»Normal«- oder »Ausnahmezustand«
Soziologïnnen beobachten Kommunikationen, auch wenn sie ‚Gesellschaft‘, ‚Diskurse‘, ‚Strukturen‘, ‚Schichten‘, ‚Habitus‘, ‚Klassen‘, ‚Subkulturen‘ oder sonst etwas sagen. Viren beobachten sie jedenfalls nicht. Dies gilt erst recht für Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftlerïnnen. Wenn wir überhaupt etwas zu „Corona“, „Covid-19“ oder „SARS-CoV-2“ beitragen können, dann niemals zum Virus als Virus in seiner biologischen Realität, sondern ausschließlich zur Kommunikation über das Virus, also darüber, wie Informationen mitgeteilt werden und wie daran wiederum kommunikativ angeschlossen wird.
Es mag Biologen, Virologen, Biochemiker geben, die alles über das Virus wissen, wie es sich in welcher Umgebung verhalten wird, wo es gedeiht und wo es vergeht. Aber auch sie müssen dieses Wissen kommunizieren – und das findet nicht auf der Ebene der biologischen Autopoiesis des Virus statt, sondern in der Gesellschaft und ihren Regeln der Anschlussfähigkeit und Beachtung. Insofern ist die Corona-Kommunikation, vom ausgewiesenen Fachmann bis zum Laien, immer Kommunikation über das Virus – und damit abhängig von den Möglichkeiten und Rahmenbedingungen, die für soziale Systeme – oder meinetwegen auch: für Diskurse, für kommunikatives Handeln, für Sprache als System arbiträrer Zeichen – überhaupt gelten.
Die Corona-Kommunikation findet in der Gesellschaft statt, nicht außerhalb. Und auch diese Unterscheidungen von Referenzen – Gesellschaft/Umwelt; Kommunikation/Virus – finden sich nicht in der „Umwelt des Systems, sondern nur im System selbst“, um mit Niklas Luhmann zu formulieren, was im Grunde seit Ferdinand de Saussures Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft von 1916 als konsolidiert gelten darf: Die Differenzen diakritischer Zeichen, die wir für die Bezeichnung der Welt benutzen, kommen in der Welt so nicht vor.
Dies alles bestreitet nicht die Expertise der Experten. Es besagt aber wohl, dass auch die renommiertesten Virologïnnen und Epidemologïnnen das, was sie über das Virus, seine Ausbreitung, seine Wirkungen auf den menschlichen Körper und seine Bekämpfung wissen, in Worte kleiden oder mit Schaubildern illustrieren müssen, deren konkrete Form immer auch anders möglich, also kontingent ist, und deren Rezeption und Resonanz sie nicht selbst kontrollieren können.
Es kann immer so oder auch anderes formuliert werden, jenes Diagramm oder diese Metapher gewählt werden. Und es kann immer auch anders angeschlossen oder ‚verstanden‘ werden, je nachdem, wie Informationen auf Mitteilungen bezogen und in Geschichten (diachron) und Kontexte (synchron) eingebettet werden. Ob sich auf dieser Ebene der Auswahl und Kombination von Zeichen signifikante Muster ergeben, ist eine Frage, für die sich die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften für zuständig halten dürfen. Auf dieser Ebene operiert dieses Essay.
Grippe und Händewaschen
Am 30. Dezember 2019 wies der chinesische Arzt Li Wenliang auf ein Virus hin, das er für einen SARS-Auslöser hielt. Einen Tag später, Silvester, informierten die Behörden von Wuhan die WHO. Seit dem 7. Januar 2020 ist bekannt, dass es sich um ein neuartiges Virus handelt, das zunächst den Namen 2019-nCoV erhielt und nun weltweit die wissenschaftliche Bezeichnung SARS-CoV-2 trägt und die Erkrankung Covid-19 auslöst.
Wenn Donald Trump lieber vom „chinese virus“ spricht, dann führen die Gründe dafür mitten in die gesellschaftliche Problematik hinein, die mit der Diskursivierung, Semantisierung oder sprachlichen Aushandlung einer Pandemie verbunden ist, die den Milliarden von Menschen dieser Welt zunächst nicht als Infektion des eigenen Körpers, sondern in der Kommunikation und vor allem in der Kommunikation der Massenmedien und Sozialen Medien entgegentritt.
Da sich dank der globalen Medienverbünde und Plattformen Kommunikationen sehr viel schneller ausbreiten können als Viren, die auf physischen Kontakt angewiesen sind, stellt sich das Corona-Problem nach der Alarmierung der WHO am Jahresende für die allermeisten erst einmal aus der Ferne, als chinesisches Problem. Darüber, dass das Virus das deutsche Territorium erreichen könnte, macht sich im Januar kaum jemand Gedanken, zumindest keine folgenreichen, denn selbst Reisende aus Wuhan erreichen per Flugzeug völlig ungehindert und unkontrolliert Bayern, um dort zu arbeiten oder Urlaub zu machen.
Umgekehrt unterlagen im Januar auch Reisen nach China keinerlei Restriktionen, man solle ein wenig achtgeben, lauteten Empfehlungen des US-State Departments. Das Auswärtige Amt teilt am 27. Januar mit: „Das Risiko für deutsche Reisende in Wuhan wird als moderat eingeschätzt.“ Nur drei Tage später, am 1. Februar, werden deutsche Staatsbürger aus der Provinz von der Luftwaffe ausgeflogen und unter Quarantäne gestellt. Am gleichen Tag werden bundesweit sieben Infektionen gezählt, alle in Bayern. Das Virus hat den Ort seiner Beobachtung durch die deutschen Behörden und Öffentlichkeiten erreicht. Die Krise verbleibt aber in China.
Denn noch herrscht in Deutschland Gelassenheit vor. Jens Spahn erklärt am 3. Februar im Morgenmagazin der ARD: „Wir haben für jede Entwicklung Pläne. Wir haben aus den letzten Jahren gelernt; SARS, EHEC und übrigens auch für eine Grippepandemie hätten wir Pläne in der Schublade.“[1] Am Tag darauf fordert der Minister „Zusammenarbeit der EU-Staaten im Kampf gegen das #Coronavirus“. Auch wenn es nun auch einige Fotos gibt, die Spahn neben Bundeswehrsoldaten und Rettungskräften in Uniform zeigen, soll dieser „Kampf“ mit zivilen Mitteln geführt werden: Händewaschen.
Das BMG twittert am 6. Februar: „Die beste #Grippe-Vorsorge ist eine gute Handhygiene. Das gilt auch für andere Viren, über die wir gerade reden“, @jensspahn in @wernigerode_de. Dort zeigt #waschenwiewalter heute, wie man richtig Hände wäscht & sich effektiv vor Krankheiten und Infektionen schützt – #Coronavirus. Die Grippe-Vorsorge steht hier noch im Vordergrund. Das regelmäßige und geduldige Händewaschen schütze aber auch gegen „andere Viren“, und zwar „effektiv“. Der Hashtag macht klar, wogegen Handhygiene feit: #Coronavirus.
Eine Möglichkeit, das Corona-Virus für breite Kreise kommunikabel zu machen, besteht offenbar darin, den „neuartigen“ Erreger zu einer Variante einer alten Bekannten zu machen: der Grippe. Eine Grippe, das kennt man. Es gibt Schutzimpfungen gegen Grippe. Sogar eine Grippesaison, wie das Skifahren oder den Karneval. Die Apotheken sind voller Mittelchen oder auch Medikamente, die gegen das Grippe-Virus helfen sollen, von Grippostad bis Gripp-Heel. Sollen wir uns davor fürchten? Vor einer Art Grippe? In der Süddeutschen Zeitung erscheint am 4. Februar 2020 unter dem Titel Was über das Virus bekannt ist ein Artikel, der typisch für die Diskursivierung des „neuen Erregers“ durch Grippe-Vergleiche ist. Auf die Frage „Wie gefährlich ist das Virus?“ erhält man eine beruhigende Antwort:
„Momentan wird der neue Erreger häufig mit der jährlich wiederkehrenden Influenza verglichen. Er scheint ähnlich infektiös zu sein und ebenfalls vor allem für Menschen mit Vorerkrankungen lebensgefährlich werden zu können. In Deutschland erweist sich die Grippe derzeit allerdings als größeres Problem: Das Robert-Koch-Institut in Berlin meldete zuletzt fast 21 000 bestätigte Influenza-Fälle. Gut 5000 Infizierte mussten in Krankenhäusern versorgt werden. 42 Menschen starben in dieser Saison bereits an einer Grippe – allein in der Bundesrepublik. Am neuen Coronavirus sind hierzulande zehn Menschen erkrankt. Den Ärzten zufolge geht es ihnen gut. Dass hier viele neue Fälle hinzukommen, ist derzeit nicht abzusehen. Für die Bevölkerung gefährlicher als Influenzaviren ist der neue Erreger nach jetzigem Wissensstand daher ganz sicher nicht. Auch im Vergleich zu anderen Coronaviren wie Sars oder Mers ist die Sterblichkeit durch den neuen Erreger viel geringer. Durch Sars starben etwa zehn Prozent der Infizierten, bei Mers sind es bis zu 50 Prozent.“ (Kursivierung von NW)
Mit Michel Foucault und Jürgen Link[2] lässt sich hier von einer Normalisierung von Covid-19 sprechen. Das Virus wird mit der alljährlichen Grippewelle korreliert. Im Vergleich zu den üblichen Fallzahlen, deren Unterscheidung in leichte und schwere Fälle sowie zur Sterbeziffer der Erkrankten erscheint das „neue Coronavirus“ als relativ harmlos. Influenza sei „gefährlicher“, die Mortalität im Vergleich zu dem, was schon war und an das man sich vielleicht noch schwach erinnert (SARS, MERS), „viel geringer.“
Über das Risiko, an einer Infektion zu sterben, schreibt die FAZ am 28. Januar: „Das neue Coronavirus liegt eher in dem Bereich einer schweren Grippe.“ Und die Welt zitiert am 28. Februar den Präsidenten des Kommunalverbands, Roland Schäfer: „In den letzten zwei Jahren sind jeweils pro Jahr über 20 000 Menschen gestorben an der Grippe, ohne dass wir (…) hier in der Bundesrepublik Panikkäufe oder Hamsterkäufe oder so etwas hätten“. Man müsse „die wenigen bestätigten Coronavirus-Fälle im Verhältnis sehen – etwa zur viel stärker verbreiteten Influenza-Grippe“, erläutert die Zeitung.
Obschon bis zum Ende des Monats in China etwa 3000 Infizierte gestorben und im Verlaufe des Februars drastische Maßnahmen ergriffen worden sind, um die Ausbreitung zu verhindern, ist hierzulande dieser Diskurs, der kommunikativ aus Covid-19 eine Grippe macht, noch weit verbreitet. Etwas im Grunde vollkommen Unbekanntes, ein Erreger, der immer wieder als „neu“ oder „neuartig“ bezeichnet wird, wird durch diese Einordnung in ein vertrautes Schema zu einer ganz alltäglichen Sache, zu deren Normalität es gehört, dass einige Zehntausend sterben. So wie bei jeder Grippewelle. So wie wir es seit Jahren kennen.
Diese normalistische Variante der Corona-Kommunikation lässt sich auch noch im März beobachten. Am 14. März 2020 twittert @jensspahn: „Wer arbeiten muss, kann durch einfache und bekannte Verhaltensweisen das Risiko einer #Corona-Infektion reduzieren. Man muss sich im Alltag so verhalten, als wolle man sich und andere vor einer Grippeansteckung schützen.“ Und die Virologin Ulrike Protzer halte nach einem Bericht des Bayerischen Rundfunk vom 17. März die Sterberate für „so ähnlich wie bei einer durchschnittlichen Grippesaison.“
Auch dieser Hinweis auf das Durchschnittliche der Sache trägt zur Normalisierung bei. „Die kommunikative Normalität“ wird auch im Fall von neuartigen Krankheitserregern „durch erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten stabilisiert“.[3] Ja, einige werden sterben, aber innerhalb des üblichen statistischen Korridors, also nicht viel mehr oder weniger als sonst auch. Ausgangssperren, Grenzschließungen, Notstandsgesetze sind da nicht gerade zu erwarten, wenn es so zugehen wird wie in der Grippesaison.
Die Behauptung, man könne sich mit „bekannten Verhaltensweisen“ so vor Covid-19 schützen wie sonst auch vor einer „Grippeansteckung“, lässt noch nichts ahnen von dem, was kurze Zeit später vollzogen wird: die Aufhebung des Grundrechts aller Deutschen auf Freizügigkeit im gesamten Bundesgebiet (Grundgesetz § 11, 1), Schließungen von Flughäfen, Kitas, Schulen, Universitäten, Fabriken, Geschäften, Grenzen, Restaurants, Eisdielen, Sportstadien und Schwimmbädern.
Von durchschnittlicher Grippe ist dann nicht mehr die Rede. Stattdessen macht – etwa in der ZEIT, im Spiegel, im BR oder Tagesspiegel – das Wort vom „Ausnahmezustand“ die Runde.
Seuche und Ausnahmezustand
Es ist nicht zuerst der Souverän, der im Ausnahmezustand sichtbar wird, über den er entscheidet.[4] Es sind vielmehr die außerordentlichen Maßnahmen, die erkennen lassen, dass die „normal geltenden“ Bedingungen staatlicher Ordnung „suspendiert“ sind.[5] Carl Schmitt, den Artikel 48 der Weimarer Verfassung vor Augen, nennt in diesem Zusammenhang Maßnahmen wie „außerordentliche Gerichte“, „Verhaftungen, Verurteilungen und Exekutionen“, das Verbot von „Zeitungen“, Einsatz der „Reichswehr“, die „Zerstörungen aller Art“ anrichten könne. „Daß all dieses nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann“, wenn die Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden, hebt er eigens hervor.[6]
Der Ausnahmezustand macht also Epoche: Zwischen dem Vorher und Nachher liegt ein Abgrund, womöglich voller Toter. Die sachlichen Folgen der Maßnahmen sich nicht abzusehen, bevor sie in Kraft treten. Die Zeitdimension des Ausnahmefalls ist also ganz anders strukturiert als die in Schwankungsbreiten sich fortschreitenden Kurven des Normalismus. Während das normalistische Dispositiv Veränderungen als erwartbare Abweichungen konzipiert und mit ihren Verlaufskurven und Prognosen alle „Diskontinuitäten“ einfängt,[7] ist für den Ausnahmezustand der abrupte Bruch kennzeichnend. Sobald außerordentliche Maßnahmen ergriffen werden, endet jene „normale Situation“, die zu erhalten gerade die „Leistung eines normalen Staates“ ausmacht.[8] Was immer nun auch kommen mag, es wird so irregulär wie irreversibel sein.
„UN-Generalsekretär António Guterres zufolge befinde sich die Welt im Krieg mit einem Virus“, meldet am 19. März die Tagesschau, und weiter: „Die Welt befinde sich in einer beispiellosen Lage, die üblichen Regeln hätten keine Gültigkeit mehr.“ Covid-19 wird in alten wie neuen Medien nunmehr als „Seuche“ bezeichnet, die mit allen Mitteln bekämpft werden müsse. Das Ende der „normalen Situation“ gesellschaftlicher Ordnung ist gekommen, die „üblichen Regeln“ werden von einer Lage ohne Vorbild außer Kraft gesetzt: Rhetorisch wird hier bereits der weltweite Ausnahmezustand ausgerufen, auch wenn die entsprechenden Erlasse noch etwas auf sich warten lassen werden. Die Infektion von Millionen Bürgern in wenigen Monaten stehe bevor, wenn nun nicht umgehend einschneidende Maßnahmen ergriffen würden. Grundrechte, so Armin Laschet, der Ministerpräsident des Landes NRW, am 20. März 2020, seien bereits eingeschränkt worden.
Eine strafbewehrte Ausgangssperre steht als ultima ratio bereits explizit im Raum staatlichen Handelns. Länder und Städte rufen den Katastrophenfall aus oder erklären den Gesundheits-Notstand. Handhygiene ist nicht mehr das Gebot der Stunde, sondern Kontaktsperren, Besuchsverbote, Distanzvorschriften. Der missverständliche Begriff social distancing macht nun mediale Karriere, als sei nicht nur die physische Nähe ein Infektionsrisiko, sondern, mit Armin Laschet, „alle sozialen Kontakte“, auf die zu verzichten dem Ende der Gesellschaft gleichkäme. Auch wenn es anders gemeint ist: Im Sprachgebrauch wird hier spürbar, was Laschet dem Virus zutraut.
Auch in der Qualitätspresse wird nun, hundertfach allein am 20. März, die „existentielle Bedrohung“ betont, die von Covid-19 ausgehe. Auch diese Zuspitzung begründet jede Maßnahme, die in der Abwehr der Bedrohung Erfolg verspricht, mag dieser „Kampf“ auch „außerhalb der Verfassung und des Rechts“ stattfinden.[9] Whatever it takes.
Wenn sich diese Version der Corona-Kommunikation durchsetzt, wird es immer weitergehende Maßnahmen geben, um die Entschlossenheit in einem Krieg gegen das Virus zu demonstrieren, der „mit allen Mitteln“ geführt werden soll, wie es nun immer öfter heißt. Im Manager Magazin (16.03.2020) klingt es wie eine Verheißung: „Bundesregierung will Corona-Krise mit allen Mitteln bekämpfen. Maßnahmen, die es so in unserem Lande noch nicht gegeben hat“.
Präsident Macron sieht Frankreich bereits im „Krieg“ gegen das Virus, da will man nicht nachstehen, egal, was Juristinnen und Staatsrechtler (etwa auf verfassungsblog.de) einwenden, die so manche Maßnahme ganz und gar nicht für verfassungsmäßig halten. Aber genau das zeichnet den Ausnahmezustand aus: Für die „Handhabung außerordentlicher Befugnisse“ ist die „verfassungsrechtliche Zulässigkeit“ erst einmal zweitrangig. Nicht auf die „rechtlichen Wirkungen“ der „Maßnahmen“ kommt es an, sondern auf ihre „tatsächlichen Wirkungen und Folgen“[10] – im Kampf gegen die Verbreitung der Seuche.
Ansteckung und Moral
„Zur Leistungsfähigkeit der Verwaltung und des Gesundheitssystems tragen die Institutionen, die das verfassungsrechtliche Institut des Ausnahmezustands vorläufig verspricht, nichts bei“, stellen Christoph Möllers und Florian Meinel in einem Beitrag für die FAZ fest. Die Bundeskanzlerin scheint dies ähnlich zu sehen, darauf lässt ihre Ansprache vom 18. März schließen. Ihr geht es nicht zuerst um noch größere Vollmachten, um außerordentliche Maßnahmen zu beschließen; in ihrer Rede setzt sie nicht auf staatlichen „Zwang“, sondern auf „geteiltes Wissen und Mitwirkung“. Sie möchte keine strafbewehrten Verordnungen, deren Einhaltung von der Exekutive durchgesetzt wird, sondern „Regeln“: „unnötige Begegnungen vermeiden“, „nicht hamstern“, „mindestens eineinhalb Meter Abstand zum Nächsten“.
Die Kanzlerin tritt nicht als jener diktatorische Souverän auf, der über die Ausnahme entscheidet, sondern als Demokratin, die uns alle in die Pflicht nimmt: „Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als IHRE Aufgabe begreifen.“ Damit verwandelt sie eine juristische Frage in eine moralische Frage. Statt Dekrete, Notverordnungen, Verfügungen zu erlassen und deren Befolgung mit Polizei und Armee durchzusetzen, macht sie rhetorisch die Pandemie zu einem Problem, das sich „jeder und jede Einzelne“ zurechnen lassen muss.
Dies hat den Vorteil, dass die Vermeidungsalternative der Sanktionen und ihrer Rechtsgrundlagen nicht konkretisiert werden muss und die heikle Frage umschifft wird, wie die Exekutive alle diese „Regeln“ durchsetzen und wie die Judikative alle Regelverstöße bestrafen könnte. Der Nachteil: Ob die Bevölkerung dieser geteilten Verantwortung gerecht zu werden vermag, wird sich erweisen. Zweifel daran ist bereits laut geworden. Das tiefe Misstrauen in die Fähigkeit unserer Mitbürgerïnnen, ihre Gewohnheiten und Ansprüche zum Wohle anderer nach einigen wenigen Regeln neu zu justieren, zeigt sich im lautstarken Ruf nach #ausgangssperre. Die Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand ist nicht zu übersehen.
Die Corona-Kommunikation lässt kaum Rückschlüsse auf das Virus zu, wohl aber auf die Gesellschaft. Das normalistische Grippe-Narrativ setzt ein ganz anderes Bild des Gemeinwesens voraus als die Rede vom Ausnahmezustand:
Covid-19 als Grippe zu popularisieren, führte nicht zu außerordentlichen Maßnahmen, sondern eher zu einer versicherungstechnischen und statistischen Abarbeitung von Fällen, die in the long run in Statistiken und Bilanzen verschwänden. Die Toten wären tot, aber gestorben wären sie nicht als Opfer eines Krieges, den ein Virus gegen uns führt, oder als Märtyrer eines Kampfes, den wir gegen die Pandemie führen, sondern geradezu erwartbar als Vorerkrankte, die sich leider etwas eingefangen haben.
Die Diskursivierung der Pandemie als Seuche, die den Staat in den Ausnahmezustand treibt, lässt hingegen ein gewisses Bedürfnis nach einfachen Zurechenbarkeiten und obrigkeitsstaatlichen Lösungen erkennen. Jemand soll die Verantwortung für uns übernehmen, alle Hindernisse hinwegfegen und mit außerordentlichen Maßnahmen die Krise lösen. Was dies für die Zeit nach dem Sieg über die Pandemie bedeutet, lässt sich kaum ermessen. Es gehört zum Diskurs des Ausnahmezustands, dass er Epoche macht. Was folgt, könnte außerhalb der gewohnten Kurvenlandschaften und Erwartungskorridore liegen. Es ist, anders als die Zeit nach einer Grippesaison, unvorstellbar.
Anmerkungen
[1] Hervorhebung im Original. Alle Zitate sind Tweets oder Retweets von @jensspahn und finden sich im Überblick auf der Website https://www.jens-spahn.de.
[2] Michel Foucault, Der Willen zum Wissen. Sexualität und Wahrheit [1977]. Bd. 1, Frankfurt am Main 1983; Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997.
[3] Cornelia Bohn, „Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet“, in: ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, hrsg. von Jürgen Link, Thomas Loer, Hartmut Neuendorff, Heidelberg 2003, S. 39-50, S. 47.
[4] Carl Schmitt, Politische Theologie [2. Auflage 1934], Berlin 1996, S. 13.
[5] Ebd., S. 14.
[6] Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung [1931], Berlin 1985, S. 126.
[7] Link, Versuch über den Normalismus, S. 350. Vgl. S. 338 zum „Bruch im Kontinuum der Zeit“ als „nicht integrierbare Diskontinuität“.
[8] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, S. 34.
[9] Ebd. S. 34. Schmitt zitiert hier Lorenz von Stein.
[10] Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 126.
Literatur
Cornelia Bohn, „Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet“, in: ‚Normalität’ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, hrsg. von Jürgen Link, Thomas Loer, Hartmut Neuendorff, Heidelberg 2003, S. 39-50.
Michel Foucault, Der Willen zum Wissen. Sexualität und Wahrheit [1977]. Bd. 1, Frankfurt am Main 1983.
Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997.
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932.
Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung [1931], Berlin 1985.
Carl Schmitt, Politische Theologie [2. Auflage 1934], Berlin 1996.
Niels Werber ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen.