oder abgestoßen), mit der Jugendliche verschiedene Alltagssituationen in musikunterlegten und pointenbasierten Mini-Content zerlegen. »I haven’t seen one piece of content on there made by an adult that’s normal and good«, sagte Jack Wagner, ein »popular Instagram memer«, »The Atlantic« im Herbst 2018. Dabei führt längst auch Arnold @arnoldschnitzel Schwarzenegger ein Minipony zu Merle Haggards »Workin’ Man Blues« in sein Büro, die »Washington Post« lässt ihre Mitarbeiter zu TikTok-Sounds Papierflieger werfen und Borussia Dortmund – seit April 2019 in einer offiziellen Kooperation mit der App – seinen neuen Stürmer Erling Haaland zur Begrüßung zum »Lottery«-Beat von K Camp rappen.

Dabei sind es, egal aus welcher Altersgruppe der Amateur-Regisseur und Schauspieler in einem stammt, immer wieder dieselben Kompositionsprinzipien, die einen Musikschnipsel zum musikalischen Meme werden lassen und den TikTok-typischen Sound prägen. So dienen basslastige Übergänge häufig als dynamisches Element, das die Handlung des Videos musikalisch unterstützt, etwa beim Ende 2019 massenhaft verbreiteten »Ok Boomer«. Die Phrase wurde bereits seit einigen Jahren in vereinzelten Postings auf Sozialen Netzwerken wie 4chan, Twitter oder Reddit verwendet als Erwiderung auf Meinungen älterer Personen – der vermeintlichen Baby-Boomer-Generation –, die Jüngere als engstirnig, veraltet oder herablassend empfanden. Doch erst durch die musikalische Interpretation des 19-jährigen Produzenten Peter Kuli (ein Remix wiederum von Jedwills gleichnamigem Song), avancierte die Phrase zur Hymne einer Generation.

Die ersten 15 Sekunden des Tracks mit einigen einleitenden Lines von Kuli und dem Übergang zum hochgradig repetitiven Chorus (»OK boomer, OK boomer, OK boomer, OK boomer«) eigneten sich besonders gut zur audio-visuellen Interpretation auf TikTok. So bietet das musikalisch wie text-inhaltlich eher belanglose Intro (»This one goes out to all the 65+ crowd on Soundcloud / Not gonna say much, shoutout Jedwill«) Gelegenheit, eine kurze konfliktgeladene Dialogszene anzulegen. Darin stellen Teenager meist mithilfe eingeblendeter Textelemente verächtliche Kommentare von älteren Personen nach über Aussehen, Medienkonsum oder Sozialverhalten der Jugendlichen, aber auch Klimawandel oder Umgang mit Minderheiten: »my grandpop: you couldn’t last a SECOND without technology« oder »The millennials and Generation Z have the Peter Pan syndrome, they don’t ever want to grow up.« Mit einem Filter, der das Gesicht künstlich altern lässt (Old Face-Filter), werden die motzenden Baby-Boomer zum Teil von demselben Teenager gespielt, der seinem Kritiker zunächst widerspricht und nur wenige Sekunden später im basslastig und künstlich übersteuerten »OK boomer« seiner Wut auf die ältere Generation lippensingend und headbangend Ausdruck verleiht.

Auch textarme oder repetitive Rapsongs wie E-40s gemächlicher Yup-and-No-Chorus aus »Choices« oder mehrdeutige Textzeilen (wie Lil Nasʼ »I Got The Horses In The Back«), die sich in unterschiedliche Szenarien einsetzen lassen oder Wortspiele provozieren, sind besonders beliebte musikalische Grundlage für TikTok-Videos. Diese Prinzipien haben mittlerweile auch Plattform und Künstler erkannt. Denn was auf den ersten Blick so harmlos und amateurhaft daherkommt, entspringt oft einigen sich immer weiter professionalisierenden TikTok-Musikproduzenten. »I write hooks, and I try it in the mirror – how many hand movements can I fit into fifteen seconds«, gibt etwa der 26-jährige australische Produzent Adam Friedman der »New York Times« zu Protokoll. (Viele TikTok-Nutzer filmen beim Singen und Tanzen aus einer Perspektive, die nur ihren Oberkörper zeigt.) Das mit 78 Milliarden Dollar höchstbewertete Start-up weltweit beschäftigt mittlerweile ein ganzes Team, um Zusammenarbeit mit Künstlern zu optimieren und sie im TikTok-optimierten Komponieren zu begleiten. Geld aber bringt dieses Konzept seinen Betreibern noch längst nicht genug ein.

Einige Videos enthalten Links zum Apple-Streamingdienst, bei dem Künstler pro Klick bezahlt werden, doch sie bleiben in der Minderheit. Noch wird die Musikplattform durch Werbung finanziert und auf Seite der Musikschaffenden von der Überzeugung getragen, dass sich ein viraler Hit an anderer Stelle auszahlt. In vereinzelten Fällen trifft das durchaus zu. So bescherte ein Ausschnitt aus »Old Town Road«, zu dessen laszivem Country-Trap-Beat sich besonders gut laufen und posieren lässt, dem 19-jährigen Rapper Lil Nas X via TikTok einen Nummer-1-Erfolg in den US-amerikanischen Billboards, den deutschen Charts sowie in elf weiteren Ländern. Obwohl der Song nicht einmal eine Minute dauert – für TikTok sind ohnehin nur 15 Sekunden interessant –, hielt er sich länger an der US-amerikanischen Chartsspitze als irgendein Song zuvor. Auch der 19-jährige Künstler Sub Urban unterschrieb einen Plattenvertrag bei Warner Records, nachdem Millionen von TikTok-Nutzern einen Hüpf-Tanz aus dem Videospiel Fortnite zu seinem Song »Cradles« imitierten. TikTok sucht bereits nach neuen Wegen zur Monetarisierung seines Sounds. So soll die Mutterfirma ByteDance an einem eigenen Streamingdienst und KI-basierter Kompositionssoftware arbeiten.

Doch bereits heute ist der Einfluss, den die App auf die Musikindustrie hat, sichtbar. Nicht nur prägt TikTok die rezeptive und kreative musikalische Praxis zahlreicher Teens und Prä-Teens auf der ganzen Welt. Auch professionelle Musikproduzenten veröffentlichen immer kürzere Songs. Die durchschnittliche Länge eines Billboard-Top-100-Tracks sank in den letzten fünf Jahren, in letzter Zeit sicher auch wegen TikTok, um 20 Sekunden auf dreieinhalb Minuten. Weit mehr Aufmerksamkeit geht beim Kompositionsprozess außerdem in kürzeste Abschnitte mit loopbarem Beat und memefähiger Textzeile. Nicht zuletzt werden von Musiker*innen Moves, die auf TikTok häufig zu sehen sind, übernommen; so ging bereits im Sommer 2018 Selena Gomezʼ TikTok-typischer ›hand dance‹ (zu Riton & Kah-Los Remix von Faridah Serikis »Fake I.D.«) als musikalisches Meme viral und findet sich ja vielleicht bald auch in einem ihrer offiziellen Musikvideos wieder.

Schreibe einen Kommentar